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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Den

Die Hauptabsicht der schönen Künste geht auf
Erwekung lebhafter Vorstellungen, die dauerhafte
und zugleich nützliche Eindrüke auf die Gemüther
der Menschen machen. Unter diesen Vorstellungen
sind ohne Zweifel diejenigen Hauptwahrheiten, die
uns auf der einen Seite die wahren moralischen
Verhältnisse des Menschen richtig und deutlich ab-
zeichnen, auf der andern Selte die richtigsten Re-
geln für unser Thun und Lassen angeben, die nütz-
lichsten und zugleich die wichtigsten. Eine blos specu-
lative Kenntniß dieser Wahrheiten, ist von geringem
Nutzen; sie müßen dergestalt mit dem sinnlichen Ge-
fühl verbunden werden, daß wir die Widersprüche ge-
gen dieselben, nicht als Fehler des Urtheils ansehen,
sondern als Zerrüttungen der Empfindungen fühlen.
Nur die Wahrheiten, die man so empfindet, haben
Einfluß auf unsre Handlungen.

Also muß die Wahrheit, die der Leitfaden unsers
sittlichen Denkens und Handelns seyn soll, sich in
uns, als eine Folge der Empfindungen äussern.
Dieses aber geschicht nur alsdenn, wenn wir leb-
hafte und richtige Gemählde, von den sittlichen Ver-
hältnissen der Menschen, und den mannigfaltigen
Auftritten des Lebens vor Augen haben, und die
darin liegenden allgemeinen Wahrheiten, als in Bey-
spielen anschauend erkennen. Nun thun Geschicht-
schreiber, Redner und Dichter, wenn sie nur, wie
ihr Beruf es erfodert, wahre Weisen sind, nichts
anders, als daß sie uns solche Gemählde vor Augen
legen. Sollten sie aber dabey versäumen, uns
auch, wenn wir stark genung davon gerührt sind,
die Moral derselben, oder die darin liegende allge-
meine Wahrheit, in einem kurzen und lebhaften
Denkspruch zugleich einzuprägen? Wie könnten sie
besser, als auf diese Weise, das, wofür sie von
den ältesten Zeiten her gehalten worden, Lehrer
der Menschen seyn.

Es ist eine Erfahrung, die jeder Mensch von
Nachdenken ofte muß gemacht haben, daß manche
Wahrheit uns lange bekannt gewesen ist, ohne merk-
lichen Eindruk auf uns zu machen, bis wir in einem
besondern Fall dieselbe so fühlen, daß sie auf be-
ständig als eine immer würkende Kraft, in der
Seele liegen bleibet. Dieses ist der Fall der wichti-
gen Denksprüche, wenn sie am rechten Ort ange-
bracht werden, und wenn das Gemählde, dem sie
gleichsam zur Aufschrift dienen, vorher recht lebhaft
gezeichnet worden.

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Den

Man würde sich fälschlich einbilden, daß es jedem
Leser könnte überlassen werden, selbst die in den
Gemählden liegenden Lehren heraus zu ziehen; denn,
nicht zu gedenken, daß nicht jeder Leser dieses zu
thun im Stand ist, so dienet auch hier, wie in
andern Dingen, das Beyspiel zu einer weit lebhaf-
tern Vorstellung. Wir sind bey lächerlichen und
trautigen Auftritten, durch das was wir sehen und
hören, vollkommen zum Lachen oder Weinen vorbe-
reitet, und dennoch lachen oder weinen wir nicht
eher, bis wir sehen, daß andre es thun, und uns
gleichsam den Ton dazu angeben; und gerade so
geht es auch mit der lebhaften Empfindung der
Wahrheit, die ebenfalls durch das Beyspiel sehr
verstärkt wird.

Man kann also die Denksprüche mit Grund als
sehr wesentliche Vollkommenheiten der Werke reden-
der Künste ansehen. Wenn in den ältesten Zeiten
der Philosophie der den Namen eines Weisen ver-
diente, der einige von ihm gemachte Beobachtungen
über das sittliche Leben der Menschen, in einem kur-
zen Denkspruch faßte, so wie die bekannten Sprüche
der sogenannten sieben Weisen, wie viel mehr wird
der Dichter oder Redner diesen Namen durch wich-
tige Denksprüche verdienen können, da er uns zu-
gleich das Gemählde, an dem wir ihre Wahr-
heit auf das lebhafteste fühlen, mit lebendigen
Farben vorzeichnet? Dadurch hat Euripides ver-
dient unter den Philosophen, neben den göttlichen
Sokrates gestellt zu werden.

