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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Erd

Nur eine reiche Phantasie, mit viel Witz und
einer bestimmten und herrschenden Laune, kann in
dieser Art glüklich seyn; denn sie gränzt sehr nahe
ans Abgeschmakte. Wer sich einbildet, daß eine
ausschweiffende, träumerische Phantasie allein hin-
länglich hiezu sey, der irret sehr. Man muß doch
Genie genug haben, dem erdichteten Wesen eine
Natur zu geben, die sich überall in so viel besondern
Fällen und Umständen auf ihre eigene Art äussert.
Jn einzeln Fällen kann diese Gattung zur ordentli-
chen Allegorie werden, von deren Würkung und
Gebrauch an seinem Ort ist gesprochen worden.

Diese Erdichtungen tragen allemal das Gepräge
des Charakters und Temperaments der Dichter.
Die allegorischen Personen der Griechen zeigen
überall den natürlichen, freyen, anmuthigen, aber
auch bisweilen großen und heftigen Charakter dieses
Volks; ihre Götter sind erhöhte griechische Men-
schen. Die Erdichtungen der melancholischen Ae-
gypter und Jndianer sind melancholisch, häßlich und
ausschweiffend. Von ihnen kommen die ausschweif-
fenden Erdichtungen der ungeheuren Götter, und
der gehörnten Teufel her. Aus ihrer Mythologie
haben unsre Mahler die traurigen und zugleich gro-
tesken Bilder der höllischen Geister beybehalten.
Zum Glük für die Dichtkunst hat Miltons zwar
ernsthaftes, aber schönes Genie, die abentheuerli-
chen orientalischen Teufel in ausgeartete Engel
verwandelt.

Eine genaue Betrachtung verdienen die Erdich-
tungen der dritten Art, besonders, wenn sie auf
ernsthafte Gegenstände, den Zustand der Menschen
nach dem Tod, und überhaupt seine Verbindungen
mit der unsichtbaren Geisterwelt, angewendet wer-
den. Jedes Volk, das einige Begriffe von diesen
wichtigen Beziehungen des Menschen gehabt, hat
dieselben durch eigene Erdichtungen sinnlich zu ma-
chen gesucht. Es war leicht zu merken, daß blos
allgemeine und abgezogene Begriffe davon nicht hin-
länglich auf die Gemüther würkten; deswegen haben
die Dichter aller Völker, die von diesen Dingen
einige Begriffe gehabt, sie durch Erdichtungen sinn-
lich zu machen gesucht.

Abgezogene Begriffe von der allgemeinen Auf-
sicht, unter welcher die ganze Schöpfung steht, von
dem guten und bösen Schiksal der Menschen nach
dem Tode, haben fast gar keine Würkung auf die
Gemüther. Nichts kann demnach wichtiger seyn
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als Erdichtungen, wodurch diese Begriffe nicht nur
durch ihre Sinnlichkeit faßlich, sondern auch zugleich
einleuchtend werden. Ein glükliches System sol-
cher Erdichtungen wär für die Religion des gemei-
nen Mannes unendlich besser, als das beste System
abgezogener Glaubenslehren, und als die subtileste
Schultheologie.

Klopstok scheinet ein solches System ausgedacht
zu haben; aber es ist nicht popular. Es setzet
durch den Reichthum und den Glanz der Erdichtun-
gen in Bewunderung, müßte aber unendlich einfa-
cher seyn, um allgemein nützlich zu werden. Der
Urheber und die ersten Verbreiter der christlichen
Religion haben eine sehr gute Anlage zu einem sol-
chen System gegeben; und es ist zu wünschen, daß
ein Dichter aufstehe, der das Sinnliche des christli-
chen Glaubens mit der Faßlichkeit und Anmuthig-
keit, mit der Homer die Theologie seiner Zeit in
seine Gedichte eingewebt hat, in ein schönes epi-
sches Gedicht einwebte. Noch scheinet das, was
Bodmer in der Noachide hier und da von Erdichtun-
gen dieser Art hat, das faßlichste zu seyn, aber da-
bey ist das System noch zu unvollständig.

