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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gan
Geschichte der Menschen ist. Der Dichter, der die-
sen einzeln kleinen Theil der Geschichte als ein be-
sonderes Ganzes vorstellen will, muß die Aufmerk-
famkeit von allen Dingen, womit die Aufopferung
der Jphigenia zusammenhänget, abwenden, und sie
als eine an sich selbst sehr wichtige Sache vorstellen.
Deswegen soll er nicht vom trojanischen Krieg, von
den Ursachen desselben, von den Zurüstungen dazu,
sondern so gleich von der Hauptsache sprechen, und
uns den Agamemnon in der äussersten Verlegenheit
zeigen, damit wir gereizt werden, diese Verlegenheit
recht zu fühlen und den Ausgang der Sache zu beob-
achten. Kann er dieses thun, so sehen wir diesen
einzigen Umstand des trojanischen Krieges als die
Hauptsach an.

Jn dieser nothwendigen Absönderung des Stoffs
von der Hauptmasse, davon er nur ein Theil ist,
liegt der Grund der Regel, die man den epischen
und dramatischen Dichtern vorschreibet, gleich mit-
ten in ihre Materie hineinzutreten, und nicht weit-
her auszuholen. Denn durch Befolgung dieser Re-
gel vereinigen sie sogleich unsre Aufmerksamkeit auf
das, was wir als eine für sich bestehende Sach
ansehen sollen. Eben diese Würkung hat auch die
Ankündigung, wenn sie nur nicht zu allgemein, son-
dern kräftig und intressant genug ist, unser ganzes
Gemüth zu Betrachtung der einen Sache, warum
(*) S. An-
fang und
Ankündi-
gung.
es nun zu thun ist, gleichsam zu stimmen (*).

Jedes gute Werk, so wol der redenden als der zeich-
nenden Künste, zeiget die Veranstaltungen, wodurch
sein Jnhalt als ein für sich bestehender Stoff, der
ein Ganzes ausmacht, erscheint. Jeder Mahler
von irgend einiger Ueberlegung, ordnet sein Ge-
mählde so, daß das Aug bey dem ersten Blik auf
die Hauptsache falle, und diese als den Mittelpunkt
ansehe, auf den sich alle Vorstellungen vereinigen
sollen. Darum ist auch nur in der Hauptgruppe
jedes Einzele so wol in Zeichnung, als Beleuchtung
auf das genaueste ausgeführet, da alles übrige,
nach dem Grad der Entfernung von der Hauptsach,
immer allgemeiner und unbestimmter wird, da-
mit die Aufmerksamkeit nie besonders darauf falle.
Eben so zeichnet auch der Redner und der Dichter
nur das, was zum Wesentlichen des Jnhalts gehört,
in den kleinesten Theilen aus, damit alles übrige
sich aus dem Gesicht entferne, das entlegenste aber
gleichsam verschwinde, und ringsherum seine Grän-
zen habe. Wer von einer Anhöhe eine nahe Stadt
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Gan
übersieht, dem kömmt sie nicht als ein Theil einer
ganzen Provinz, noch die Provinz als ein Theil
des ganzen Landes vor: vielmehr verschwinden
alle einzele Theile der Gegend, so wie sie sich von
der Stadt entfernen, allmählig, daß man die äus-
sersten gar nicht mehr gewahr wird, und diese
Stadt mit ihrer umliegenden Gegend, als einen von
dem Erdboden ganz abgesonderten Gegenstand, als
ein Ganzes betrachtet. Diese eigene von allen an-
dern Dingen unabhängliche Existenz muß jeder Stoff
eines Kunstwerks haben. Der Künstler, dem es
an Verstand und Geschmak nicht fehlet, wird in
den hier vorgetragenen Anmerkungen Licht genug
finden, um zu sehen, wie er die Absönderung seiner
Materie zu bewürken habe. Wir thun nur dieses
noch hinzu, daß die Sorge, den Stoff des Werks,
als ein für sich bestehendes Ganzes darzustellen, ein
sehr wichtiger Theil der Arbeit des Künstlers sey.
Die Würkung der Werke der Kunst auf unser Ge-
müth ist allemal dem Grad der Aufmerksamkeit an-
gemessen, womit wir es betrachten. Was aber
nicht als ein für sich bestehendes Ganzes, sondern
als ein Theil eines weit grössern Ganzen erscheinet,
kann unsre Aufmerksamkeit nie ganz haben. Man
kann hierin nie zu viel thun. Wer die Heldenthat
der Spartaner an dem Paß Thermopylä zum
Stoff eines Gedichts gemacht hat, thut nicht zu
viel, wenn er das unabsehbare persische Heer und
selbst den ganzen persischen Krieg so vorstellt, daß
das kleine Heer der Spartaner immer, als die ein-
zige Hauptsach erscheinet. Dieses sey von der Ab-
sonderung des Stoffs gesagt.

