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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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zugedichtet werden muß, hinderlich wäre, und so
könnten sich wichtige Fehler über das ganze Gedicht
verbreiten. Zur Beurtheilung der Fabel aber wird
eine genaue Bestimmung des Geistes oder der Seele,
die man diesem Körper zu geben gedenkt, erfodert.
Denn wenn da etwas ungewisses oder unbestimm-
tes bleibet, so wird die Erfindung dessen, was zur
Fabel gehört, ungewiß, und es ist ein bloßer Zufall,
wenn es geräth. Wir wollen nicht mit dem Pater
Le Boßu behaupten, daß das Ganze der Fabel ein
bestimmter moralischer Satz seyn müsse; dieses ist
eine sehr pedantische Einschränkung; doch fodern
wir, daß der Dichter den Charakter des Stüks wol
bestimme, daß er die Fabel von mehrern Seiten be-
trachte, bis er einen bestimmten Eindruk von der-
selben empfindet, den er auch andern mitzutheilen
wünscht. Dieser Eindruk ist das, was wir den Geist
der Fabel nennen. Beyspiele, wie der besondere Ge-
sichtspunkt, aus welchem die Dichter die Fabel anse-
hen, das Zufällige in derselben bestimmt, haben wir
an der von den drey griechischen Trauerspieldichteru
behandelten Fabel vom Tode der Clytemnestra. Aus
dem Trauerspiel des Aeschylus, das den Namen
Coephoren trägt, sehen wir deutlich, daß den Dich-
ter in dieser Fabel vorzüglich die Vorstellung der
Strafe gerührt hat, welche früh oder späth auf
große Verbrechen erfolget. Die ganze Fabel ist auf
den finstern Ton gestimmt, der dieser Vorstellung
gemäß ist. Daher kömmt die Erdichtung des schrek-
haften Traumes der Clytemnestra, des ängstlichen
Versöhnungsopfers auf dem Grabe des Agamemnons,
das Entsetzliche, was von dem Meuchelmord dieses
Königs erzählt wird, das böse Gewissen des Ae-
gisthus,
und endlich, nach vollbrachter That des Ore-
stes, die angehende Tollheit dieses unglüklichen Soh-
nes. Der Dichter ist durchgehends von dem Haupt-
eindruk geleitet worden.

Sophokles sah die Sach aus einem andern Ge-
sichtspunkte. Jhn rührten hauptsächlich der gottlose
Charakter der Clytemnestra, und der feurige, aber
mit Hoheit verbundene Charakter, unter welchem er
sich die Elektra vorgestellt hat. Alles zielt auf die
deutliche Bezeichnung und Entwiklung derselben ab.
Zu dem Ende hat er die Chrysothemis eingeführt,
wodurch er hinlängliche Gelegenheit bekommen, die
eine Seite des Charakters der Elektra zu entwikeln,
und die schöne Erdichtung von der Urna, die dem
Vorgeben nach die Asche des Orestes enthielt, wo-
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durch die andre Seite des Charakters der Elektra
und zugleich der schändliche Charakter ihrer Mutter
in das schönste Licht gesetzt worden.

Euripides hat die Fabel wieder in einem andern
Lichte gesehen. Jhn rührte hauptsächlich das Nie-
derträchtige und Lasterhafte in dem ganzen Betragen
der Clytemnestra und ihres ehebrecherischen Gemahls.
Um diese beyden Personen in der niederträchtigsten
Sinnesart zu zeigen, hat er zu dem Wesentlichen
der Fabel die schöne Erdichtung von der Verheyra-
tung der Elecktra an einen armen Landmann, hinzu-
gethan. Nichts war geschickter, als diese Sache
an sich selbst, und der tugendhafte und edle Cha-
rakter dieses geringen Menschen, um den Aegysthus
und die Clytemnestra in dem verächtlichsten Lichte
zu zeigen.

Hiedurch wird also die vorhergemachte Anmer-
kung, daß der Dichter seine Fabel allemal aus
einem gewissen Gesichtspunkt anzusehen habe, um
sie zu seinem Vorhaben geschickt einzurichten, ver-
ständlich werden. Wenn der Dichter darin glüklich
gewesen ist, so wird der ganze Plan seines Werks
selten mißlingen.

Fabel.
(Die Aesopische.)