Es sind zwar nicht alle Wahrheiten gleich wichtig,
doch ist jede, wenn sie nur vollkommen richtig und
bestimmt ist, schätzbar: man muß deßwegen nicht
verlangen, daß die Denksprüche lauter erhabene
Wahrheiten enthalten sollen; denn auch die gemei-
nen, die in dem allgemeinen Gefühl aller Menschen
mit mehr oder weniger Klahrheit liegen, werden
dadurch wichtig, daß sie in den Gemüthern wirksam
werden. Wie für einen Menschen, der Brod um
den Hunger zu stillen kaufen muß, das kleineste
Stük von gangbarem Gelde nützlicher ist, als ein
Stäk von weit grösserm Werthe, das nicht gang-
bar wäre, so ist es auch mit den Wahrheiten, von
denen die brauchbarsten, auch die besten sind. Man
hat deßwegen mehr auf die gute Art, die Denks rü-
che anzubringen, als darauf zu sehen, daß sie etwas
neues oder schweerer zu bemerkendes enthalten; denn
man sagt immer etwas wichtiges, wenn man etwas

wahres
Erster Theil. H h
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Den

Die Hauptabſicht der ſchoͤnen Kuͤnſte geht auf
Erwekung lebhafter Vorſtellungen, die dauerhafte
und zugleich nuͤtzliche Eindruͤke auf die Gemuͤther
der Menſchen machen. Unter dieſen Vorſtellungen
ſind ohne Zweifel diejenigen Hauptwahrheiten, die
uns auf der einen Seite die wahren moraliſchen
Verhaͤltniſſe des Menſchen richtig und deutlich ab-
zeichnen, auf der andern Selte die richtigſten Re-
geln fuͤr unſer Thun und Laſſen angeben, die nuͤtz-
lichſten und zugleich die wichtigſten. Eine blos ſpecu-
lative Kenntniß dieſer Wahrheiten, iſt von geringem
Nutzen; ſie muͤßen dergeſtalt mit dem ſinnlichen Ge-
fuͤhl verbunden werden, daß wir die Widerſpruͤche ge-
gen dieſelben, nicht als Fehler des Urtheils anſehen,
ſondern als Zerruͤttungen der Empfindungen fuͤhlen.
Nur die Wahrheiten, die man ſo empfindet, haben
Einfluß auf unſre Handlungen.

Alſo muß die Wahrheit, die der Leitfaden unſers
ſittlichen Denkens und Handelns ſeyn ſoll, ſich in
uns, als eine Folge der Empfindungen aͤuſſern.
Dieſes aber geſchicht nur alsdenn, wenn wir leb-
hafte und richtige Gemaͤhlde, von den ſittlichen Ver-
haͤltniſſen der Menſchen, und den mannigfaltigen
Auftritten des Lebens vor Augen haben, und die
darin liegenden allgemeinen Wahrheiten, als in Bey-
ſpielen anſchauend erkennen. Nun thun Geſchicht-
ſchreiber, Redner und Dichter, wenn ſie nur, wie
ihr Beruf es erfodert, wahre Weiſen ſind, nichts
anders, als daß ſie uns ſolche Gemaͤhlde vor Augen
legen. Sollten ſie aber dabey verſaͤumen, uns
auch, wenn wir ſtark genung davon geruͤhrt ſind,
die Moral derſelben, oder die darin liegende allge-
meine Wahrheit, in einem kurzen und lebhaften
Denkſpruch zugleich einzupraͤgen? Wie koͤnnten ſie
beſſer, als auf dieſe Weiſe, das, wofuͤr ſie von
den aͤlteſten Zeiten her gehalten worden, Lehrer
der Menſchen ſeyn.

Es iſt eine Erfahrung, die jeder Menſch von
Nachdenken ofte muß gemacht haben, daß manche
Wahrheit uns lange bekannt geweſen iſt, ohne merk-
lichen Eindruk auf uns zu machen, bis wir in einem
beſondern Fall dieſelbe ſo fuͤhlen, daß ſie auf be-
ſtaͤndig als eine immer wuͤrkende Kraft, in der
Seele liegen bleibet. Dieſes iſt der Fall der wichti-
gen Denkſpruͤche, wenn ſie am rechten Ort ange-
bracht werden, und wenn das Gemaͤhlde, dem ſie
gleichſam zur Aufſchrift dienen, vorher recht lebhaft
gezeichnet worden.