Nun soll er auch zweytens seine merkliche oder
sichtbare Begränzung, seinen Anfang und sein End
haben. Für die Werke redender Künste ist schon
anderswo gezeiget worden, was dieses auf sich habe
und wie es ins Werk zu richten sey. (*) Was an(*) S. An-
fang. Ende.

verschiedenen Orten dieses Werks vom Anfang und
Ende, vom Eingang und dem Beschluß ganzer Re-
den und ganzer. Gedichte gesagt worden, braucht
hier nicht wiederholt zu werden. Also bemerken
wir nur noch, wie in den redenden Künsten auch
die kleinern Theile, wenn sie gleich unzertrennlich
mit dem Ganzen verbunden sind, doch für sich wie-
der kleinere Ganze machen, die ebenfalls ihren An-
fang und ihr End haben. Jede Periode der Rede,
jedes Glied, so gar meist jedes Wort macht wieder(*) S.
Glied.

ein kleineres Ganzes aus. (*) Also müssen in einer

Pe-

[Spaltenumbruch]

Gan
Geſchichte der Menſchen iſt. Der Dichter, der die-
ſen einzeln kleinen Theil der Geſchichte als ein be-
ſonderes Ganzes vorſtellen will, muß die Aufmerk-
famkeit von allen Dingen, womit die Aufopferung
der Jphigenia zuſammenhaͤnget, abwenden, und ſie
als eine an ſich ſelbſt ſehr wichtige Sache vorſtellen.
Deswegen ſoll er nicht vom trojaniſchen Krieg, von
den Urſachen deſſelben, von den Zuruͤſtungen dazu,
ſondern ſo gleich von der Hauptſache ſprechen, und
uns den Agamemnon in der aͤuſſerſten Verlegenheit
zeigen, damit wir gereizt werden, dieſe Verlegenheit
recht zu fuͤhlen und den Ausgang der Sache zu beob-
achten. Kann er dieſes thun, ſo ſehen wir dieſen
einzigen Umſtand des trojaniſchen Krieges als die
Hauptſach an.

Jn dieſer nothwendigen Abſoͤnderung des Stoffs
von der Hauptmaſſe, davon er nur ein Theil iſt,
liegt der Grund der Regel, die man den epiſchen
und dramatiſchen Dichtern vorſchreibet, gleich mit-
ten in ihre Materie hineinzutreten, und nicht weit-
her auszuholen. Denn durch Befolgung dieſer Re-
gel vereinigen ſie ſogleich unſre Aufmerkſamkeit auf
das, was wir als eine fuͤr ſich beſtehende Sach
anſehen ſollen. Eben dieſe Wuͤrkung hat auch die
Ankuͤndigung, wenn ſie nur nicht zu allgemein, ſon-
dern kraͤftig und intreſſant genug iſt, unſer ganzes
Gemuͤth zu Betrachtung der einen Sache, warum
(*) S. An-
fang und
Ankuͤndi-
gung.
es nun zu thun iſt, gleichſam zu ſtimmen (*).

Jedes gute Werk, ſo wol der redenden als der zeich-
nenden Kuͤnſte, zeiget die Veranſtaltungen, wodurch
ſein Jnhalt als ein fuͤr ſich beſtehender Stoff, der
ein Ganzes ausmacht, erſcheint. Jeder Mahler
von irgend einiger Ueberlegung, ordnet ſein Ge-
maͤhlde ſo, daß das Aug bey dem erſten Blik auf
die Hauptſache falle, und dieſe als den Mittelpunkt
anſehe, auf den ſich alle Vorſtellungen vereinigen
ſollen. Darum iſt auch nur in der Hauptgruppe
jedes Einzele ſo wol in Zeichnung, als Beleuchtung
auf das genaueſte ausgefuͤhret, da alles uͤbrige,
nach dem Grad der Entfernung von der Hauptſach,
immer allgemeiner und unbeſtimmter wird, da-
mit die Aufmerkſamkeit nie beſonders darauf falle.
Eben ſo zeichnet auch der Redner und der Dichter
nur das, was zum Weſentlichen des Jnhalts gehoͤrt,
in den kleineſten Theilen aus, damit alles uͤbrige
ſich aus dem Geſicht entferne, das entlegenſte aber
gleichſam verſchwinde, und ringsherum ſeine Graͤn-
zen habe. Wer von einer Anhoͤhe eine nahe Stadt
[Spaltenumbruch]