Die Erzählung einer geschehenen Sache, in so fern
sie ein sittliches Bild ist.
Nach Voraussetzung des-
sen, was von der Natur des Bildes überhaupt an-
gemerkt worden (*), wird sich diese Erklärung ohne(*) S. Art.
Bild S.
170. f f.

viel Umstände entwikeln lassen. 1) Die Fabel ist
nicht blos ein besonderer Fall dessen, was man all-
gemein ausdrüken will, wie das Beyspiel ist. 2) Sie
ist ein sittliches Bild, das ist, die Vorstellung, die
durch sie anschauend soll erkennt werden, betrifft
allemal etwas aus dem sittlichen Leben der Men-
schen; sie ist ein allgemeiner moralischer Satz, oder
auch nur ein Begriff von einem moralischen Wesen,
von einem Charakter, von einer Handlung, von
einer Sinnesart. Ueberhaupt also ist die abgebildete
Sache ein moralischer Satz oder nur ein moralischer
Begriff. Dieses ist von der Bedeutung der Fabel
zu merken. 3) Das Bild ist eine Erzählung, und
dadurch unterscheidet sich die Fabel von andern Bil-
dern. Das, was der sinnlichen Vorstellung vorgelegt
wird, ist eine Sache die als würklich geschehen erzählt
wird; nicht eine blos mögliche Sache die geschehen

könn-
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Fab
zugedichtet werden muß, hinderlich waͤre, und ſo
koͤnnten ſich wichtige Fehler uͤber das ganze Gedicht
verbreiten. Zur Beurtheilung der Fabel aber wird
eine genaue Beſtimmung des Geiſtes oder der Seele,
die man dieſem Koͤrper zu geben gedenkt, erfodert.
Denn wenn da etwas ungewiſſes oder unbeſtimm-
tes bleibet, ſo wird die Erfindung deſſen, was zur
Fabel gehoͤrt, ungewiß, und es iſt ein bloßer Zufall,
wenn es geraͤth. Wir wollen nicht mit dem Pater
Le Boßu behaupten, daß das Ganze der Fabel ein
beſtimmter moraliſcher Satz ſeyn muͤſſe; dieſes iſt
eine ſehr pedantiſche Einſchraͤnkung; doch fodern
wir, daß der Dichter den Charakter des Stuͤks wol
beſtimme, daß er die Fabel von mehrern Seiten be-
trachte, bis er einen beſtimmten Eindruk von der-
ſelben empfindet, den er auch andern mitzutheilen
wuͤnſcht. Dieſer Eindruk iſt das, was wir den Geiſt
der Fabel nennen. Beyſpiele, wie der beſondere Ge-
ſichtspunkt, aus welchem die Dichter die Fabel anſe-
hen, das Zufaͤllige in derſelben beſtimmt, haben wir
an der von den drey griechiſchen Trauerſpieldichteru
behandelten Fabel vom Tode der Clytemneſtra. Aus
dem Trauerſpiel des Aeſchylus, das den Namen
Coephoren traͤgt, ſehen wir deutlich, daß den Dich-
ter in dieſer Fabel vorzuͤglich die Vorſtellung der
Strafe geruͤhrt hat, welche fruͤh oder ſpaͤth auf
große Verbrechen erfolget. Die ganze Fabel iſt auf
den finſtern Ton geſtimmt, der dieſer Vorſtellung
gemaͤß iſt. Daher koͤmmt die Erdichtung des ſchrek-
haften Traumes der Clytemneſtra, des aͤngſtlichen
Verſoͤhnungsopfers auf dem Grabe des Agamemnons,
das Entſetzliche, was von dem Meuchelmord dieſes
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giſthus,
und endlich, nach vollbrachter That des Ore-
ſtes, die angehende Tollheit dieſes ungluͤklichen Soh-
nes. Der Dichter iſt durchgehends von dem Haupt-
eindruk geleitet worden.

Sophokles ſah die Sach aus einem andern Ge-
ſichtspunkte. Jhn ruͤhrten hauptſaͤchlich der gottloſe
Charakter der Clytemneſtra, und der feurige, aber
mit Hoheit verbundene Charakter, unter welchem er
ſich die Elektra vorgeſtellt hat. Alles zielt auf die
deutliche Bezeichnung und Entwiklung derſelben ab.
Zu dem Ende hat er die Chryſothemis eingefuͤhrt,
wodurch er hinlaͤngliche Gelegenheit bekommen, die
eine Seite des Charakters der Elektra zu entwikeln,
und die ſchoͤne Erdichtung von der Urna, die dem
Vorgeben nach die Aſche des Oreſtes enthielt, wo-
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Fab
durch die andre Seite des Charakters der Elektra
und zugleich der ſchaͤndliche Charakter ihrer Mutter
in das ſchoͤnſte Licht geſetzt worden.

