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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Erf
zudrüken: Wer dieses bemerkt, macht durch Nach-
ahmung eine Erfindung.

Eben so leicht kann man auf neue Erfindungen
kommen, wenn man bey schon vorhandenen Wer-
ken einige Hauptumstände wegläßt, oder andre
Hauptumstände hinzuthut, oder wenn man mit
Beybehaltung des Hauptinhalts und des Geistes
der Vorstellung einen andern Stoff wählet. So
hat mancher dramatische Dichter den Geist, oder
den Haupteindruk seines Drama von einem andern
genommen, und eine neue Fabel dazu erdacht; wie
Voltaire, der das, was Shakesspear in der Fabel des
Hamlots vorgestellt, in die Fabel der Semiramis
eingekleidet hat.

Also sind gar vielerley Wege zu Erfindungen in
den Künsten zu gelangen, dazu, ausser den Talenten,
die von der Natur gegeben werden, ein unaufhörli-
ches Studium der Kunst und der schon vorhandenen
Werke derselben, das Hauptsächlichste beyträgt.

Was bis hieher von der Erfindung gesagt wor-
den, betrift den Hauptstoff, oder die Materie im
Ganzen betrachtet, es kann aber jedes auch auf
die Erfindung einzeler Theile angewendet werden.
Jeder Haupttheil eines Werks macht doch einiger-
maaßen wieder ein Ganzes aus, dessen besondere
Theile eben wieder so erfunden werden, wie die
Haupttheile selbst aus Betrachtung des Ganzen er-
funden worden. Ohne Zweifel kommen dem Künst-
ler Fälle vor, wo ihm die Erfindung einzeler Theile
so schweer wird, als die Erfindung des Ganzen,
und wo der Mangel eines kleinen schiklichen Thei-
les das ganze Werk aufhält. Da ist ihm zu ra-
then, nur nicht ängstlich zu seyn und sich Zeit zu
nehmen. Die Erfindung läßt sich nicht erzwingen,
und gelingt oft durch die ernstlichsten Bestrebungen
am wenigsten. Man weiß die Geschichte des Nea-
(*) Hist.
Nat. L.
XXXV.

10.
lies, (*) der mit seinem ganzen Gemählde fertig
war, bis auf den Schaum, den er an dem Maule
des Pferdes ausdrüken sollte. Aber man ist nicht
allemal so glüklich, wie er war. Das Beste hiebey
ist, den Schwierigkeiten nachzugeben, nichts erzwin-
gen zu wollen, und von der Arbeit zu gehen, sie so
gar eine Zeitlang, als wenn man sie vergeßen wollte,
weg zu legen. Denn wo man so große Schwierig-
keiten findet, da ist man allemal auf dem unrechten
Weg, den man doch für den rechten hält. Also ist
das Beste, daß man sich aus dieser falschen Faßung
oder Stellung heraussetze. Ein dunkler Begriff
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Erf
dessen, was man sucht, bleibt deswegen doch immer
dunkel in unsrer Vorstellung; allmählig nimmt die
Sache eine andre Wendung, und mit angenehmer
Verwunderung erfährt man nachher, daß das,
was man durch großes Bestreben nicht hat sinden
können, sich von selbst auf die natürlichste Weise
darbietet.

Es ist eine anmerkungswürdige Sache, und ge-
hört unter die andern psychologischen Geheimnisse,
daß bisweilen gewisse Gedanken, wenn man die
größte Aufmerksamkeit darauf richtet, sich dennoch
nicht wollen entwikeln oder klar faßen lassen; lange
hernach aber sich von selbst, und wenn man es nicht
sucht, in großer Deutlichkeit darstellen, so daß es
das Ansehen hat, als wenn sie in der Zwischenzeit, wie
eine Pflanze, unbemerkt fortgewachsen wären und nun
auf einmal in ihrer völligen Entwiklung und Blüthe
dastühnden. Mancher Begriff wird allmählig reiff
in uns, und löset sich dann gleichsam von selbst von
der Masse der dunkeln Vorstellungen ab und fällt
ans Licht hervor. Auf dergleichen glüklichen Aeusse-
rungen des Genies muß sich jeder Künstler auch ver-
lassen, und wenn er nicht allemal finden kann, was
er mit Fleiß sucht, mit Geduld den Zeitpunkt der
Reiffe seiner Gedanken abwarten.

