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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Feu Fey
Feuer nur durch eine ausschweiffende Kunst in das
Werk gemischt, ohne daß die Lebhaftigkeit der Sa-
che den Künstler würklich erhizt hat, so wird dasselbe
abentheuerlich. Vor diesem kalten erzwungenen
Feuer haben sich insonderheit die Schauspieler und
Redner, in dem, was zum mündlichen Vortrag ge-
gehört, und die Dichter und Redner in der Schreib-
art und dem Sylbenmaaß in Acht zu nehmen.
Vornehmlich hat der Schauspieler sich zu hüten, daß
sein Feuer nicht übertrieben sey; sonst fällt er ins
Frostige. Er muß es nicht am unrechten Ort an-
wenden, er muß es in dem Grad äussern, den das
Feuer des Dichters erfodert. Denn es ist nichts
widrigers, als wenn geringe Sachen mit Feuer vor-
getragen werden. Es beleidiget uns durch den Wi-
derspruch, den wir zwischen dem Wesen der Sache
und der Art ihrer Darstellung bemerken, und fällt
demnach ins Lächerliche.

Feyerlich.
(Schöne Künste.)
[Spaltenumbruch]

Man nennt dasjenige Feyerlich, was die Empfin-
dung eines hohen Grades der Ehrfurcht und einer
bewundernden Erwartung erwekt. Es ist ein feyer-
licher Anblik, eine große Menge zum Gottesdienst
versammelter Menschen stillschweigend, und in der
größten Andacht auf ihren Knien liegen zu sehen.
Jn den schönen Künsten ist das Feyerliche eines von
den kräftigsten Mitteln die Gemüther mit Ehrfurcht
zu rühren, die Erwartung zu erweken, und den
Vorstellungen den höchsten Nachdruk zu geben.

Es ist aber seiner Natur nach nur in erhabenen
Gegenständen zu suchen, weil nur diese Ehrfurcht
und Bewundrung erweken; in Handlungen, wo
die Gottheit sich in ihrer vollen Majestät zeiget; auch
in solchen Handlungen, wo das gänzliche Schicksal
vieler Menschen durch einen glüklichen oder unglük-
lichen Augenblik zu entscheiden ist; in Hymnen, in
geistlichen Oden und festlichen Liedern.

Das Feyerliche liegt entweder in den Vorstellun-
gen selbst, oder in dem Ton, darin sie vorgetragen
werden. Jm erstern Fall ist es eine besondere Gat-
[Spaltenumbruch]

Fey Fig
tung des Erhabenen, das allemal aus Vorstellungen
entsteht, die uns mit großer Ehrfurcht erfüllen, oder
in höchst wichtige Erwartungen setzen. Dieses
Feyerliche hängt von dem Genie und einer großen
Denkungsart des Künstlers ab. Der feyerliche Ton
aber ist die Würkung, der mit einem feinen Geschmak
verbundenen Begeisterung. Niemand hat jemals
diesen Ton so völlig und so mannigfaltig getroffen,
als Klopstok, der darin allein zum Muster dienen
kann. Es würde sehr vergeblich seyn, alle die klei-
nen Hülfsmittel des Ausdruks und des Sylben-
maaßes, woraus der feyerliche Ton entsteht, aus
einander setzen zu wollen; dieses läßt sich besser em-
pfinden, als beschreiben. Wir setzen nur ein einzi-
ges Beyspiel her, das schon Hr. Schlegel, als ein
Muster des feyerlichen Tones angepriesen hat [Spaltenumbruch] (+).

Der Erdkreis ist des Herrn, und sein sind seine Heere,
Der Erdkreis und wer ihn bewohnt, ist sein.
Der Grund, auf den er ihn haut, sind ausgebreitete Meere,
Und Fluten umufern und schließen ihn ein --! (++)

Der feyerliche Ton hat eine sehr große Kraft, wenn
der Gegenstand selbst groß und erhaben ist; aber
weh dem Dichter oder Redner, der diesen Ton bey
geringen Gegenständen annihmt; denn da fällt er
ins Poßirliche. Es gehört ein feiner Geschmak dazu,
den gemäßigten, den hohen und den feyerlichen Ton,
jeden bey dem Gegenstand, dem er eigen ist, anzu-
wenden.