Gan
uͤberſieht, dem koͤmmt ſie nicht als ein Theil einer
ganzen Provinz, noch die Provinz als ein Theil
des ganzen Landes vor: vielmehr verſchwinden
alle einzele Theile der Gegend, ſo wie ſie ſich von
der Stadt entfernen, allmaͤhlig, daß man die aͤuſ-
ſerſten gar nicht mehr gewahr wird, und dieſe
Stadt mit ihrer umliegenden Gegend, als einen von
dem Erdboden ganz abgeſonderten Gegenſtand, als
ein Ganzes betrachtet. Dieſe eigene von allen an-
dern Dingen unabhaͤngliche Exiſtenz muß jeder Stoff
eines Kunſtwerks haben. Der Kuͤnſtler, dem es
an Verſtand und Geſchmak nicht fehlet, wird in
den hier vorgetragenen Anmerkungen Licht genug
finden, um zu ſehen, wie er die Abſoͤnderung ſeiner
Materie zu bewuͤrken habe. Wir thun nur dieſes
noch hinzu, daß die Sorge, den Stoff des Werks,
als ein fuͤr ſich beſtehendes Ganzes darzuſtellen, ein
ſehr wichtiger Theil der Arbeit des Kuͤnſtlers ſey.
Die Wuͤrkung der Werke der Kunſt auf unſer Ge-
muͤth iſt allemal dem Grad der Aufmerkſamkeit an-
gemeſſen, womit wir es betrachten. Was aber
nicht als ein fuͤr ſich beſtehendes Ganzes, ſondern
als ein Theil eines weit groͤſſern Ganzen erſcheinet,
kann unſre Aufmerkſamkeit nie ganz haben. Man
kann hierin nie zu viel thun. Wer die Heldenthat
der Spartaner an dem Paß Thermopylaͤ zum
Stoff eines Gedichts gemacht hat, thut nicht zu
viel, wenn er das unabſehbare perſiſche Heer und
ſelbſt den ganzen perſiſchen Krieg ſo vorſtellt, daß
das kleine Heer der Spartaner immer, als die ein-
zige Hauptſach erſcheinet. Dieſes ſey von der Ab-
ſonderung des Stoffs geſagt.

Nun ſoll er auch zweytens ſeine merkliche oder
ſichtbare Begraͤnzung, ſeinen Anfang und ſein End
haben. Fuͤr die Werke redender Kuͤnſte iſt ſchon
anderswo gezeiget worden, was dieſes auf ſich habe
und wie es ins Werk zu richten ſey. (*) Was an(*) S. An-
fang. Ende.

verſchiedenen Orten dieſes Werks vom Anfang und
Ende, vom Eingang und dem Beſchluß ganzer Re-
den und ganzer. Gedichte geſagt worden, braucht
hier nicht wiederholt zu werden. Alſo bemerken
wir nur noch, wie in den redenden Kuͤnſten auch
die kleinern Theile, wenn ſie gleich unzertrennlich
mit dem Ganzen verbunden ſind, doch fuͤr ſich wie-
der kleinere Ganze machen, die ebenfalls ihren An-
fang und ihr End haben. Jede Periode der Rede,
jedes Glied, ſo gar meiſt jedes Wort macht wieder(*) S.
Glied.