Euripides hat die Fabel wieder in einem andern
Lichte geſehen. Jhn ruͤhrte hauptſaͤchlich das Nie-
dertraͤchtige und Laſterhafte in dem ganzen Betragen
der Clytemneſtra und ihres ehebrecheriſchen Gemahls.
Um dieſe beyden Perſonen in der niedertraͤchtigſten
Sinnesart zu zeigen, hat er zu dem Weſentlichen
der Fabel die ſchoͤne Erdichtung von der Verheyra-
tung der Elecktra an einen armen Landmann, hinzu-
gethan. Nichts war geſchickter, als dieſe Sache
an ſich ſelbſt, und der tugendhafte und edle Cha-
rakter dieſes geringen Menſchen, um den Aegyſthus
und die Clytemneſtra in dem veraͤchtlichſten Lichte
zu zeigen.

Hiedurch wird alſo die vorhergemachte Anmer-
kung, daß der Dichter ſeine Fabel allemal aus
einem gewiſſen Geſichtspunkt anzuſehen habe, um
ſie zu ſeinem Vorhaben geſchickt einzurichten, ver-
ſtaͤndlich werden. Wenn der Dichter darin gluͤklich
geweſen iſt, ſo wird der ganze Plan ſeines Werks
ſelten mißlingen.

Fabel.
(Die Aeſopiſche.)

Die Erzaͤhlung einer geſchehenen Sache, in ſo fern
ſie ein ſittliches Bild iſt.
Nach Vorausſetzung deſ-
ſen, was von der Natur des Bildes uͤberhaupt an-
gemerkt worden (*), wird ſich dieſe Erklaͤrung ohne(*) S. Art.
Bild S.
170. f f.

viel Umſtaͤnde entwikeln laſſen. 1) Die Fabel iſt
nicht blos ein beſonderer Fall deſſen, was man all-
gemein ausdruͤken will, wie das Beyſpiel iſt. 2) Sie
iſt ein ſittliches Bild, das iſt, die Vorſtellung, die
durch ſie anſchauend ſoll erkennt werden, betrifft
allemal etwas aus dem ſittlichen Leben der Men-
ſchen; ſie iſt ein allgemeiner moraliſcher Satz, oder
auch nur ein Begriff von einem moraliſchen Weſen,
von einem Charakter, von einer Handlung, von
einer Sinnesart. Ueberhaupt alſo iſt die abgebildete
Sache ein moraliſcher Satz oder nur ein moraliſcher
Begriff. Dieſes iſt von der Bedeutung der Fabel
zu merken. 3) Das Bild iſt eine Erzaͤhlung, und
dadurch unterſcheidet ſich die Fabel von andern Bil-
dern. Das, was der ſinnlichen Vorſtellung vorgelegt
wird, iſt eine Sache die als wuͤrklich geſchehen erzaͤhlt
wird; nicht eine blos moͤgliche Sache die geſchehen