Jn einigen einzeln Stüken solcher Erdichtungen
ist Klopstok überaus glüklich gewesen; und man
kann unter andern seine Beschreibung von dem Tod
Jschariots im VII Gesang, für ein großes Meister-
stük dieser Art halten. Hätte dieser große Dichter
bey der Meßiade sein Hauptaugenmerk auf ein sol-
ches sinnliches System gerichtet, und hätte er we-
niger auf gewisse Lehren der dogmatischen Theologie
gesehen, so würde die Religion unendlich mehr da-
bey gewonnen haben. Doch hätte er das sonst bewun-
drungswürdige Feuer, und den erstaunlichen Reich-
thum seiner Phantasie um ein merkliches mäßigen
müssen. Es ist zu befürchten, daß auch das Gedicht,
was Lavater angekündiget hat, eben so wenig von
allgemeinem Nutzen seyn werde. Jn Werken, die
für ganze Völket bestimmt sind, muß Einfalt herr-
schen. Jeder gemeine Griech konnte alles, was
Homer vom Olympus, vom Tartarus und von Ely-
sium sagt, ohne Müh begreifen.

Erfindung.
(Schöne Künste.)

Man ist fast durchgehends gewohnt mit diesem
Wort einen zu eingeschränkten Begriff zu verbinden,
und nur diejenigen Dinge Erfindungen zu nennen,

wodurch
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Erd

Nur eine reiche Phantaſie, mit viel Witz und
einer beſtimmten und herrſchenden Laune, kann in
dieſer Art gluͤklich ſeyn; denn ſie graͤnzt ſehr nahe
ans Abgeſchmakte. Wer ſich einbildet, daß eine
ausſchweiffende, traͤumeriſche Phantaſie allein hin-
laͤnglich hiezu ſey, der irret ſehr. Man muß doch
Genie genug haben, dem erdichteten Weſen eine
Natur zu geben, die ſich uͤberall in ſo viel beſondern
Faͤllen und Umſtaͤnden auf ihre eigene Art aͤuſſert.
Jn einzeln Faͤllen kann dieſe Gattung zur ordentli-
chen Allegorie werden, von deren Wuͤrkung und
Gebrauch an ſeinem Ort iſt geſprochen worden.

Dieſe Erdichtungen tragen allemal das Gepraͤge
des Charakters und Temperaments der Dichter.
Die allegoriſchen Perſonen der Griechen zeigen
uͤberall den natuͤrlichen, freyen, anmuthigen, aber
auch bisweilen großen und heftigen Charakter dieſes
Volks; ihre Goͤtter ſind erhoͤhte griechiſche Men-
ſchen. Die Erdichtungen der melancholiſchen Ae-
gypter und Jndianer ſind melancholiſch, haͤßlich und
ausſchweiffend. Von ihnen kommen die ausſchweif-
fenden Erdichtungen der ungeheuren Goͤtter, und
der gehoͤrnten Teufel her. Aus ihrer Mythologie
haben unſre Mahler die traurigen und zugleich gro-
tesken Bilder der hoͤlliſchen Geiſter beybehalten.
Zum Gluͤk fuͤr die Dichtkunſt hat Miltons zwar
ernſthaftes, aber ſchoͤnes Genie, die abentheuerli-
chen orientaliſchen Teufel in ausgeartete Engel
verwandelt.

Eine genaue Betrachtung verdienen die Erdich-
tungen der dritten Art, beſonders, wenn ſie auf
ernſthafte Gegenſtaͤnde, den Zuſtand der Menſchen
nach dem Tod, und uͤberhaupt ſeine Verbindungen
mit der unſichtbaren Geiſterwelt, angewendet wer-
den. Jedes Volk, das einige Begriffe von dieſen
wichtigen Beziehungen des Menſchen gehabt, hat
dieſelben durch eigene Erdichtungen ſinnlich zu ma-
chen geſucht. Es war leicht zu merken, daß blos
allgemeine und abgezogene Begriffe davon nicht hin-
laͤnglich auf die Gemuͤther wuͤrkten; deswegen haben
die Dichter aller Voͤlker, die von dieſen Dingen
einige Begriffe gehabt, ſie durch Erdichtungen ſinn-
lich zu machen geſucht.

Abgezogene Begriffe von der allgemeinen Auf-
ſicht, unter welcher die ganze Schoͤpfung ſteht, von
dem guten und boͤſen Schikſal der Menſchen nach
dem Tode, haben faſt gar keine Wuͤrkung auf die
Gemuͤther. Nichts kann demnach wichtiger ſeyn
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Erd Erf
als Erdichtungen, wodurch dieſe Begriffe nicht nur
durch ihre Sinnlichkeit faßlich, ſondern auch zugleich
einleuchtend werden. Ein gluͤkliches Syſtem ſol-
cher Erdichtungen waͤr fuͤr die Religion des gemei-
nen Mannes unendlich beſſer, als das beſte Syſtem
abgezogener Glaubenslehren, und als die ſubtileſte
Schultheologie.

