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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Hieraus läßt sich leicht abnehmen, wie man mit
wenigen Grund-Accorden nicht nur eine lange Folge
von Harmonie hervorbringen könne, sondern auch
wie diese Fortschreitungen auf unzählige Arten kön-
nen verändert werden.

4. Um die Fortschreitung etwas reitzender zu
machen, und eine große Mannigfaltigkeit in die
Harmonie zu bringen, hat man zweyerley Mittel.
Das erste besteht darin, daß man auf den Grund-
tönen, die natürlicher Weise eine kleine Terz haben,
die große Terz nihmt, als:

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Jn dem dritten und fünften Takt sind die großen
Terzen der Grundtöne D und E genommen, als
wenn man nach G und A ausweichen wollte. Da-
durch wird die Fortschreitung etwas reitzender.

Noch besser aber verbindet man die Accorde mit
einander durch die Dißonanzen; vornämlich durch
(*) S.
Dissonanz.
Vorhalt.
die Vorhälte (*), weil sie dadurch gleichsam in ein-
ander geschlungen werden, wie an seinem Orte deut-
lich gezeiget worden.

Dieses sind also die vornehmsten Betrachtungen,
die man wegen der Fortschreitung der Harmonie in
einerley Tonart zu machen hat.

Frage.
(Redende Künste.)

Eine rednerische Figur, nach welcher man einem
Satz den Schein der Ungewißheit giebt, um seine
Gewißheit desto lebhafter fühlen zu machen. Die
Frage, in so fern sie eine rednerische Figur ist, ist
eigentlich keine Frage, sondern eine höchst zuversicht-
liche Behauptung. Wenn Hagedorn frägt:

Wenn machte sich das Lob der Tugend eigen?
(*) Der
Weise in
Hagedorns
moralisch.
Gedichten.
Wenn war es nicht des Glükes Folgemagd? (*)

so behauptet er, daß das Lob der Tugend nie eigen
gewesen, sondern immer dem Glük gedient habe.

[Spaltenumbruch]
Fra

Man fühlt leicht, wie durch das Zweifelhafte der
Frage die Gewißheit der Sache erhöht werde. Sie
ist eine zuversichtliche Auffoderung die Sache zu
leugnen, weil man sicher ist, daß sie nicht kann ge-
leugnet werden. Also entsteht sie natürlicher Weise
aus der Fülle der Ueberzeugung, die keinen Wider-
spruch fürchtet; sie ist nicht nur an sich die kräf-
tigste Bejahung, sondern macht, daß der Zuhörer,
indem er aufgefodert wird, die Sache zu leugnen,
ihre Wahrheit desto lebhafter fühlt, weil er sie nicht
leugnen kann; ob man ihm gleich einigermaaßen
Troz bietet, es zuthun.

Hieraus läßt sich abnehmen, daß sie nur da müsse
gebraucht werden, wo es nöthig ist, dem Zuhörer
eine offenbare Wahrheit mit Kraft und Nachdruk
vorzustellen. Nicht deswegen, als ob er sonst die
Wahrheit nicht erkennen würde, sondern well er
sonst nicht aufmerksam genug darauf seyn möchte.

Sie dienet auch der Rede den Ton der Wahr-
heit und der Ueberzeugung zu geben, weil auch im
gemeinen Leben die Menschen nur alsdenn, wenn
sie innigst überzeuget sind, ohne Ueberlegung, sich
dieser Figur bedienen.

