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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ent
fernung würklich, im Gemähld aber ist alles gleich
weit von dem Aug emfernet. Dennoch aber muß
nach Beschaffenheit der Vorstellung eines weit und
das andre nahe scheinen. Die Kunst das Auge in
diesem Stük zu betrügen, und einen Gegenstand
weit von einem andern zurük weichen zu machen,
ist ein wesentlicher Theil der Kunst zu zeichnen und
zu mahlen.

Die Entfernung eines Gegenstandes, so weit näm-
lich das Aug davon urtheilet, wird in der Natur aus
drey Umständen erkennt; aus der scheinbaren Ver-
kleinerung, welche die Entfernung nothwendig mit
sich bringt; aus der Undeutlichkeit der Umrisse, und
aus der Schwäche des Lichts und Schattens.
Ueber den ersten Punkt kann der Mahler, wenn
er sein Werk nach der Natur zeichnet, nicht wol
fehlen. Setzet er aber die Arbeit nach seiner eige-
nen Erfindung zusammen, so muß er die Entfer-
nung der verschiedenen Gründen erst fest setzen, und
hernach jedem Gegenstand die Größe geben, welche
die Regeln der Perspektiv erfodern.

Jn Ansehung des zweyten Punkts müssen zwey
Dinge in Betrachtung gezogen werden. Der Mah-
ler muß nämlich aus der Optik wissen, was für
Theile eines Gegenstandes in einer gegebenen Ent-
fernung noch sichtbar sind, z. E. auf was für eine
Weite man in einem Gesicht die Augen, oder in
einem Haus die Fensterscheiben noch unterscheiden
kann oder nicht. Daraus erkennt er, was für ein-
zele Theile in einer gewissen Entfernung noch anzu-
zeigen sind oder nicht; allein die Hauptbetrachtung
muß von der Beschaffenheit der Luft und der hellen
oder dunklern Farbe des Grundes, der hinter dem
Gegenstand ist, hergenommen werden. Beyde Punkten
erfodern eine nähere Erlauterung.

Jn Gegenden, wo man weit entfernte Gegen-
stände entdekt, wie in bergichten Ländern, hat man
oft Gelegenheit wahrzunehmen, daß nach Beschaf-
fenheit der Luft, entfernte Gegenstände einmal sehr
viel näher, als andere mal scheinen. Bey einer sehr
hellen und harten Luft, die insgemein ein Vorbote
des den Tag darauf kommenden Regens ist, scheinen
die entferntesten Gegenstände, z. E. Berge sehr viel
näher zu seyn, als wenn die Luft voll aufsteigender
Dünste, oder mit einem unsichtbaren Nebel ange-
füllt ist, der alles weich macht. Was man das
eine mal zwey Meilen weit von sich schätzet, er-
scheint im andern Fall gewiß acht Meilen weit.

[Spaltenumbruch]
Ent

Der Mahler hat demnach zuvoderst auf den Ton,
oder den Grad der Duftigkeit, den er der Luft geben
will, acht zu haben. Denn nach diesem richtet sich
die scheinbare Entfernung in Absicht auf die härtere
oder weichere Umrisse, und des schwächern oder stär-
kern Lichts. Je dunkler und lebhafter das Blaue
des Himmels ist, je weniger ist die Luft duftig, und
je härter die Umrisse. Wenn demnach alle Theile
der Landschaft nach ihrer scheinbaren Größe gezeich-
net worden, und der Mahler dabey nöthig findet, die
hintern Theile derselben noch weiter zu entfernen,
als ihre Verjüngung nach der Linienperspektiv mit
sich bringt, so muß er wissen seiner Luft einen duf-
tigen Ton zu geben. Dieses geschieht, wenn er das
Blaue des Himmels stark mit Weißem vermengt, so
daß es besonders gegen dem Horizont zu beynahe
ganz verschwindet. Da nun bey einer solchen Luft
die Umrisse der entferntesten Gegenstände ungewiß
werden, so muß er die weißliche Farbe der Luft über
die schwachen Umrisse der letzten Gegenstände herein-
spielen lassen.

Hiernächst müssen alle Farben der Gegenstände
den Einfluß dieser duftigen Luft fühlen. Jede Farbe
wird undeutlicher als mit einem weißlichten Staub
überstreut. Die Schatten werden überall schwächer.
Was sonst die würkliche Entfernung thäte, das thut
jetzo blos die dichtere Luft zwischen dem Aug und
den Gegenständen. Man weiß, daß so wol durch
die große Entfernung als durch die duftige Luft das
Schwarze bläulicht, und das Bläulichte weiß wird.
Hätte ein Mahler genaue Beobachtungen über die
Einmischung der Farben, welche bemeldte Umstände
in den eigenthümlichen Farben der Körper verursa-
chen, so könnte er jeden Gegenstand nach seiner Ent-
fernung färben.

