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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Epi Epo
einem Ton in einen andern sehr gegen ihm abfte-
chenden herüber gehen, ohne das Gehör durch einen
dazwischen liegenden geführt zu haben, der das Ge-
fühl des erstern schwächet, und dadurch zu dem fol-
genden vorbereitet.

Es würde aber sehr unschiklich seyn, wenn die
Materie der Episode der Hauptmaterie ganz fremd
wäre: sie muß eine genaue Beziehung auf die
Hauptsache haben, und recht zu gelegener Zeit kom-
men. Sie muß in den Charakter der Hauptsache
hineinpaßen, und etwas enthalten, wodurch die
Hauptvorstellung gewinnt, oder besonders einige Er-
läuterung bekommt, die sonst nicht wol schiklich hätte
können angebracht werden. Dadurch werden die Epi-
soden so genau in den Stoff der Handlung einge-
webt, daß man sie ohne Schaden nicht heraus neh-
men könnte.

Epodos.
(Dichtkunst.)

Ein griechischer Name, der gewissen Versen oder
auch ganzen Gedichten gegeben wird. So finden
wir in den Gedichten des Horaz ein ganzes Buch,
welches das Buch der Epoden genennt wird. Das
Wort scheinet überhaupt etwas zu bedeuten, das
als ein Zusatz zu den vorhergehenden Versen gehört.
Einige Oden des Pindars, und viel Oden in den
Chören der griechischen Trauerspielen, sind so ein-
gerichtet, daß erst eine Strophe kommt, die ver-
muthlich von einem Theil des Chors, oder einer
Person gesungen worden; auf diese folget eine in der
Versart ihr vollkommen ähnliche Strophe, die ohne
Zweifel von dem andern Theil des Chors oder einer
andern Person gesungen, und Antistrophe genennt
worden. Geht nun die Ode noch weiter, ohne daß
wieder der erste Theil des Chors, eine der ersten
ähnliche Strophe singt; so folget ein dritter Satz,
als der Schluß, welcher wieder seine eigene Versart
und folglich seine eigene Melodie hat, und vielleicht
vom ganzen Chor ist gesungen worden. Dieser
Satz heißt Epodos. Eine solche Ode wurd von den
Alten Epodica, ein epodischer Gesang genennt.

Daher haben vermuthlich auch diejenigen Oden
den Namen der epodischen Oden bekommen, welche,
wie die horazischen Epoden, nach einem längern
sechsfüßigen jambischen Vers, einen kleinern vier-
füßigen zum Schluß des Metri haben. 'O#,
sagt der Grammaticus Hephästion #
[Spaltenumbruch]

Epo Erd
#. Wenn einem längern
Vers noch etwas
(ein kleinerer) übriges, unglei-
ches hinzugethan wird.
Er erläutert solches durch
folgendes Beyspiel aus einer Ode des Archilochus
auf den Lycambes.

#

Von diesen beyden Versen, welche das Metrum der
Ode ausmachen, ist der erste der Hauptvers, der
andre aber das hinzugekommene, oder das Epodos,
welches den Sinn des Distichons endet; daher eine
Ode, welche aus diesem Metro besteht, eine epodische
Ode genennt wird. Und so sind die Epoden des
Horaz. Der angeführte griechische Dichter scheinet
zuerst solche Oden gemacht zu haben; und da er
sie meistentheils zur Beschimpfung und Bescheltung
des Lycambes gemacht hat, der ihm seine Tochter
zur Ehe verweigert hatte, so hat auch Horaz seinen
Epoden meist den scheltenden Ton gegeben.

Erdichtung.
(Schöne Künste.)

Jst eigentlich jede Vorstellung des möglichen, als
ob es würklich wäre; hier aber werden nur dieje-
nigen Erdichtungen betrachtet, von denen auch bis-
weilen der Mahler den Namen des Dichters be-
kommt. Jm allgemeinen Sinn ist jeder Mensch
ein Dichter, aber nur der, welcher vorzügliche Ge-
schiklichkeit hat, Erdichtungen von einiger Wichtig-
keit zu machen, die auf die Vorstellungs-und die
Begehrungskräfte mit großem Vortheil würken, ist
ein wahrer Dichter.