Man rechnet oft auch die Wahl und Anordnung
der Theile noch zur Erfindung des Werks: es ist
aber von diesen Stüken der Kunst besonders gespro-
chen worden. Durch die Erfindung im eigentlichsten
Verstande werden nur die Theile herbey geschaft,
und oft viel mehr, als nöthig sind. Durch die
Wahl werden die schiklichsten ausgesucht und die
übrigen verworfen, und durch die Anordnung wer-
den sie zum besten Ganzen verbunden.

Es scheinet noch hieher zu gehören, daß von
Beurtheilung der Erfindungen gesprochen werde.
Nach dem oben festgesetzten Begriff besteht die Er-
findung allemal in Ausdenkung der Mittel, die zum
Zwek führen, oder in der guten Anwendung einer
schon vorhandenen Sache zu einem bestimmten
Zwek. Es muß also in jedem guten Werk der
Kunst ein Zwek zum Grund liegen, durch welchen
alles vorhandene bestimmt worden ist. Wo kein
Zwek zu entdeken ist, da läßt sich auch von der Er-
findung nicht urtheilen. Jn der That trift man
auch oft Werke der Kunst an, deren Urheber selbst
keinen bestimmten Zwek mögen gehabt haben, in
denen folglich gar keine Erfindung liegt; die Theile

sind
U u 2

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Erf
zudruͤken: Wer dieſes bemerkt, macht durch Nach-
ahmung eine Erfindung.

Eben ſo leicht kann man auf neue Erfindungen
kommen, wenn man bey ſchon vorhandenen Wer-
ken einige Hauptumſtaͤnde weglaͤßt, oder andre
Hauptumſtaͤnde hinzuthut, oder wenn man mit
Beybehaltung des Hauptinhalts und des Geiſtes
der Vorſtellung einen andern Stoff waͤhlet. So
hat mancher dramatiſche Dichter den Geiſt, oder
den Haupteindruk ſeines Drama von einem andern
genommen, und eine neue Fabel dazu erdacht; wie
Voltaire, der das, was Shakesſpear in der Fabel des
Hamlots vorgeſtellt, in die Fabel der Semiramis
eingekleidet hat.

Alſo ſind gar vielerley Wege zu Erfindungen in
den Kuͤnſten zu gelangen, dazu, auſſer den Talenten,
die von der Natur gegeben werden, ein unaufhoͤrli-
ches Studium der Kunſt und der ſchon vorhandenen
Werke derſelben, das Hauptſaͤchlichſte beytraͤgt.

Was bis hieher von der Erfindung geſagt wor-
den, betrift den Hauptſtoff, oder die Materie im
Ganzen betrachtet, es kann aber jedes auch auf
die Erfindung einzeler Theile angewendet werden.
Jeder Haupttheil eines Werks macht doch einiger-
maaßen wieder ein Ganzes aus, deſſen beſondere
Theile eben wieder ſo erfunden werden, wie die
Haupttheile ſelbſt aus Betrachtung des Ganzen er-
funden worden. Ohne Zweifel kommen dem Kuͤnſt-
ler Faͤlle vor, wo ihm die Erfindung einzeler Theile
ſo ſchweer wird, als die Erfindung des Ganzen,
und wo der Mangel eines kleinen ſchiklichen Thei-
les das ganze Werk aufhaͤlt. Da iſt ihm zu ra-
then, nur nicht aͤngſtlich zu ſeyn und ſich Zeit zu
nehmen. Die Erfindung laͤßt ſich nicht erzwingen,
und gelingt oft durch die ernſtlichſten Beſtrebungen
am wenigſten. Man weiß die Geſchichte des Nea-
(*) Hiſt.
Nat. L.
XXXV.

10.
lies, (*) der mit ſeinem ganzen Gemaͤhlde fertig
war, bis auf den Schaum, den er an dem Maule
des Pferdes ausdruͤken ſollte. Aber man iſt nicht
allemal ſo gluͤklich, wie er war. Das Beſte hiebey
iſt, den Schwierigkeiten nachzugeben, nichts erzwin-
gen zu wollen, und von der Arbeit zu gehen, ſie ſo
gar eine Zeitlang, als wenn man ſie vergeßen wollte,
weg zu legen. Denn wo man ſo große Schwierig-
keiten findet, da iſt man allemal auf dem unrechten
Weg, den man doch fuͤr den rechten haͤlt. Alſo iſt
das Beſte, daß man ſich aus dieſer falſchen Faßung
oder Stellung herausſetze. Ein dunkler Begriff
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Erf
deſſen, was man ſucht, bleibt deswegen doch immer
dunkel in unſrer Vorſtellung; allmaͤhlig nimmt die
Sache eine andre Wendung, und mit angenehmer
Verwunderung erfaͤhrt man nachher, daß das,
was man durch großes Beſtreben nicht hat ſinden
koͤnnen, ſich von ſelbſt auf die natuͤrlichſte Weiſe
darbietet.