Figur.
(Zeichnende Künste.)
[Spaltenumbruch]

Eigentlich versteht man durch dieses Wort die Be-
gränzung oder Einschränkung der Größe eines Kör-
pers, in so fern er dadurch ein seiner Art besonderes
Ansehen bekömmt. Durch die Figur wird ein Kör-
per dreyekigt, vierekigt, rund, regelmäßig oder un-
regelmäßig, von schönem oder häßlichem Ansehen.
Doch scheinet der Gebrauch der Sprache diesen all-
gemeinen Begriff der Figur, insonderheit in der
Sprache der Künstler, durch das Wort Form auszu-
drüken. Schöne Formen sind schöne Figuren.
Man sagt in diesem Sinn lieber, diese Vase, oder

dieses
(+) Jn selnem übersetzten Batteux II Th. S. 462 nach
der zweyten Ausgabe.
(++) Cramer in der Uebersetzung des 24 Pf. Hat nicht
Hr. Schlegel, um dieses im Vorbeygehen zu erinnern,
sich mit der Critik des Worts umufern, etwas übereilt?
[Spaltenumbruch] Freylich wird das Meer vom Land umufert; hat aber nicht
der Dichter die ganze Vorstellung dadurch wunderbarer ge-
macht, daß er den Erdkreis, als das Feste, von dem Flüs-
sigen umusern läßt?

[Spaltenumbruch]

Feu Fey
Feuer nur durch eine ausſchweiffende Kunſt in das
Werk gemiſcht, ohne daß die Lebhaftigkeit der Sa-
che den Kuͤnſtler wuͤrklich erhizt hat, ſo wird daſſelbe
abentheuerlich. Vor dieſem kalten erzwungenen
Feuer haben ſich inſonderheit die Schauſpieler und
Redner, in dem, was zum muͤndlichen Vortrag ge-
gehoͤrt, und die Dichter und Redner in der Schreib-
art und dem Sylbenmaaß in Acht zu nehmen.
Vornehmlich hat der Schauſpieler ſich zu huͤten, daß
ſein Feuer nicht uͤbertrieben ſey; ſonſt faͤllt er ins
Froſtige. Er muß es nicht am unrechten Ort an-
wenden, er muß es in dem Grad aͤuſſern, den das
Feuer des Dichters erfodert. Denn es iſt nichts
widrigers, als wenn geringe Sachen mit Feuer vor-
getragen werden. Es beleidiget uns durch den Wi-
derſpruch, den wir zwiſchen dem Weſen der Sache
und der Art ihrer Darſtellung bemerken, und faͤllt
demnach ins Laͤcherliche.

Feyerlich.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
[Spaltenumbruch]

Man nennt dasjenige Feyerlich, was die Empfin-
dung eines hohen Grades der Ehrfurcht und einer
bewundernden Erwartung erwekt. Es iſt ein feyer-
licher Anblik, eine große Menge zum Gottesdienſt
verſammelter Menſchen ſtillſchweigend, und in der
groͤßten Andacht auf ihren Knien liegen zu ſehen.
Jn den ſchoͤnen Kuͤnſten iſt das Feyerliche eines von
den kraͤftigſten Mitteln die Gemuͤther mit Ehrfurcht
zu ruͤhren, die Erwartung zu erweken, und den
Vorſtellungen den hoͤchſten Nachdruk zu geben.

Es iſt aber ſeiner Natur nach nur in erhabenen
Gegenſtaͤnden zu ſuchen, weil nur dieſe Ehrfurcht
und Bewundrung erweken; in Handlungen, wo
die Gottheit ſich in ihrer vollen Majeſtaͤt zeiget; auch
in ſolchen Handlungen, wo das gaͤnzliche Schickſal
vieler Menſchen durch einen gluͤklichen oder ungluͤk-
lichen Augenblik zu entſcheiden iſt; in Hymnen, in
geiſtlichen Oden und feſtlichen Liedern.

Das Feyerliche liegt entweder in den Vorſtellun-
gen ſelbſt, oder in dem Ton, darin ſie vorgetragen
werden. Jm erſtern Fall iſt es eine beſondere Gat-
[Spaltenumbruch]

Fey Fig
tung des Erhabenen, das allemal aus Vorſtellungen
entſteht, die uns mit großer Ehrfurcht erfuͤllen, oder
in hoͤchſt wichtige Erwartungen ſetzen. Dieſes
Feyerliche haͤngt von dem Genie und einer großen
Denkungsart des Kuͤnſtlers ab. Der feyerliche Ton
aber iſt die Wuͤrkung, der mit einem feinen Geſchmak
verbundenen Begeiſterung. Niemand hat jemals
dieſen Ton ſo voͤllig und ſo mannigfaltig getroffen,
als Klopſtok, der darin allein zum Muſter dienen
kann. Es wuͤrde ſehr vergeblich ſeyn, alle die klei-
nen Huͤlfsmittel des Ausdruks und des Sylben-
maaßes, woraus der feyerliche Ton entſteht, aus
einander ſetzen zu wollen; dieſes laͤßt ſich beſſer em-
pfinden, als beſchreiben. Wir ſetzen nur ein einzi-
ges Beyſpiel her, das ſchon Hr. Schlegel, als ein
Muſter des feyerlichen Tones angeprieſen hat [Spaltenumbruch] (†).