Sie muß aber nicht gemißbraucht werden; wel-
ches geschehen würde, wenn sie da vorkäme, wo es
nicht nöthig ist, den Sätzen einen besondern Nach-
druk zu geben. Es ist damit wie mit dem Nach-
druk, der einem Wort oder einer Redensart durch
ausserordentliche Erhebung der Stimme gegeben
wird. Der Redner wird frostig, wenn er dieses
am unrechten Orte thut. Deswegen muß auch die
Frage nur da vorkommen, wo die Rede am intres-
santesten wird. Junge Redner, die nicht genug
Ueberlegung und Beurtheilung haben, dieses zu
fühlen, bringen bisweilen an gleichgültigen Stellen
diese Figur an, um der Rede mehr Leben zu geben,
und machen dadurch gerade, daß sie alles Leben ver-
liert. Denn wer da wichtig thut, wo kein wich-
tiger Gegenstand ist, der wird lächerlich. Es ist weit
rathsamer sich dieser Figur ganz zu enthalten, als
sie am unrechten Ort anzubringen.

Es giebt auch Fragen, wodurch die Rede blos
naiv wird; weil sie etwas so einfältiges an sich ha-
ben, daß man glaubt, dem der redet, auf den inner-
sten Grund des Herzens zu sehen; daher diese blos
naive Frage in der Fabel oft vorkömmt. Es ge-
schieht auf zweyerley Art; entweder thnt der Dich-
ter eine Frage, die im Grund ein Stich ist, den er

der
Erster Theil. E e e

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For Fra
[Abbildung]
Hieraus laͤßt ſich leicht abnehmen, wie man mit
wenigen Grund-Accorden nicht nur eine lange Folge
von Harmonie hervorbringen koͤnne, ſondern auch
wie dieſe Fortſchreitungen auf unzaͤhlige Arten koͤn-
nen veraͤndert werden.

4. Um die Fortſchreitung etwas reitzender zu
machen, und eine große Mannigfaltigkeit in die
Harmonie zu bringen, hat man zweyerley Mittel.
Das erſte beſteht darin, daß man auf den Grund-
toͤnen, die natuͤrlicher Weiſe eine kleine Terz haben,
die große Terz nihmt, als:

[Abbildung]
Jn dem dritten und fuͤnften Takt ſind die großen
Terzen der Grundtoͤne D und E genommen, als
wenn man nach G und A ausweichen wollte. Da-
durch wird die Fortſchreitung etwas reitzender.

Noch beſſer aber verbindet man die Accorde mit
einander durch die Dißonanzen; vornaͤmlich durch
(*) S.
Diſſonanz.
Vorhalt.
die Vorhaͤlte (*), weil ſie dadurch gleichſam in ein-
ander geſchlungen werden, wie an ſeinem Orte deut-
lich gezeiget worden.

Dieſes ſind alſo die vornehmſten Betrachtungen,
die man wegen der Fortſchreitung der Harmonie in
einerley Tonart zu machen hat.

Frage.
(Redende Kuͤnſte.)

Eine redneriſche Figur, nach welcher man einem
Satz den Schein der Ungewißheit giebt, um ſeine
Gewißheit deſto lebhafter fuͤhlen zu machen. Die
Frage, in ſo fern ſie eine redneriſche Figur iſt, iſt
eigentlich keine Frage, ſondern eine hoͤchſt zuverſicht-
liche Behauptung. Wenn Hagedorn fraͤgt:

Wenn machte ſich das Lob der Tugend eigen?
(*) Der
Weiſe in
Hagedorns
moraliſch.
Gedichten.
Wenn war es nicht des Gluͤkes Folgemagd? (*)

ſo behauptet er, daß das Lob der Tugend nie eigen
geweſen, ſondern immer dem Gluͤk gedient habe.

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Fra

Man fuͤhlt leicht, wie durch das Zweifelhafte der
Frage die Gewißheit der Sache erhoͤht werde. Sie
iſt eine zuverſichtliche Auffoderung die Sache zu
leugnen, weil man ſicher iſt, daß ſie nicht kann ge-
leugnet werden. Alſo entſteht ſie natuͤrlicher Weiſe
aus der Fuͤlle der Ueberzeugung, die keinen Wider-
ſpruch fuͤrchtet; ſie iſt nicht nur an ſich die kraͤf-
tigſte Bejahung, ſondern macht, daß der Zuhoͤrer,
indem er aufgefodert wird, die Sache zu leugnen,
ihre Wahrheit deſto lebhafter fuͤhlt, weil er ſie nicht
leugnen kann; ob man ihm gleich einigermaaßen
Troz bietet, es zuthun.