Klopſtok ſcheinet ein ſolches Syſtem ausgedacht
zu haben; aber es iſt nicht popular. Es ſetzet
durch den Reichthum und den Glanz der Erdichtun-
gen in Bewunderung, muͤßte aber unendlich einfa-
cher ſeyn, um allgemein nuͤtzlich zu werden. Der
Urheber und die erſten Verbreiter der chriſtlichen
Religion haben eine ſehr gute Anlage zu einem ſol-
chen Syſtem gegeben; und es iſt zu wuͤnſchen, daß
ein Dichter aufſtehe, der das Sinnliche des chriſtli-
chen Glaubens mit der Faßlichkeit und Anmuthig-
keit, mit der Homer die Theologie ſeiner Zeit in
ſeine Gedichte eingewebt hat, in ein ſchoͤnes epi-
ſches Gedicht einwebte. Noch ſcheinet das, was
Bodmer in der Noachide hier und da von Erdichtun-
gen dieſer Art hat, das faßlichſte zu ſeyn, aber da-
bey iſt das Syſtem noch zu unvollſtaͤndig.

Jn einigen einzeln Stuͤken ſolcher Erdichtungen
iſt Klopſtok uͤberaus gluͤklich geweſen; und man
kann unter andern ſeine Beſchreibung von dem Tod
Jſchariots im VII Geſang, fuͤr ein großes Meiſter-
ſtuͤk dieſer Art halten. Haͤtte dieſer große Dichter
bey der Meßiade ſein Hauptaugenmerk auf ein ſol-
ches ſinnliches Syſtem gerichtet, und haͤtte er we-
niger auf gewiſſe Lehren der dogmatiſchen Theologie
geſehen, ſo wuͤrde die Religion unendlich mehr da-
bey gewonnen haben. Doch haͤtte er das ſonſt bewun-
drungswuͤrdige Feuer, und den erſtaunlichen Reich-
thum ſeiner Phantaſie um ein merkliches maͤßigen
muͤſſen. Es iſt zu befuͤrchten, daß auch das Gedicht,
was Lavater angekuͤndiget hat, eben ſo wenig von
allgemeinem Nutzen ſeyn werde. Jn Werken, die
fuͤr ganze Voͤlket beſtimmt ſind, muß Einfalt herr-
ſchen. Jeder gemeine Griech konnte alles, was
Homer vom Olympus, vom Tartarus und von Ely-
ſium ſagt, ohne Muͤh begreifen.

Erfindung.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Man iſt faſt durchgehends gewohnt mit dieſem
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und nur diejenigen Dinge Erfindungen zu nennen,