Der Erdkreis iſt des Herrn, und ſein ſind ſeine Heere,
Der Erdkreis und wer ihn bewohnt, iſt ſein.
Der Grund, auf den er ihn haut, ſind ausgebreitete Meere,
Und Fluten umufern und ſchließen ihn ein —! (††)

Der feyerliche Ton hat eine ſehr große Kraft, wenn
der Gegenſtand ſelbſt groß und erhaben iſt; aber
weh dem Dichter oder Redner, der dieſen Ton bey
geringen Gegenſtaͤnden annihmt; denn da faͤllt er
ins Poßirliche. Es gehoͤrt ein feiner Geſchmak dazu,
den gemaͤßigten, den hohen und den feyerlichen Ton,
jeden bey dem Gegenſtand, dem er eigen iſt, anzu-
wenden.

Figur.
(Zeichnende Kuͤnſte.)
[Spaltenumbruch]

Eigentlich verſteht man durch dieſes Wort die Be-
graͤnzung oder Einſchraͤnkung der Groͤße eines Koͤr-
pers, in ſo fern er dadurch ein ſeiner Art beſonderes
Anſehen bekoͤmmt. Durch die Figur wird ein Koͤr-
per dreyekigt, vierekigt, rund, regelmaͤßig oder un-
regelmaͤßig, von ſchoͤnem oder haͤßlichem Anſehen.
Doch ſcheinet der Gebrauch der Sprache dieſen all-
gemeinen Begriff der Figur, inſonderheit in der
Sprache der Kuͤnſtler, durch das Wort Form auszu-
druͤken. Schoͤne Formen ſind ſchoͤne Figuren.
Man ſagt in dieſem Sinn lieber, dieſe Vaſe, oder