Es iſt eine anmerkungswuͤrdige Sache, und ge-
hoͤrt unter die andern pſychologiſchen Geheimniſſe,
daß bisweilen gewiſſe Gedanken, wenn man die
groͤßte Aufmerkſamkeit darauf richtet, ſich dennoch
nicht wollen entwikeln oder klar faßen laſſen; lange
hernach aber ſich von ſelbſt, und wenn man es nicht
ſucht, in großer Deutlichkeit darſtellen, ſo daß es
das Anſehen hat, als wenn ſie in der Zwiſchenzeit, wie
eine Pflanze, unbemerkt fortgewachſen waͤren und nun
auf einmal in ihrer voͤlligen Entwiklung und Bluͤthe
daſtuͤhnden. Mancher Begriff wird allmaͤhlig reiff
in uns, und loͤſet ſich dann gleichſam von ſelbſt von
der Maſſe der dunkeln Vorſtellungen ab und faͤllt
ans Licht hervor. Auf dergleichen gluͤklichen Aeuſſe-
rungen des Genies muß ſich jeder Kuͤnſtler auch ver-
laſſen, und wenn er nicht allemal finden kann, was
er mit Fleiß ſucht, mit Geduld den Zeitpunkt der
Reiffe ſeiner Gedanken abwarten.

Man rechnet oft auch die Wahl und Anordnung
der Theile noch zur Erfindung des Werks: es iſt
aber von dieſen Stuͤken der Kunſt beſonders geſpro-
chen worden. Durch die Erfindung im eigentlichſten
Verſtande werden nur die Theile herbey geſchaft,
und oft viel mehr, als noͤthig ſind. Durch die
Wahl werden die ſchiklichſten ausgeſucht und die
uͤbrigen verworfen, und durch die Anordnung wer-
den ſie zum beſten Ganzen verbunden.

Es ſcheinet noch hieher zu gehoͤren, daß von
Beurtheilung der Erfindungen geſprochen werde.
Nach dem oben feſtgeſetzten Begriff beſteht die Er-
findung allemal in Ausdenkung der Mittel, die zum
Zwek fuͤhren, oder in der guten Anwendung einer
ſchon vorhandenen Sache zu einem beſtimmten
Zwek. Es muß alſo in jedem guten Werk der
Kunſt ein Zwek zum Grund liegen, durch welchen
alles vorhandene beſtimmt worden iſt. Wo kein
Zwek zu entdeken iſt, da laͤßt ſich auch von der Er-
findung nicht urtheilen. Jn der That trift man
auch oft Werke der Kunſt an, deren Urheber ſelbſt
keinen beſtimmten Zwek moͤgen gehabt haben, in
denen folglich gar keine Erfindung liegt; die Theile