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Den

Man wuͤrde ſich faͤlſchlich einbilden, daß es jedem
Leſer koͤnnte uͤberlaſſen werden, ſelbſt die in den
Gemaͤhlden liegenden Lehren heraus zu ziehen; denn,
nicht zu gedenken, daß nicht jeder Leſer dieſes zu
thun im Stand iſt, ſo dienet auch hier, wie in
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tern Vorſtellung. Wir ſind bey laͤcherlichen und
trautigen Auftritten, durch das was wir ſehen und
hoͤren, vollkommen zum Lachen oder Weinen vorbe-
reitet, und dennoch lachen oder weinen wir nicht
eher, bis wir ſehen, daß andre es thun, und uns
gleichſam den Ton dazu angeben; und gerade ſo
geht es auch mit der lebhaften Empfindung der
Wahrheit, die ebenfalls durch das Beyſpiel ſehr
verſtaͤrkt wird.

Man kann alſo die Denkſpruͤche mit Grund als
ſehr weſentliche Vollkommenheiten der Werke reden-
der Kuͤnſte anſehen. Wenn in den aͤlteſten Zeiten
der Philoſophie der den Namen eines Weiſen ver-
diente, der einige von ihm gemachte Beobachtungen
uͤber das ſittliche Leben der Menſchen, in einem kur-
zen Denkſpruch faßte, ſo wie die bekannten Spruͤche
der ſogenannten ſieben Weiſen, wie viel mehr wird
der Dichter oder Redner dieſen Namen durch wich-
tige Denkſpruͤche verdienen koͤnnen, da er uns zu-
gleich das Gemaͤhlde, an dem wir ihre Wahr-
heit auf das lebhafteſte fuͤhlen, mit lebendigen
Farben vorzeichnet? Dadurch hat Euripides ver-
dient unter den Philoſophen, neben den goͤttlichen
Sokrates geſtellt zu werden.

Es ſind zwar nicht alle Wahrheiten gleich wichtig,
doch iſt jede, wenn ſie nur vollkommen richtig und
beſtimmt iſt, ſchaͤtzbar: man muß deßwegen nicht
verlangen, daß die Denkſpruͤche lauter erhabene
Wahrheiten enthalten ſollen; denn auch die gemei-
nen, die in dem allgemeinen Gefuͤhl aller Menſchen
mit mehr oder weniger Klahrheit liegen, werden
dadurch wichtig, daß ſie in den Gemuͤthern wirkſam
werden. Wie fuͤr einen Menſchen, der Brod um
den Hunger zu ſtillen kaufen muß, das kleineſte
Stuͤk von gangbarem Gelde nuͤtzlicher iſt, als ein
Staͤk von weit groͤſſerm Werthe, das nicht gang-
bar waͤre, ſo iſt es auch mit den Wahrheiten, von
denen die brauchbarſten, auch die beſten ſind. Man
hat deßwegen mehr auf die gute Art, die Denkſ ruͤ-
che anzubringen, als darauf zu ſehen, daß ſie etwas
neues oder ſchweerer zu bemerkendes enthalten; denn
man ſagt immer etwas wichtiges, wenn man etwas