Gegenstände, die nah am Horizont sind, ver-
lieren so wol die eigenthümliche Farbe, als das Licht
und den Schatten in geringerer Entfernung, als
hohe Gegenstände, welches da Vinci schon angemerkt
hat. Es säßt sich nicht bestimmen, in welcher Ent-
fernung die Körper von jeder Farbe dieselbe ganz
verlieren; weil dieses auf die mehr oder weniger
helle Luft ankommt. Es ist also nothwendig, daß
der Mahler die Natur unaufhörlich zu allen Tages-
zeiten, und in allen Abwechslungen des Wetters
und der Jahrszeiten genau beobachte. Dabey ist
ihm noch zu rathen, die scharfsinnigen Beobachtun-

gen

[Spaltenumbruch]

Ent
fernung wuͤrklich, im Gemaͤhld aber iſt alles gleich
weit von dem Aug emfernet. Dennoch aber muß
nach Beſchaffenheit der Vorſtellung eines weit und
das andre nahe ſcheinen. Die Kunſt das Auge in
dieſem Stuͤk zu betruͤgen, und einen Gegenſtand
weit von einem andern zuruͤk weichen zu machen,
iſt ein weſentlicher Theil der Kunſt zu zeichnen und
zu mahlen.

Die Entfernung eines Gegenſtandes, ſo weit naͤm-
lich das Aug davon urtheilet, wird in der Natur aus
drey Umſtaͤnden erkennt; aus der ſcheinbaren Ver-
kleinerung, welche die Entfernung nothwendig mit
ſich bringt; aus der Undeutlichkeit der Umriſſe, und
aus der Schwaͤche des Lichts und Schattens.
Ueber den erſten Punkt kann der Mahler, wenn
er ſein Werk nach der Natur zeichnet, nicht wol
fehlen. Setzet er aber die Arbeit nach ſeiner eige-
nen Erfindung zuſammen, ſo muß er die Entfer-
nung der verſchiedenen Gruͤnden erſt feſt ſetzen, und
hernach jedem Gegenſtand die Groͤße geben, welche
die Regeln der Perſpektiv erfodern.

Jn Anſehung des zweyten Punkts muͤſſen zwey
Dinge in Betrachtung gezogen werden. Der Mah-
ler muß naͤmlich aus der Optik wiſſen, was fuͤr
Theile eines Gegenſtandes in einer gegebenen Ent-
fernung noch ſichtbar ſind, z. E. auf was fuͤr eine
Weite man in einem Geſicht die Augen, oder in
einem Haus die Fenſterſcheiben noch unterſcheiden
kann oder nicht. Daraus erkennt er, was fuͤr ein-
zele Theile in einer gewiſſen Entfernung noch anzu-
zeigen ſind oder nicht; allein die Hauptbetrachtung
muß von der Beſchaffenheit der Luft und der hellen
oder dunklern Farbe des Grundes, der hinter dem
Gegenſtand iſt, hergenommen werden. Beyde Punkten
erfodern eine naͤhere Erlauterung.

Jn Gegenden, wo man weit entfernte Gegen-
ſtaͤnde entdekt, wie in bergichten Laͤndern, hat man
oft Gelegenheit wahrzunehmen, daß nach Beſchaf-
fenheit der Luft, entfernte Gegenſtaͤnde einmal ſehr
viel naͤher, als andere mal ſcheinen. Bey einer ſehr
hellen und harten Luft, die insgemein ein Vorbote
des den Tag darauf kommenden Regens iſt, ſcheinen
die entfernteſten Gegenſtaͤnde, z. E. Berge ſehr viel
naͤher zu ſeyn, als wenn die Luft voll aufſteigender
Duͤnſte, oder mit einem unſichtbaren Nebel ange-
fuͤllt iſt, der alles weich macht. Was man das
eine mal zwey Meilen weit von ſich ſchaͤtzet, er-
ſcheint im andern Fall gewiß acht Meilen weit.