Hieraus laͤßt ſich abnehmen, daß ſie nur da muͤſſe
gebraucht werden, wo es noͤthig iſt, dem Zuhoͤrer
eine offenbare Wahrheit mit Kraft und Nachdruk
vorzuſtellen. Nicht deswegen, als ob er ſonſt die
Wahrheit nicht erkennen wuͤrde, ſondern well er
ſonſt nicht aufmerkſam genug darauf ſeyn moͤchte.

Sie dienet auch der Rede den Ton der Wahr-
heit und der Ueberzeugung zu geben, weil auch im
gemeinen Leben die Menſchen nur alsdenn, wenn
ſie innigſt uͤberzeuget ſind, ohne Ueberlegung, ſich
dieſer Figur bedienen.

Sie muß aber nicht gemißbraucht werden; wel-
ches geſchehen wuͤrde, wenn ſie da vorkaͤme, wo es
nicht noͤthig iſt, den Saͤtzen einen beſondern Nach-
druk zu geben. Es iſt damit wie mit dem Nach-
druk, der einem Wort oder einer Redensart durch
auſſerordentliche Erhebung der Stimme gegeben
wird. Der Redner wird froſtig, wenn er dieſes
am unrechten Orte thut. Deswegen muß auch die
Frage nur da vorkommen, wo die Rede am intreſ-
ſanteſten wird. Junge Redner, die nicht genug
Ueberlegung und Beurtheilung haben, dieſes zu
fuͤhlen, bringen bisweilen an gleichguͤltigen Stellen
dieſe Figur an, um der Rede mehr Leben zu geben,
und machen dadurch gerade, daß ſie alles Leben ver-
liert. Denn wer da wichtig thut, wo kein wich-
tiger Gegenſtand iſt, der wird laͤcherlich. Es iſt weit
rathſamer ſich dieſer Figur ganz zu enthalten, als
ſie am unrechten Ort anzubringen.

Es giebt auch Fragen, wodurch die Rede blos
naiv wird; weil ſie etwas ſo einfaͤltiges an ſich ha-
ben, daß man glaubt, dem der redet, auf den inner-
ſten Grund des Herzens zu ſehen; daher dieſe blos
naive Frage in der Fabel oft vorkoͤmmt. Es ge-
ſchieht auf zweyerley Art; entweder thnt der Dich-
ter eine Frage, die im Grund ein Stich iſt, den er