wahres
Erſter Theil. H h
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[241/0253] Den Den Die Hauptabſicht der ſchoͤnen Kuͤnſte geht auf Erwekung lebhafter Vorſtellungen, die dauerhafte und zugleich nuͤtzliche Eindruͤke auf die Gemuͤther der Menſchen machen. Unter dieſen Vorſtellungen ſind ohne Zweifel diejenigen Hauptwahrheiten, die uns auf der einen Seite die wahren moraliſchen Verhaͤltniſſe des Menſchen richtig und deutlich ab- zeichnen, auf der andern Selte die richtigſten Re- geln fuͤr unſer Thun und Laſſen angeben, die nuͤtz- lichſten und zugleich die wichtigſten. Eine blos ſpecu- lative Kenntniß dieſer Wahrheiten, iſt von geringem Nutzen; ſie muͤßen dergeſtalt mit dem ſinnlichen Ge- fuͤhl verbunden werden, daß wir die Widerſpruͤche ge- gen dieſelben, nicht als Fehler des Urtheils anſehen, ſondern als Zerruͤttungen der Empfindungen fuͤhlen. Nur die Wahrheiten, die man ſo empfindet, haben Einfluß auf unſre Handlungen. Alſo muß die Wahrheit, die der Leitfaden unſers ſittlichen Denkens und Handelns ſeyn ſoll, ſich in uns, als eine Folge der Empfindungen aͤuſſern. Dieſes aber geſchicht nur alsdenn, wenn wir leb- hafte und richtige Gemaͤhlde, von den ſittlichen Ver- haͤltniſſen der Menſchen, und den mannigfaltigen Auftritten des Lebens vor Augen haben, und die darin liegenden allgemeinen Wahrheiten, als in Bey- ſpielen anſchauend erkennen. Nun thun Geſchicht- ſchreiber, Redner und Dichter, wenn ſie nur, wie ihr Beruf es erfodert, wahre Weiſen ſind, nichts anders, als daß ſie uns ſolche Gemaͤhlde vor Augen legen. Sollten ſie aber dabey verſaͤumen, uns auch, wenn wir ſtark genung davon geruͤhrt ſind, die Moral derſelben, oder die darin liegende allge- meine Wahrheit, in einem kurzen und lebhaften Denkſpruch zugleich einzupraͤgen? Wie koͤnnten ſie beſſer, als auf dieſe Weiſe, das, wofuͤr ſie von den aͤlteſten Zeiten her gehalten worden, Lehrer der Menſchen ſeyn. Es iſt eine Erfahrung, die jeder Menſch von Nachdenken ofte muß gemacht haben, daß manche Wahrheit uns lange bekannt geweſen iſt, ohne merk- lichen Eindruk auf uns zu machen, bis wir in einem beſondern Fall dieſelbe ſo fuͤhlen, daß ſie auf be- ſtaͤndig als eine immer wuͤrkende Kraft, in der Seele liegen bleibet. Dieſes iſt der Fall der wichti- gen Denkſpruͤche, wenn ſie am rechten Ort ange- bracht werden, und wenn das Gemaͤhlde, dem ſie gleichſam zur Aufſchrift dienen, vorher recht lebhaft gezeichnet worden. Man wuͤrde ſich faͤlſchlich einbilden, daß es jedem Leſer koͤnnte uͤberlaſſen werden, ſelbſt die in den Gemaͤhlden liegenden Lehren heraus zu ziehen; denn, nicht zu gedenken, daß nicht jeder Leſer dieſes zu thun im Stand iſt, ſo dienet auch hier, wie in andern Dingen, das Beyſpiel zu einer weit lebhaf- tern Vorſtellung. Wir ſind bey laͤcherlichen und trautigen Auftritten, durch das was wir ſehen und hoͤren, vollkommen zum Lachen oder Weinen vorbe- reitet, und dennoch lachen oder weinen wir nicht eher, bis wir ſehen, daß andre es thun, und uns gleichſam den Ton dazu angeben; und gerade ſo geht es auch mit der lebhaften Empfindung der Wahrheit, die ebenfalls durch das Beyſpiel ſehr verſtaͤrkt wird. Man kann alſo die Denkſpruͤche mit Grund als ſehr weſentliche Vollkommenheiten der Werke reden- der Kuͤnſte anſehen. Wenn in den aͤlteſten Zeiten der Philoſophie der den Namen eines Weiſen ver- diente, der einige von ihm gemachte Beobachtungen uͤber das ſittliche Leben der Menſchen, in einem kur- zen Denkſpruch faßte, ſo wie die bekannten Spruͤche der ſogenannten ſieben Weiſen, wie viel mehr wird der Dichter oder Redner dieſen Namen durch wich- tige Denkſpruͤche verdienen koͤnnen, da er uns zu- gleich das Gemaͤhlde, an dem wir ihre Wahr- heit auf das lebhafteſte fuͤhlen, mit lebendigen Farben vorzeichnet? Dadurch hat Euripides ver- dient unter den Philoſophen, neben den goͤttlichen Sokrates geſtellt zu werden. Es ſind zwar nicht alle Wahrheiten gleich wichtig, doch iſt jede, wenn ſie nur vollkommen richtig und beſtimmt iſt, ſchaͤtzbar: man muß deßwegen nicht verlangen, daß die Denkſpruͤche lauter erhabene Wahrheiten enthalten ſollen; denn auch die gemei- nen, die in dem allgemeinen Gefuͤhl aller Menſchen mit mehr oder weniger Klahrheit liegen, werden dadurch wichtig, daß ſie in den Gemuͤthern wirkſam werden. Wie fuͤr einen Menſchen, der Brod um den Hunger zu ſtillen kaufen muß, das kleineſte Stuͤk von gangbarem Gelde nuͤtzlicher iſt, als ein Staͤk von weit groͤſſerm Werthe, das nicht gang- bar waͤre, ſo iſt es auch mit den Wahrheiten, von denen die brauchbarſten, auch die beſten ſind. Man hat deßwegen mehr auf die gute Art, die Denkſ ruͤ- che anzubringen, als darauf zu ſehen, daß ſie etwas neues oder ſchweerer zu bemerkendes enthalten; denn man ſagt immer etwas wichtiges, wenn man etwas wahres Erſter Theil. H h

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/253>, abgerufen am 03.05.2024.