dieſes
(†) Jn ſelnem uͤberſetzten Batteux II Th. S. 462 nach
der zweyten Ausgabe.
(††) Cramer in der Ueberſetzung des 24 Pf. Hat nicht
Hr. Schlegel, um dieſes im Vorbeygehen zu erinnern,
ſich mit der Critik des Worts umufern, etwas uͤbereilt?
[Spaltenumbruch] Freylich wird das Meer vom Land umufert; hat aber nicht
der Dichter die ganze Vorſtellung dadurch wunderbarer ge-
macht, daß er den Erdkreis, als das Feſte, von dem Fluͤſ-
ſigen umuſern laͤßt?
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[383/0395] Feu Fey Fey Fig Feuer nur durch eine ausſchweiffende Kunſt in das Werk gemiſcht, ohne daß die Lebhaftigkeit der Sa- che den Kuͤnſtler wuͤrklich erhizt hat, ſo wird daſſelbe abentheuerlich. Vor dieſem kalten erzwungenen Feuer haben ſich inſonderheit die Schauſpieler und Redner, in dem, was zum muͤndlichen Vortrag ge- gehoͤrt, und die Dichter und Redner in der Schreib- art und dem Sylbenmaaß in Acht zu nehmen. Vornehmlich hat der Schauſpieler ſich zu huͤten, daß ſein Feuer nicht uͤbertrieben ſey; ſonſt faͤllt er ins Froſtige. Er muß es nicht am unrechten Ort an- wenden, er muß es in dem Grad aͤuſſern, den das Feuer des Dichters erfodert. Denn es iſt nichts widrigers, als wenn geringe Sachen mit Feuer vor- getragen werden. Es beleidiget uns durch den Wi- derſpruch, den wir zwiſchen dem Weſen der Sache und der Art ihrer Darſtellung bemerken, und faͤllt demnach ins Laͤcherliche. Feyerlich. (Schoͤne Kuͤnſte.) Man nennt dasjenige Feyerlich, was die Empfin- dung eines hohen Grades der Ehrfurcht und einer bewundernden Erwartung erwekt. Es iſt ein feyer- licher Anblik, eine große Menge zum Gottesdienſt verſammelter Menſchen ſtillſchweigend, und in der groͤßten Andacht auf ihren Knien liegen zu ſehen. Jn den ſchoͤnen Kuͤnſten iſt das Feyerliche eines von den kraͤftigſten Mitteln die Gemuͤther mit Ehrfurcht zu ruͤhren, die Erwartung zu erweken, und den Vorſtellungen den hoͤchſten Nachdruk zu geben. Es iſt aber ſeiner Natur nach nur in erhabenen Gegenſtaͤnden zu ſuchen, weil nur dieſe Ehrfurcht und Bewundrung erweken; in Handlungen, wo die Gottheit ſich in ihrer vollen Majeſtaͤt zeiget; auch in ſolchen Handlungen, wo das gaͤnzliche Schickſal vieler Menſchen durch einen gluͤklichen oder ungluͤk- lichen Augenblik zu entſcheiden iſt; in Hymnen, in geiſtlichen Oden und feſtlichen Liedern. Das Feyerliche liegt entweder in den Vorſtellun- gen ſelbſt, oder in dem Ton, darin ſie vorgetragen werden. Jm erſtern Fall iſt es eine beſondere Gat- tung des Erhabenen, das allemal aus Vorſtellungen entſteht, die uns mit großer Ehrfurcht erfuͤllen, oder in hoͤchſt wichtige Erwartungen ſetzen. Dieſes Feyerliche haͤngt von dem Genie und einer großen Denkungsart des Kuͤnſtlers ab. Der feyerliche Ton aber iſt die Wuͤrkung, der mit einem feinen Geſchmak verbundenen Begeiſterung. Niemand hat jemals dieſen Ton ſo voͤllig und ſo mannigfaltig getroffen, als Klopſtok, der darin allein zum Muſter dienen kann. Es wuͤrde ſehr vergeblich ſeyn, alle die klei- nen Huͤlfsmittel des Ausdruks und des Sylben- maaßes, woraus der feyerliche Ton entſteht, aus einander ſetzen zu wollen; dieſes laͤßt ſich beſſer em- pfinden, als beſchreiben. Wir ſetzen nur ein einzi- ges Beyſpiel her, das ſchon Hr. Schlegel, als ein Muſter des feyerlichen Tones angeprieſen hat (†). Der Erdkreis iſt des Herrn, und ſein ſind ſeine Heere, Der Erdkreis und wer ihn bewohnt, iſt ſein. Der Grund, auf den er ihn haut, ſind ausgebreitete Meere, Und Fluten umufern und ſchließen ihn ein —! (††) Der feyerliche Ton hat eine ſehr große Kraft, wenn der Gegenſtand ſelbſt groß und erhaben iſt; aber weh dem Dichter oder Redner, der dieſen Ton bey geringen Gegenſtaͤnden annihmt; denn da faͤllt er ins Poßirliche. Es gehoͤrt ein feiner Geſchmak dazu, den gemaͤßigten, den hohen und den feyerlichen Ton, jeden bey dem Gegenſtand, dem er eigen iſt, anzu- wenden. Figur. (Zeichnende Kuͤnſte.) Eigentlich verſteht man durch dieſes Wort die Be- graͤnzung oder Einſchraͤnkung der Groͤße eines Koͤr- pers, in ſo fern er dadurch ein ſeiner Art beſonderes Anſehen bekoͤmmt. Durch die Figur wird ein Koͤr- per dreyekigt, vierekigt, rund, regelmaͤßig oder un- regelmaͤßig, von ſchoͤnem oder haͤßlichem Anſehen. Doch ſcheinet der Gebrauch der Sprache dieſen all- gemeinen Begriff der Figur, inſonderheit in der Sprache der Kuͤnſtler, durch das Wort Form auszu- druͤken. Schoͤne Formen ſind ſchoͤne Figuren. Man ſagt in dieſem Sinn lieber, dieſe Vaſe, oder dieſes (†) Jn ſelnem uͤberſetzten Batteux II Th. S. 462 nach der zweyten Ausgabe. (††) Cramer in der Ueberſetzung des 24 Pf. Hat nicht Hr. Schlegel, um dieſes im Vorbeygehen zu erinnern, ſich mit der Critik des Worts umufern, etwas uͤbereilt? Freylich wird das Meer vom Land umufert; hat aber nicht der Dichter die ganze Vorſtellung dadurch wunderbarer ge- macht, daß er den Erdkreis, als das Feſte, von dem Fluͤſ- ſigen umuſern laͤßt?

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/395>, abgerufen am 22.11.2024.