der
Erſter Theil. E e e
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[401/0413] For Fra Fra [Abbildung] Hieraus laͤßt ſich leicht abnehmen, wie man mit wenigen Grund-Accorden nicht nur eine lange Folge von Harmonie hervorbringen koͤnne, ſondern auch wie dieſe Fortſchreitungen auf unzaͤhlige Arten koͤn- nen veraͤndert werden. 4. Um die Fortſchreitung etwas reitzender zu machen, und eine große Mannigfaltigkeit in die Harmonie zu bringen, hat man zweyerley Mittel. Das erſte beſteht darin, daß man auf den Grund- toͤnen, die natuͤrlicher Weiſe eine kleine Terz haben, die große Terz nihmt, als: [Abbildung] Jn dem dritten und fuͤnften Takt ſind die großen Terzen der Grundtoͤne D und E genommen, als wenn man nach G und A ausweichen wollte. Da- durch wird die Fortſchreitung etwas reitzender. Noch beſſer aber verbindet man die Accorde mit einander durch die Dißonanzen; vornaͤmlich durch die Vorhaͤlte (*), weil ſie dadurch gleichſam in ein- ander geſchlungen werden, wie an ſeinem Orte deut- lich gezeiget worden. (*) S. Diſſonanz. Vorhalt. Dieſes ſind alſo die vornehmſten Betrachtungen, die man wegen der Fortſchreitung der Harmonie in einerley Tonart zu machen hat. Frage. (Redende Kuͤnſte.) Eine redneriſche Figur, nach welcher man einem Satz den Schein der Ungewißheit giebt, um ſeine Gewißheit deſto lebhafter fuͤhlen zu machen. Die Frage, in ſo fern ſie eine redneriſche Figur iſt, iſt eigentlich keine Frage, ſondern eine hoͤchſt zuverſicht- liche Behauptung. Wenn Hagedorn fraͤgt: Wenn machte ſich das Lob der Tugend eigen? Wenn war es nicht des Gluͤkes Folgemagd? (*) ſo behauptet er, daß das Lob der Tugend nie eigen geweſen, ſondern immer dem Gluͤk gedient habe. Man fuͤhlt leicht, wie durch das Zweifelhafte der Frage die Gewißheit der Sache erhoͤht werde. Sie iſt eine zuverſichtliche Auffoderung die Sache zu leugnen, weil man ſicher iſt, daß ſie nicht kann ge- leugnet werden. Alſo entſteht ſie natuͤrlicher Weiſe aus der Fuͤlle der Ueberzeugung, die keinen Wider- ſpruch fuͤrchtet; ſie iſt nicht nur an ſich die kraͤf- tigſte Bejahung, ſondern macht, daß der Zuhoͤrer, indem er aufgefodert wird, die Sache zu leugnen, ihre Wahrheit deſto lebhafter fuͤhlt, weil er ſie nicht leugnen kann; ob man ihm gleich einigermaaßen Troz bietet, es zuthun. Hieraus laͤßt ſich abnehmen, daß ſie nur da muͤſſe gebraucht werden, wo es noͤthig iſt, dem Zuhoͤrer eine offenbare Wahrheit mit Kraft und Nachdruk vorzuſtellen. Nicht deswegen, als ob er ſonſt die Wahrheit nicht erkennen wuͤrde, ſondern well er ſonſt nicht aufmerkſam genug darauf ſeyn moͤchte. Sie dienet auch der Rede den Ton der Wahr- heit und der Ueberzeugung zu geben, weil auch im gemeinen Leben die Menſchen nur alsdenn, wenn ſie innigſt uͤberzeuget ſind, ohne Ueberlegung, ſich dieſer Figur bedienen. Sie muß aber nicht gemißbraucht werden; wel- ches geſchehen wuͤrde, wenn ſie da vorkaͤme, wo es nicht noͤthig iſt, den Saͤtzen einen beſondern Nach- druk zu geben. Es iſt damit wie mit dem Nach- druk, der einem Wort oder einer Redensart durch auſſerordentliche Erhebung der Stimme gegeben wird. Der Redner wird froſtig, wenn er dieſes am unrechten Orte thut. Deswegen muß auch die Frage nur da vorkommen, wo die Rede am intreſ- ſanteſten wird. Junge Redner, die nicht genug Ueberlegung und Beurtheilung haben, dieſes zu fuͤhlen, bringen bisweilen an gleichguͤltigen Stellen dieſe Figur an, um der Rede mehr Leben zu geben, und machen dadurch gerade, daß ſie alles Leben ver- liert. Denn wer da wichtig thut, wo kein wich- tiger Gegenſtand iſt, der wird laͤcherlich. Es iſt weit rathſamer ſich dieſer Figur ganz zu enthalten, als ſie am unrechten Ort anzubringen. Es giebt auch Fragen, wodurch die Rede blos naiv wird; weil ſie etwas ſo einfaͤltiges an ſich ha- ben, daß man glaubt, dem der redet, auf den inner- ſten Grund des Herzens zu ſehen; daher dieſe blos naive Frage in der Fabel oft vorkoͤmmt. Es ge- ſchieht auf zweyerley Art; entweder thnt der Dich- ter eine Frage, die im Grund ein Stich iſt, den er der Erſter Theil. E e e

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/413>, abgerufen am 22.11.2024.