Die Dichtungskraft ist, wie die Einbildungskraft,
eine der natürlichen Fähigkeiten des Menschen: (*)(*) S.
Dichtung[s]-
kraft.

ihr Werk, oder ihr Geschöpf ist die Erdichtung, von
deren Gebrauch in den schönen Künsten, in dem
angeführten Artikel, überhaupt ist gesprochen wor-
den. Hier wird die nähere Beschaffenheit der Er-
dichtungen, nach der Verschiedenheit ihres Endzweks,
zu betrachten seyn.

Sie scheinen überhaupt von dreyerley Art zu
seyn. Man kann etwas erdichten, das dem ge-
wöhnlichen Lauf der Natur gemäß, und von dem
was würklich geschieht blos darin unterschieden ist,
daß ihm das historische Zeugniß seiner Würklichkeit
fehlt. Von dieser Art ist der gewöhnliche Stoff des
epischen und des dramatischen Gedichts, der würk-

liche
T t 2

[Spaltenumbruch]

Epi Epo
einem Ton in einen andern ſehr gegen ihm abfte-
chenden heruͤber gehen, ohne das Gehoͤr durch einen
dazwiſchen liegenden gefuͤhrt zu haben, der das Ge-
fuͤhl des erſtern ſchwaͤchet, und dadurch zu dem fol-
genden vorbereitet.

Es wuͤrde aber ſehr unſchiklich ſeyn, wenn die
Materie der Epiſode der Hauptmaterie ganz fremd
waͤre: ſie muß eine genaue Beziehung auf die
Hauptſache haben, und recht zu gelegener Zeit kom-
men. Sie muß in den Charakter der Hauptſache
hineinpaßen, und etwas enthalten, wodurch die
Hauptvorſtellung gewinnt, oder beſonders einige Er-
laͤuterung bekommt, die ſonſt nicht wol ſchiklich haͤtte
koͤnnen angebracht werden. Dadurch werden die Epi-
ſoden ſo genau in den Stoff der Handlung einge-
webt, daß man ſie ohne Schaden nicht heraus neh-
men koͤnnte.

Epodos.
(Dichtkunſt.)

Ein griechiſcher Name, der gewiſſen Verſen oder
auch ganzen Gedichten gegeben wird. So finden
wir in den Gedichten des Horaz ein ganzes Buch,
welches das Buch der Epoden genennt wird. Das
Wort ſcheinet uͤberhaupt etwas zu bedeuten, das
als ein Zuſatz zu den vorhergehenden Verſen gehoͤrt.
Einige Oden des Pindars, und viel Oden in den
Choͤren der griechiſchen Trauerſpielen, ſind ſo ein-
gerichtet, daß erſt eine Strophe kommt, die ver-
muthlich von einem Theil des Chors, oder einer
Perſon geſungen worden; auf dieſe folget eine in der
Versart ihr vollkommen aͤhnliche Strophe, die ohne
Zweifel von dem andern Theil des Chors oder einer
andern Perſon geſungen, und Antiſtrophe genennt
worden. Geht nun die Ode noch weiter, ohne daß
wieder der erſte Theil des Chors, eine der erſten
aͤhnliche Strophe ſingt; ſo folget ein dritter Satz,
als der Schluß, welcher wieder ſeine eigene Versart
und folglich ſeine eigene Melodie hat, und vielleicht
vom ganzen Chor iſt geſungen worden. Dieſer
Satz heißt Epodos. Eine ſolche Ode wurd von den
Alten Epodica, ein epodiſcher Geſang genennt.

Daher haben vermuthlich auch diejenigen Oden
den Namen der epodiſchen Oden bekommen, welche,
wie die horaziſchen Epoden, nach einem laͤngern
ſechsfuͤßigen jambiſchen Vers, einen kleinern vier-
fuͤßigen zum Schluß des Metri haben. ’O#,
ſagt der Grammaticus Hephaͤſtion #
[Spaltenumbruch]

Epo Erd
#. Wenn einem laͤngern
Vers noch etwas
(ein kleinerer) uͤbriges, unglei-
ches hinzugethan wird.
Er erlaͤutert ſolches durch
folgendes Beyſpiel aus einer Ode des Archilochus
auf den Lycambes.