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[333/0345] Erd Erd Erf Nur eine reiche Phantaſie, mit viel Witz und einer beſtimmten und herrſchenden Laune, kann in dieſer Art gluͤklich ſeyn; denn ſie graͤnzt ſehr nahe ans Abgeſchmakte. Wer ſich einbildet, daß eine ausſchweiffende, traͤumeriſche Phantaſie allein hin- laͤnglich hiezu ſey, der irret ſehr. Man muß doch Genie genug haben, dem erdichteten Weſen eine Natur zu geben, die ſich uͤberall in ſo viel beſondern Faͤllen und Umſtaͤnden auf ihre eigene Art aͤuſſert. Jn einzeln Faͤllen kann dieſe Gattung zur ordentli- chen Allegorie werden, von deren Wuͤrkung und Gebrauch an ſeinem Ort iſt geſprochen worden. Dieſe Erdichtungen tragen allemal das Gepraͤge des Charakters und Temperaments der Dichter. Die allegoriſchen Perſonen der Griechen zeigen uͤberall den natuͤrlichen, freyen, anmuthigen, aber auch bisweilen großen und heftigen Charakter dieſes Volks; ihre Goͤtter ſind erhoͤhte griechiſche Men- ſchen. Die Erdichtungen der melancholiſchen Ae- gypter und Jndianer ſind melancholiſch, haͤßlich und ausſchweiffend. Von ihnen kommen die ausſchweif- fenden Erdichtungen der ungeheuren Goͤtter, und der gehoͤrnten Teufel her. Aus ihrer Mythologie haben unſre Mahler die traurigen und zugleich gro- tesken Bilder der hoͤlliſchen Geiſter beybehalten. Zum Gluͤk fuͤr die Dichtkunſt hat Miltons zwar ernſthaftes, aber ſchoͤnes Genie, die abentheuerli- chen orientaliſchen Teufel in ausgeartete Engel verwandelt. Eine genaue Betrachtung verdienen die Erdich- tungen der dritten Art, beſonders, wenn ſie auf ernſthafte Gegenſtaͤnde, den Zuſtand der Menſchen nach dem Tod, und uͤberhaupt ſeine Verbindungen mit der unſichtbaren Geiſterwelt, angewendet wer- den. Jedes Volk, das einige Begriffe von dieſen wichtigen Beziehungen des Menſchen gehabt, hat dieſelben durch eigene Erdichtungen ſinnlich zu ma- chen geſucht. Es war leicht zu merken, daß blos allgemeine und abgezogene Begriffe davon nicht hin- laͤnglich auf die Gemuͤther wuͤrkten; deswegen haben die Dichter aller Voͤlker, die von dieſen Dingen einige Begriffe gehabt, ſie durch Erdichtungen ſinn- lich zu machen geſucht. Abgezogene Begriffe von der allgemeinen Auf- ſicht, unter welcher die ganze Schoͤpfung ſteht, von dem guten und boͤſen Schikſal der Menſchen nach dem Tode, haben faſt gar keine Wuͤrkung auf die Gemuͤther. Nichts kann demnach wichtiger ſeyn als Erdichtungen, wodurch dieſe Begriffe nicht nur durch ihre Sinnlichkeit faßlich, ſondern auch zugleich einleuchtend werden. Ein gluͤkliches Syſtem ſol- cher Erdichtungen waͤr fuͤr die Religion des gemei- nen Mannes unendlich beſſer, als das beſte Syſtem abgezogener Glaubenslehren, und als die ſubtileſte Schultheologie. Klopſtok ſcheinet ein ſolches Syſtem ausgedacht zu haben; aber es iſt nicht popular. Es ſetzet durch den Reichthum und den Glanz der Erdichtun- gen in Bewunderung, muͤßte aber unendlich einfa- cher ſeyn, um allgemein nuͤtzlich zu werden. Der Urheber und die erſten Verbreiter der chriſtlichen Religion haben eine ſehr gute Anlage zu einem ſol- chen Syſtem gegeben; und es iſt zu wuͤnſchen, daß ein Dichter aufſtehe, der das Sinnliche des chriſtli- chen Glaubens mit der Faßlichkeit und Anmuthig- keit, mit der Homer die Theologie ſeiner Zeit in ſeine Gedichte eingewebt hat, in ein ſchoͤnes epi- ſches Gedicht einwebte. Noch ſcheinet das, was Bodmer in der Noachide hier und da von Erdichtun- gen dieſer Art hat, das faßlichſte zu ſeyn, aber da- bey iſt das Syſtem noch zu unvollſtaͤndig. Jn einigen einzeln Stuͤken ſolcher Erdichtungen iſt Klopſtok uͤberaus gluͤklich geweſen; und man kann unter andern ſeine Beſchreibung von dem Tod Jſchariots im VII Geſang, fuͤr ein großes Meiſter- ſtuͤk dieſer Art halten. Haͤtte dieſer große Dichter bey der Meßiade ſein Hauptaugenmerk auf ein ſol- ches ſinnliches Syſtem gerichtet, und haͤtte er we- niger auf gewiſſe Lehren der dogmatiſchen Theologie geſehen, ſo wuͤrde die Religion unendlich mehr da- bey gewonnen haben. Doch haͤtte er das ſonſt bewun- drungswuͤrdige Feuer, und den erſtaunlichen Reich- thum ſeiner Phantaſie um ein merkliches maͤßigen muͤſſen. Es iſt zu befuͤrchten, daß auch das Gedicht, was Lavater angekuͤndiget hat, eben ſo wenig von allgemeinem Nutzen ſeyn werde. Jn Werken, die fuͤr ganze Voͤlket beſtimmt ſind, muß Einfalt herr- ſchen. Jeder gemeine Griech konnte alles, was Homer vom Olympus, vom Tartarus und von Ely- ſium ſagt, ohne Muͤh begreifen. Erfindung. (Schoͤne Kuͤnſte.) Man iſt faſt durchgehends gewohnt mit dieſem Wort einen zu eingeſchraͤnkten Begriff zu verbinden, und nur diejenigen Dinge Erfindungen zu nennen, wodurch T t 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/345>, abgerufen am 22.11.2024.