ein kleineres Ganzes aus. (*) Alſo muͤſſen in einer

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[418/0430] Gan Gan Geſchichte der Menſchen iſt. Der Dichter, der die- ſen einzeln kleinen Theil der Geſchichte als ein be- ſonderes Ganzes vorſtellen will, muß die Aufmerk- famkeit von allen Dingen, womit die Aufopferung der Jphigenia zuſammenhaͤnget, abwenden, und ſie als eine an ſich ſelbſt ſehr wichtige Sache vorſtellen. Deswegen ſoll er nicht vom trojaniſchen Krieg, von den Urſachen deſſelben, von den Zuruͤſtungen dazu, ſondern ſo gleich von der Hauptſache ſprechen, und uns den Agamemnon in der aͤuſſerſten Verlegenheit zeigen, damit wir gereizt werden, dieſe Verlegenheit recht zu fuͤhlen und den Ausgang der Sache zu beob- achten. Kann er dieſes thun, ſo ſehen wir dieſen einzigen Umſtand des trojaniſchen Krieges als die Hauptſach an. Jn dieſer nothwendigen Abſoͤnderung des Stoffs von der Hauptmaſſe, davon er nur ein Theil iſt, liegt der Grund der Regel, die man den epiſchen und dramatiſchen Dichtern vorſchreibet, gleich mit- ten in ihre Materie hineinzutreten, und nicht weit- her auszuholen. Denn durch Befolgung dieſer Re- gel vereinigen ſie ſogleich unſre Aufmerkſamkeit auf das, was wir als eine fuͤr ſich beſtehende Sach anſehen ſollen. Eben dieſe Wuͤrkung hat auch die Ankuͤndigung, wenn ſie nur nicht zu allgemein, ſon- dern kraͤftig und intreſſant genug iſt, unſer ganzes Gemuͤth zu Betrachtung der einen Sache, warum es nun zu thun iſt, gleichſam zu ſtimmen (*). (*) S. An- fang und Ankuͤndi- gung. Jedes gute Werk, ſo wol der redenden als der zeich- nenden Kuͤnſte, zeiget die Veranſtaltungen, wodurch ſein Jnhalt als ein fuͤr ſich beſtehender Stoff, der ein Ganzes ausmacht, erſcheint. Jeder Mahler von irgend einiger Ueberlegung, ordnet ſein Ge- maͤhlde ſo, daß das Aug bey dem erſten Blik auf die Hauptſache falle, und dieſe als den Mittelpunkt anſehe, auf den ſich alle Vorſtellungen vereinigen ſollen. Darum iſt auch nur in der Hauptgruppe jedes Einzele ſo wol in Zeichnung, als Beleuchtung auf das genaueſte ausgefuͤhret, da alles uͤbrige, nach dem Grad der Entfernung von der Hauptſach, immer allgemeiner und unbeſtimmter wird, da- mit die Aufmerkſamkeit nie beſonders darauf falle. Eben ſo zeichnet auch der Redner und der Dichter nur das, was zum Weſentlichen des Jnhalts gehoͤrt, in den kleineſten Theilen aus, damit alles uͤbrige ſich aus dem Geſicht entferne, das entlegenſte aber gleichſam verſchwinde, und ringsherum ſeine Graͤn- zen habe. Wer von einer Anhoͤhe eine nahe Stadt uͤberſieht, dem koͤmmt ſie nicht als ein Theil einer ganzen Provinz, noch die Provinz als ein Theil des ganzen Landes vor: vielmehr verſchwinden alle einzele Theile der Gegend, ſo wie ſie ſich von der Stadt entfernen, allmaͤhlig, daß man die aͤuſ- ſerſten gar nicht mehr gewahr wird, und dieſe Stadt mit ihrer umliegenden Gegend, als einen von dem Erdboden ganz abgeſonderten Gegenſtand, als ein Ganzes betrachtet. Dieſe eigene von allen an- dern Dingen unabhaͤngliche Exiſtenz muß jeder Stoff eines Kunſtwerks haben. Der Kuͤnſtler, dem es an Verſtand und Geſchmak nicht fehlet, wird in den hier vorgetragenen Anmerkungen Licht genug finden, um zu ſehen, wie er die Abſoͤnderung ſeiner Materie zu bewuͤrken habe. Wir thun nur dieſes noch hinzu, daß die Sorge, den Stoff des Werks, als ein fuͤr ſich beſtehendes Ganzes darzuſtellen, ein ſehr wichtiger Theil der Arbeit des Kuͤnſtlers ſey. Die Wuͤrkung der Werke der Kunſt auf unſer Ge- muͤth iſt allemal dem Grad der Aufmerkſamkeit an- gemeſſen, womit wir es betrachten. Was aber nicht als ein fuͤr ſich beſtehendes Ganzes, ſondern als ein Theil eines weit groͤſſern Ganzen erſcheinet, kann unſre Aufmerkſamkeit nie ganz haben. Man kann hierin nie zu viel thun. Wer die Heldenthat der Spartaner an dem Paß Thermopylaͤ zum Stoff eines Gedichts gemacht hat, thut nicht zu viel, wenn er das unabſehbare perſiſche Heer und ſelbſt den ganzen perſiſchen Krieg ſo vorſtellt, daß das kleine Heer der Spartaner immer, als die ein- zige Hauptſach erſcheinet. Dieſes ſey von der Ab- ſonderung des Stoffs geſagt. Nun ſoll er auch zweytens ſeine merkliche oder ſichtbare Begraͤnzung, ſeinen Anfang und ſein End haben. Fuͤr die Werke redender Kuͤnſte iſt ſchon anderswo gezeiget worden, was dieſes auf ſich habe und wie es ins Werk zu richten ſey. (*) Was an verſchiedenen Orten dieſes Werks vom Anfang und Ende, vom Eingang und dem Beſchluß ganzer Re- den und ganzer. Gedichte geſagt worden, braucht hier nicht wiederholt zu werden. Alſo bemerken wir nur noch, wie in den redenden Kuͤnſten auch die kleinern Theile, wenn ſie gleich unzertrennlich mit dem Ganzen verbunden ſind, doch fuͤr ſich wie- der kleinere Ganze machen, die ebenfalls ihren An- fang und ihr End haben. Jede Periode der Rede, jedes Glied, ſo gar meiſt jedes Wort macht wieder ein kleineres Ganzes aus. (*) Alſo muͤſſen in einer Pe- (*) S. An- fang. Ende. (*) S. Glied.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/430>, abgerufen am 02.05.2024.