[Spaltenumbruch]
Ent

Der Mahler hat demnach zuvoderſt auf den Ton,
oder den Grad der Duftigkeit, den er der Luft geben
will, acht zu haben. Denn nach dieſem richtet ſich
die ſcheinbare Entfernung in Abſicht auf die haͤrtere
oder weichere Umriſſe, und des ſchwaͤchern oder ſtaͤr-
kern Lichts. Je dunkler und lebhafter das Blaue
des Himmels iſt, je weniger iſt die Luft duftig, und
je haͤrter die Umriſſe. Wenn demnach alle Theile
der Landſchaft nach ihrer ſcheinbaren Groͤße gezeich-
net worden, und der Mahler dabey noͤthig findet, die
hintern Theile derſelben noch weiter zu entfernen,
als ihre Verjuͤngung nach der Linienperſpektiv mit
ſich bringt, ſo muß er wiſſen ſeiner Luft einen duf-
tigen Ton zu geben. Dieſes geſchieht, wenn er das
Blaue des Himmels ſtark mit Weißem vermengt, ſo
daß es beſonders gegen dem Horizont zu beynahe
ganz verſchwindet. Da nun bey einer ſolchen Luft
die Umriſſe der entfernteſten Gegenſtaͤnde ungewiß
werden, ſo muß er die weißliche Farbe der Luft uͤber
die ſchwachen Umriſſe der letzten Gegenſtaͤnde herein-
ſpielen laſſen.

Hiernaͤchſt muͤſſen alle Farben der Gegenſtaͤnde
den Einfluß dieſer duftigen Luft fuͤhlen. Jede Farbe
wird undeutlicher als mit einem weißlichten Staub
uͤberſtreut. Die Schatten werden uͤberall ſchwaͤcher.
Was ſonſt die wuͤrkliche Entfernung thaͤte, das thut
jetzo blos die dichtere Luft zwiſchen dem Aug und
den Gegenſtaͤnden. Man weiß, daß ſo wol durch
die große Entfernung als durch die duftige Luft das
Schwarze blaͤulicht, und das Blaͤulichte weiß wird.
Haͤtte ein Mahler genaue Beobachtungen uͤber die
Einmiſchung der Farben, welche bemeldte Umſtaͤnde
in den eigenthuͤmlichen Farben der Koͤrper verurſa-
chen, ſo koͤnnte er jeden Gegenſtand nach ſeiner Ent-
fernung faͤrben.

Gegenſtaͤnde, die nah am Horizont ſind, ver-
lieren ſo wol die eigenthuͤmliche Farbe, als das Licht
und den Schatten in geringerer Entfernung, als
hohe Gegenſtaͤnde, welches da Vinci ſchon angemerkt
hat. Es ſaͤßt ſich nicht beſtimmen, in welcher Ent-
fernung die Koͤrper von jeder Farbe dieſelbe ganz
verlieren; weil dieſes auf die mehr oder weniger
helle Luft ankommt. Es iſt alſo nothwendig, daß
der Mahler die Natur unaufhoͤrlich zu allen Tages-
zeiten, und in allen Abwechslungen des Wetters
und der Jahrszeiten genau beobachte. Dabey iſt
ihm noch zu rathen, die ſcharfſinnigen Beobachtun-