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[361/0373] Fab Fab zugedichtet werden muß, hinderlich waͤre, und ſo koͤnnten ſich wichtige Fehler uͤber das ganze Gedicht verbreiten. Zur Beurtheilung der Fabel aber wird eine genaue Beſtimmung des Geiſtes oder der Seele, die man dieſem Koͤrper zu geben gedenkt, erfodert. Denn wenn da etwas ungewiſſes oder unbeſtimm- tes bleibet, ſo wird die Erfindung deſſen, was zur Fabel gehoͤrt, ungewiß, und es iſt ein bloßer Zufall, wenn es geraͤth. Wir wollen nicht mit dem Pater Le Boßu behaupten, daß das Ganze der Fabel ein beſtimmter moraliſcher Satz ſeyn muͤſſe; dieſes iſt eine ſehr pedantiſche Einſchraͤnkung; doch fodern wir, daß der Dichter den Charakter des Stuͤks wol beſtimme, daß er die Fabel von mehrern Seiten be- trachte, bis er einen beſtimmten Eindruk von der- ſelben empfindet, den er auch andern mitzutheilen wuͤnſcht. Dieſer Eindruk iſt das, was wir den Geiſt der Fabel nennen. Beyſpiele, wie der beſondere Ge- ſichtspunkt, aus welchem die Dichter die Fabel anſe- hen, das Zufaͤllige in derſelben beſtimmt, haben wir an der von den drey griechiſchen Trauerſpieldichteru behandelten Fabel vom Tode der Clytemneſtra. Aus dem Trauerſpiel des Aeſchylus, das den Namen Coephoren traͤgt, ſehen wir deutlich, daß den Dich- ter in dieſer Fabel vorzuͤglich die Vorſtellung der Strafe geruͤhrt hat, welche fruͤh oder ſpaͤth auf große Verbrechen erfolget. Die ganze Fabel iſt auf den finſtern Ton geſtimmt, der dieſer Vorſtellung gemaͤß iſt. Daher koͤmmt die Erdichtung des ſchrek- haften Traumes der Clytemneſtra, des aͤngſtlichen Verſoͤhnungsopfers auf dem Grabe des Agamemnons, das Entſetzliche, was von dem Meuchelmord dieſes Koͤnigs erzaͤhlt wird, das boͤſe Gewiſſen des Ae- giſthus, und endlich, nach vollbrachter That des Ore- ſtes, die angehende Tollheit dieſes ungluͤklichen Soh- nes. Der Dichter iſt durchgehends von dem Haupt- eindruk geleitet worden. Sophokles ſah die Sach aus einem andern Ge- ſichtspunkte. Jhn ruͤhrten hauptſaͤchlich der gottloſe Charakter der Clytemneſtra, und der feurige, aber mit Hoheit verbundene Charakter, unter welchem er ſich die Elektra vorgeſtellt hat. Alles zielt auf die deutliche Bezeichnung und Entwiklung derſelben ab. Zu dem Ende hat er die Chryſothemis eingefuͤhrt, wodurch er hinlaͤngliche Gelegenheit bekommen, die eine Seite des Charakters der Elektra zu entwikeln, und die ſchoͤne Erdichtung von der Urna, die dem Vorgeben nach die Aſche des Oreſtes enthielt, wo- durch die andre Seite des Charakters der Elektra und zugleich der ſchaͤndliche Charakter ihrer Mutter in das ſchoͤnſte Licht geſetzt worden. Euripides hat die Fabel wieder in einem andern Lichte geſehen. Jhn ruͤhrte hauptſaͤchlich das Nie- dertraͤchtige und Laſterhafte in dem ganzen Betragen der Clytemneſtra und ihres ehebrecheriſchen Gemahls. Um dieſe beyden Perſonen in der niedertraͤchtigſten Sinnesart zu zeigen, hat er zu dem Weſentlichen der Fabel die ſchoͤne Erdichtung von der Verheyra- tung der Elecktra an einen armen Landmann, hinzu- gethan. Nichts war geſchickter, als dieſe Sache an ſich ſelbſt, und der tugendhafte und edle Cha- rakter dieſes geringen Menſchen, um den Aegyſthus und die Clytemneſtra in dem veraͤchtlichſten Lichte zu zeigen. Hiedurch wird alſo die vorhergemachte Anmer- kung, daß der Dichter ſeine Fabel allemal aus einem gewiſſen Geſichtspunkt anzuſehen habe, um ſie zu ſeinem Vorhaben geſchickt einzurichten, ver- ſtaͤndlich werden. Wenn der Dichter darin gluͤklich geweſen iſt, ſo wird der ganze Plan ſeines Werks ſelten mißlingen. Fabel. (Die Aeſopiſche.) Die Erzaͤhlung einer geſchehenen Sache, in ſo fern ſie ein ſittliches Bild iſt. Nach Vorausſetzung deſ- ſen, was von der Natur des Bildes uͤberhaupt an- gemerkt worden (*), wird ſich dieſe Erklaͤrung ohne viel Umſtaͤnde entwikeln laſſen. 1) Die Fabel iſt nicht blos ein beſonderer Fall deſſen, was man all- gemein ausdruͤken will, wie das Beyſpiel iſt. 2) Sie iſt ein ſittliches Bild, das iſt, die Vorſtellung, die durch ſie anſchauend ſoll erkennt werden, betrifft allemal etwas aus dem ſittlichen Leben der Men- ſchen; ſie iſt ein allgemeiner moraliſcher Satz, oder auch nur ein Begriff von einem moraliſchen Weſen, von einem Charakter, von einer Handlung, von einer Sinnesart. Ueberhaupt alſo iſt die abgebildete Sache ein moraliſcher Satz oder nur ein moraliſcher Begriff. Dieſes iſt von der Bedeutung der Fabel zu merken. 3) Das Bild iſt eine Erzaͤhlung, und dadurch unterſcheidet ſich die Fabel von andern Bil- dern. Das, was der ſinnlichen Vorſtellung vorgelegt wird, iſt eine Sache die als wuͤrklich geſchehen erzaͤhlt wird; nicht eine blos moͤgliche Sache die geſchehen koͤnn- (*) S. Art. Bild S. 170. f f. Z z

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/373>, abgerufen am 22.11.2024.