#

Von dieſen beyden Verſen, welche das Metrum der
Ode ausmachen, iſt der erſte der Hauptvers, der
andre aber das hinzugekommene, oder das Epodos,
welches den Sinn des Diſtichons endet; daher eine
Ode, welche aus dieſem Metro beſteht, eine epodiſche
Ode genennt wird. Und ſo ſind die Epoden des
Horaz. Der angefuͤhrte griechiſche Dichter ſcheinet
zuerſt ſolche Oden gemacht zu haben; und da er
ſie meiſtentheils zur Beſchimpfung und Beſcheltung
des Lycambes gemacht hat, der ihm ſeine Tochter
zur Ehe verweigert hatte, ſo hat auch Horaz ſeinen
Epoden meiſt den ſcheltenden Ton gegeben.

Erdichtung.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Jſt eigentlich jede Vorſtellung des moͤglichen, als
ob es wuͤrklich waͤre; hier aber werden nur dieje-
nigen Erdichtungen betrachtet, von denen auch bis-
weilen der Mahler den Namen des Dichters be-
kommt. Jm allgemeinen Sinn iſt jeder Menſch
ein Dichter, aber nur der, welcher vorzuͤgliche Ge-
ſchiklichkeit hat, Erdichtungen von einiger Wichtig-
keit zu machen, die auf die Vorſtellungs-und die
Begehrungskraͤfte mit großem Vortheil wuͤrken, iſt
ein wahrer Dichter.

Die Dichtungskraft iſt, wie die Einbildungskraft,
eine der natuͤrlichen Faͤhigkeiten des Menſchen: (*)(*) S.
Dichtung[s]-
kraft.

ihr Werk, oder ihr Geſchoͤpf iſt die Erdichtung, von
deren Gebrauch in den ſchoͤnen Kuͤnſten, in dem
angefuͤhrten Artikel, uͤberhaupt iſt geſprochen wor-
den. Hier wird die naͤhere Beſchaffenheit der Er-
dichtungen, nach der Verſchiedenheit ihres Endzweks,
zu betrachten ſeyn.

Sie ſcheinen uͤberhaupt von dreyerley Art zu
ſeyn. Man kann etwas erdichten, das dem ge-
woͤhnlichen Lauf der Natur gemaͤß, und von dem
was wuͤrklich geſchieht blos darin unterſchieden iſt,
daß ihm das hiſtoriſche Zeugniß ſeiner Wuͤrklichkeit
fehlt. Von dieſer Art iſt der gewoͤhnliche Stoff des
epiſchen und des dramatiſchen Gedichts, der wuͤrk-