gen
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[324/0336] Ent Ent fernung wuͤrklich, im Gemaͤhld aber iſt alles gleich weit von dem Aug emfernet. Dennoch aber muß nach Beſchaffenheit der Vorſtellung eines weit und das andre nahe ſcheinen. Die Kunſt das Auge in dieſem Stuͤk zu betruͤgen, und einen Gegenſtand weit von einem andern zuruͤk weichen zu machen, iſt ein weſentlicher Theil der Kunſt zu zeichnen und zu mahlen. Die Entfernung eines Gegenſtandes, ſo weit naͤm- lich das Aug davon urtheilet, wird in der Natur aus drey Umſtaͤnden erkennt; aus der ſcheinbaren Ver- kleinerung, welche die Entfernung nothwendig mit ſich bringt; aus der Undeutlichkeit der Umriſſe, und aus der Schwaͤche des Lichts und Schattens. Ueber den erſten Punkt kann der Mahler, wenn er ſein Werk nach der Natur zeichnet, nicht wol fehlen. Setzet er aber die Arbeit nach ſeiner eige- nen Erfindung zuſammen, ſo muß er die Entfer- nung der verſchiedenen Gruͤnden erſt feſt ſetzen, und hernach jedem Gegenſtand die Groͤße geben, welche die Regeln der Perſpektiv erfodern. Jn Anſehung des zweyten Punkts muͤſſen zwey Dinge in Betrachtung gezogen werden. Der Mah- ler muß naͤmlich aus der Optik wiſſen, was fuͤr Theile eines Gegenſtandes in einer gegebenen Ent- fernung noch ſichtbar ſind, z. E. auf was fuͤr eine Weite man in einem Geſicht die Augen, oder in einem Haus die Fenſterſcheiben noch unterſcheiden kann oder nicht. Daraus erkennt er, was fuͤr ein- zele Theile in einer gewiſſen Entfernung noch anzu- zeigen ſind oder nicht; allein die Hauptbetrachtung muß von der Beſchaffenheit der Luft und der hellen oder dunklern Farbe des Grundes, der hinter dem Gegenſtand iſt, hergenommen werden. Beyde Punkten erfodern eine naͤhere Erlauterung. Jn Gegenden, wo man weit entfernte Gegen- ſtaͤnde entdekt, wie in bergichten Laͤndern, hat man oft Gelegenheit wahrzunehmen, daß nach Beſchaf- fenheit der Luft, entfernte Gegenſtaͤnde einmal ſehr viel naͤher, als andere mal ſcheinen. Bey einer ſehr hellen und harten Luft, die insgemein ein Vorbote des den Tag darauf kommenden Regens iſt, ſcheinen die entfernteſten Gegenſtaͤnde, z. E. Berge ſehr viel naͤher zu ſeyn, als wenn die Luft voll aufſteigender Duͤnſte, oder mit einem unſichtbaren Nebel ange- fuͤllt iſt, der alles weich macht. Was man das eine mal zwey Meilen weit von ſich ſchaͤtzet, er- ſcheint im andern Fall gewiß acht Meilen weit. Der Mahler hat demnach zuvoderſt auf den Ton, oder den Grad der Duftigkeit, den er der Luft geben will, acht zu haben. Denn nach dieſem richtet ſich die ſcheinbare Entfernung in Abſicht auf die haͤrtere oder weichere Umriſſe, und des ſchwaͤchern oder ſtaͤr- kern Lichts. Je dunkler und lebhafter das Blaue des Himmels iſt, je weniger iſt die Luft duftig, und je haͤrter die Umriſſe. Wenn demnach alle Theile der Landſchaft nach ihrer ſcheinbaren Groͤße gezeich- net worden, und der Mahler dabey noͤthig findet, die hintern Theile derſelben noch weiter zu entfernen, als ihre Verjuͤngung nach der Linienperſpektiv mit ſich bringt, ſo muß er wiſſen ſeiner Luft einen duf- tigen Ton zu geben. Dieſes geſchieht, wenn er das Blaue des Himmels ſtark mit Weißem vermengt, ſo daß es beſonders gegen dem Horizont zu beynahe ganz verſchwindet. Da nun bey einer ſolchen Luft die Umriſſe der entfernteſten Gegenſtaͤnde ungewiß werden, ſo muß er die weißliche Farbe der Luft uͤber die ſchwachen Umriſſe der letzten Gegenſtaͤnde herein- ſpielen laſſen. Hiernaͤchſt muͤſſen alle Farben der Gegenſtaͤnde den Einfluß dieſer duftigen Luft fuͤhlen. Jede Farbe wird undeutlicher als mit einem weißlichten Staub uͤberſtreut. Die Schatten werden uͤberall ſchwaͤcher. Was ſonſt die wuͤrkliche Entfernung thaͤte, das thut jetzo blos die dichtere Luft zwiſchen dem Aug und den Gegenſtaͤnden. Man weiß, daß ſo wol durch die große Entfernung als durch die duftige Luft das Schwarze blaͤulicht, und das Blaͤulichte weiß wird. Haͤtte ein Mahler genaue Beobachtungen uͤber die Einmiſchung der Farben, welche bemeldte Umſtaͤnde in den eigenthuͤmlichen Farben der Koͤrper verurſa- chen, ſo koͤnnte er jeden Gegenſtand nach ſeiner Ent- fernung faͤrben. Gegenſtaͤnde, die nah am Horizont ſind, ver- lieren ſo wol die eigenthuͤmliche Farbe, als das Licht und den Schatten in geringerer Entfernung, als hohe Gegenſtaͤnde, welches da Vinci ſchon angemerkt hat. Es ſaͤßt ſich nicht beſtimmen, in welcher Ent- fernung die Koͤrper von jeder Farbe dieſelbe ganz verlieren; weil dieſes auf die mehr oder weniger helle Luft ankommt. Es iſt alſo nothwendig, daß der Mahler die Natur unaufhoͤrlich zu allen Tages- zeiten, und in allen Abwechslungen des Wetters und der Jahrszeiten genau beobachte. Dabey iſt ihm noch zu rathen, die ſcharfſinnigen Beobachtun- gen

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/336>, abgerufen am 22.11.2024.