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[339/0351] Erf Erf zudruͤken: Wer dieſes bemerkt, macht durch Nach- ahmung eine Erfindung. Eben ſo leicht kann man auf neue Erfindungen kommen, wenn man bey ſchon vorhandenen Wer- ken einige Hauptumſtaͤnde weglaͤßt, oder andre Hauptumſtaͤnde hinzuthut, oder wenn man mit Beybehaltung des Hauptinhalts und des Geiſtes der Vorſtellung einen andern Stoff waͤhlet. So hat mancher dramatiſche Dichter den Geiſt, oder den Haupteindruk ſeines Drama von einem andern genommen, und eine neue Fabel dazu erdacht; wie Voltaire, der das, was Shakesſpear in der Fabel des Hamlots vorgeſtellt, in die Fabel der Semiramis eingekleidet hat. Alſo ſind gar vielerley Wege zu Erfindungen in den Kuͤnſten zu gelangen, dazu, auſſer den Talenten, die von der Natur gegeben werden, ein unaufhoͤrli- ches Studium der Kunſt und der ſchon vorhandenen Werke derſelben, das Hauptſaͤchlichſte beytraͤgt. Was bis hieher von der Erfindung geſagt wor- den, betrift den Hauptſtoff, oder die Materie im Ganzen betrachtet, es kann aber jedes auch auf die Erfindung einzeler Theile angewendet werden. Jeder Haupttheil eines Werks macht doch einiger- maaßen wieder ein Ganzes aus, deſſen beſondere Theile eben wieder ſo erfunden werden, wie die Haupttheile ſelbſt aus Betrachtung des Ganzen er- funden worden. Ohne Zweifel kommen dem Kuͤnſt- ler Faͤlle vor, wo ihm die Erfindung einzeler Theile ſo ſchweer wird, als die Erfindung des Ganzen, und wo der Mangel eines kleinen ſchiklichen Thei- les das ganze Werk aufhaͤlt. Da iſt ihm zu ra- then, nur nicht aͤngſtlich zu ſeyn und ſich Zeit zu nehmen. Die Erfindung laͤßt ſich nicht erzwingen, und gelingt oft durch die ernſtlichſten Beſtrebungen am wenigſten. Man weiß die Geſchichte des Nea- lies, (*) der mit ſeinem ganzen Gemaͤhlde fertig war, bis auf den Schaum, den er an dem Maule des Pferdes ausdruͤken ſollte. Aber man iſt nicht allemal ſo gluͤklich, wie er war. Das Beſte hiebey iſt, den Schwierigkeiten nachzugeben, nichts erzwin- gen zu wollen, und von der Arbeit zu gehen, ſie ſo gar eine Zeitlang, als wenn man ſie vergeßen wollte, weg zu legen. Denn wo man ſo große Schwierig- keiten findet, da iſt man allemal auf dem unrechten Weg, den man doch fuͤr den rechten haͤlt. Alſo iſt das Beſte, daß man ſich aus dieſer falſchen Faßung oder Stellung herausſetze. Ein dunkler Begriff deſſen, was man ſucht, bleibt deswegen doch immer dunkel in unſrer Vorſtellung; allmaͤhlig nimmt die Sache eine andre Wendung, und mit angenehmer Verwunderung erfaͤhrt man nachher, daß das, was man durch großes Beſtreben nicht hat ſinden koͤnnen, ſich von ſelbſt auf die natuͤrlichſte Weiſe darbietet. (*) Hiſt. Nat. L. XXXV. 10. Es iſt eine anmerkungswuͤrdige Sache, und ge- hoͤrt unter die andern pſychologiſchen Geheimniſſe, daß bisweilen gewiſſe Gedanken, wenn man die groͤßte Aufmerkſamkeit darauf richtet, ſich dennoch nicht wollen entwikeln oder klar faßen laſſen; lange hernach aber ſich von ſelbſt, und wenn man es nicht ſucht, in großer Deutlichkeit darſtellen, ſo daß es das Anſehen hat, als wenn ſie in der Zwiſchenzeit, wie eine Pflanze, unbemerkt fortgewachſen waͤren und nun auf einmal in ihrer voͤlligen Entwiklung und Bluͤthe daſtuͤhnden. Mancher Begriff wird allmaͤhlig reiff in uns, und loͤſet ſich dann gleichſam von ſelbſt von der Maſſe der dunkeln Vorſtellungen ab und faͤllt ans Licht hervor. Auf dergleichen gluͤklichen Aeuſſe- rungen des Genies muß ſich jeder Kuͤnſtler auch ver- laſſen, und wenn er nicht allemal finden kann, was er mit Fleiß ſucht, mit Geduld den Zeitpunkt der Reiffe ſeiner Gedanken abwarten. Man rechnet oft auch die Wahl und Anordnung der Theile noch zur Erfindung des Werks: es iſt aber von dieſen Stuͤken der Kunſt beſonders geſpro- chen worden. Durch die Erfindung im eigentlichſten Verſtande werden nur die Theile herbey geſchaft, und oft viel mehr, als noͤthig ſind. Durch die Wahl werden die ſchiklichſten ausgeſucht und die uͤbrigen verworfen, und durch die Anordnung wer- den ſie zum beſten Ganzen verbunden. Es ſcheinet noch hieher zu gehoͤren, daß von Beurtheilung der Erfindungen geſprochen werde. Nach dem oben feſtgeſetzten Begriff beſteht die Er- findung allemal in Ausdenkung der Mittel, die zum Zwek fuͤhren, oder in der guten Anwendung einer ſchon vorhandenen Sache zu einem beſtimmten Zwek. Es muß alſo in jedem guten Werk der Kunſt ein Zwek zum Grund liegen, durch welchen alles vorhandene beſtimmt worden iſt. Wo kein Zwek zu entdeken iſt, da laͤßt ſich auch von der Er- findung nicht urtheilen. Jn der That trift man auch oft Werke der Kunſt an, deren Urheber ſelbſt keinen beſtimmten Zwek moͤgen gehabt haben, in denen folglich gar keine Erfindung liegt; die Theile ſind U u 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/351>, abgerufen am 22.11.2024.