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[331/0343] Epi Epo Epo Erd einem Ton in einen andern ſehr gegen ihm abfte- chenden heruͤber gehen, ohne das Gehoͤr durch einen dazwiſchen liegenden gefuͤhrt zu haben, der das Ge- fuͤhl des erſtern ſchwaͤchet, und dadurch zu dem fol- genden vorbereitet. Es wuͤrde aber ſehr unſchiklich ſeyn, wenn die Materie der Epiſode der Hauptmaterie ganz fremd waͤre: ſie muß eine genaue Beziehung auf die Hauptſache haben, und recht zu gelegener Zeit kom- men. Sie muß in den Charakter der Hauptſache hineinpaßen, und etwas enthalten, wodurch die Hauptvorſtellung gewinnt, oder beſonders einige Er- laͤuterung bekommt, die ſonſt nicht wol ſchiklich haͤtte koͤnnen angebracht werden. Dadurch werden die Epi- ſoden ſo genau in den Stoff der Handlung einge- webt, daß man ſie ohne Schaden nicht heraus neh- men koͤnnte. Epodos. (Dichtkunſt.) Ein griechiſcher Name, der gewiſſen Verſen oder auch ganzen Gedichten gegeben wird. So finden wir in den Gedichten des Horaz ein ganzes Buch, welches das Buch der Epoden genennt wird. Das Wort ſcheinet uͤberhaupt etwas zu bedeuten, das als ein Zuſatz zu den vorhergehenden Verſen gehoͤrt. Einige Oden des Pindars, und viel Oden in den Choͤren der griechiſchen Trauerſpielen, ſind ſo ein- gerichtet, daß erſt eine Strophe kommt, die ver- muthlich von einem Theil des Chors, oder einer Perſon geſungen worden; auf dieſe folget eine in der Versart ihr vollkommen aͤhnliche Strophe, die ohne Zweifel von dem andern Theil des Chors oder einer andern Perſon geſungen, und Antiſtrophe genennt worden. Geht nun die Ode noch weiter, ohne daß wieder der erſte Theil des Chors, eine der erſten aͤhnliche Strophe ſingt; ſo folget ein dritter Satz, als der Schluß, welcher wieder ſeine eigene Versart und folglich ſeine eigene Melodie hat, und vielleicht vom ganzen Chor iſt geſungen worden. Dieſer Satz heißt Epodos. Eine ſolche Ode wurd von den Alten Epodica, ein epodiſcher Geſang genennt. Daher haben vermuthlich auch diejenigen Oden den Namen der epodiſchen Oden bekommen, welche, wie die horaziſchen Epoden, nach einem laͤngern ſechsfuͤßigen jambiſchen Vers, einen kleinern vier- fuͤßigen zum Schluß des Metri haben. ’O#, ſagt der Grammaticus Hephaͤſtion # #. Wenn einem laͤngern Vers noch etwas (ein kleinerer) uͤbriges, unglei- ches hinzugethan wird. Er erlaͤutert ſolches durch folgendes Beyſpiel aus einer Ode des Archilochus auf den Lycambes. # Von dieſen beyden Verſen, welche das Metrum der Ode ausmachen, iſt der erſte der Hauptvers, der andre aber das hinzugekommene, oder das Epodos, welches den Sinn des Diſtichons endet; daher eine Ode, welche aus dieſem Metro beſteht, eine epodiſche Ode genennt wird. Und ſo ſind die Epoden des Horaz. Der angefuͤhrte griechiſche Dichter ſcheinet zuerſt ſolche Oden gemacht zu haben; und da er ſie meiſtentheils zur Beſchimpfung und Beſcheltung des Lycambes gemacht hat, der ihm ſeine Tochter zur Ehe verweigert hatte, ſo hat auch Horaz ſeinen Epoden meiſt den ſcheltenden Ton gegeben. Erdichtung. (Schoͤne Kuͤnſte.) Jſt eigentlich jede Vorſtellung des moͤglichen, als ob es wuͤrklich waͤre; hier aber werden nur dieje- nigen Erdichtungen betrachtet, von denen auch bis- weilen der Mahler den Namen des Dichters be- kommt. Jm allgemeinen Sinn iſt jeder Menſch ein Dichter, aber nur der, welcher vorzuͤgliche Ge- ſchiklichkeit hat, Erdichtungen von einiger Wichtig- keit zu machen, die auf die Vorſtellungs-und die Begehrungskraͤfte mit großem Vortheil wuͤrken, iſt ein wahrer Dichter. Die Dichtungskraft iſt, wie die Einbildungskraft, eine der natuͤrlichen Faͤhigkeiten des Menſchen: (*) ihr Werk, oder ihr Geſchoͤpf iſt die Erdichtung, von deren Gebrauch in den ſchoͤnen Kuͤnſten, in dem angefuͤhrten Artikel, uͤberhaupt iſt geſprochen wor- den. Hier wird die naͤhere Beſchaffenheit der Er- dichtungen, nach der Verſchiedenheit ihres Endzweks, zu betrachten ſeyn. (*) S. Dichtungs- kraft. Sie ſcheinen uͤberhaupt von dreyerley Art zu ſeyn. Man kann etwas erdichten, das dem ge- woͤhnlichen Lauf der Natur gemaͤß, und von dem was wuͤrklich geſchieht blos darin unterſchieden iſt, daß ihm das hiſtoriſche Zeugniß ſeiner Wuͤrklichkeit fehlt. Von dieſer Art iſt der gewoͤhnliche Stoff des epiſchen und des dramatiſchen Gedichts, der wuͤrk- liche T t 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/343>, abgerufen am 22.11.2024.