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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Daß überhaupt aller Orten mehr claßische Dichter,
als andre claßische Schriftsteller erscheinen, läßt sich
leicht begreifen. Die Einbildungskraft und die Em-
pfindungen zeigen sich allemal früher, als der Verstand
und der Beobachtungsgeist; also können sie in einer
Nation auch eher zur Vollkommenheit kommen, als
die Talente, die nur auf eine gewisse Grösse des Ver-
standes gegründet sind. Daher ist es, wie Cicero
(*) Multo
tamen
pauciores
oratores
quam poe-
tae boni
reperien-
tur. Cic.
de Orat.
Lib. I.
angemerkt hat, (*) leichter, einen grossen Dichter,
als einen grossen Redner anzutreffen.

Colorit.
(Mahlerey.)

Mit diesem Namen bezeichnet man den Theil der
Mahlerey, der jedem Gegenstand die Farben zu ge-
ben weiß, die er haben muß, damit das Ganze,
als ein in der Natur vorhandener Gegenstand in
die Augen falle. Jn diesem Sinn kann man den
Begriff des Worts Colorit durch Farbengebung aus-
drüken. Man versteht aber auch durch diesen Aus-
druk, die Beschaffenheit aller im Gemählde sichtbaren
Farben in ihrem Zusammenhang und ihrer Würkung
auf das Auge.

Durch das Colorit unterscheidet sich das Gemählde
von der blossen Zeichnung und dem Kupferstich.
Wär in der sichtbaren Natur alles einfärbig, wie in
den Kupferstichen, so würde sie ohne Zweifel eines
grossen Theils ihrer Schönheit beraubt seyn. Denn
in den Farben liegt ein Reiz, der ofte nicht viel ge-
ringer ist, als der, der von der Schönheit der For-
men herrühret. Jn der leblosen Natur übertrift die
untergehende Sonne jede andre Schönheit, und der
lachenden Morgenröthe kommt an Anmuthigkeit
nichts gleich. Selbst in der höhern Natur strei-
tet der Reiz der Farben auf einem jugendlich schö-
nen Gesichte, mit dem Reiz der Bildung um den
Vorzug. Auch andre Arten der Kräfte, die in
Bildung und Form liegen, finden sich vielleicht eben
so stark in den Farben. Die Todtenblässe allein ist
vermögend Mitleiden zu erweken, und gewisse wi-
derstehende, die höchste Mißharmonie erwekende
Farben, Abscheu.

Diejenigen, welche eine ausschliessende Liebe zur
Zeichnung haben, und deswegen das Colorit gering
schätzen, verkennen die Schönheit in Farben, und
bedenken nicht, daß in den Künsten der höchste Grad
(*) S.
Täuschung
der Kraft von der Täuschung herkomme (*), die nur
durch den vollkommensten Ausdruk der Wahrheit;
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also, in sichtbaren Dingen, durch das vollkommene
Colorit, erreicht wird. Man sieht den Laocoon
in Marmor, und wird durch diesen Anblik mit man-
cherley Empfindungen durchdrungen: aber wenn
itzt dieses Bild zu leben anfienge? Wenn wir die
Blässe der Todesangst im Gesicht und am ganzen
Leibe, die blutrünstigen Streifen auf der Haut;
wenn wir die Spuren des schäumenden Gifts der
Schlange (*) durch ekelhafte Farben ausgedrukt sä-(*) Perfu-
sus sanie
vittas,
atroque
Veneno
Virg.

hen: alsdenn würden wir auch das heftige Keuchen
zu hören glauben, und der ganze Eindruk würde
alsdenn die höchste Stärke haben. Die Niobe in
Marmor erwekt das tiefste Mitleiden; aber wenn
man sie mit der Farbe des Todesschrekens, mit dem
starren und unaussprechlich verwirrten Auge sähe,
so könnte niemand den Anblik aushalten. Man
stelle sich bey dem, was Apollo im Belvedere ent-
zükendes hat, die Farbe einer göttlichen Jugend, und
den Glanz, der dem Vater des Lichts zukommt, noch
dabey vor: was würde man alsdenn empfinden?
Also bleibt dem vollkommenen Colorit sein Werth
auch bey dem höchsten Reiz der Form: es ist ein eben
so wesentlicher Theil der Kunst als die Zeichnung.

Aber worin besteht seine Vollkommenheit? durch
welchen Weg, durch welches Studium gelangt der
Mahler zu sicherer Kenntniß aller Kräfte desselben?
Dies ist vielleicht die schweerste Aufgabe aus der gan-
zen Kunst. Ohne Zweifel wär es dem Titian selbst
unmöglich gewesen, das, was er über die Schön-
heit und die Kraft des Colorits empfunden hat, aus-
zudruken. Da es uns so sehr schweer wird, von
der Schönheit in Formen irgend etwas bestimmtes
zu erkennen, ob es gleich möglich ist, von Formen
manchen deutlichen Begriff zu fassen, so wird es
völlig unmöglich, die Schönheit, die von Mi-
schung und Harmonie der Farben entsteht, zu be-
schreiben. Wir sind, wie ein grosser Kenner sich
ausdrukt, mit den Verhältnissen des menschlichen
Körpers lange nicht so unbekannt, als mit den täg-
lichen Erscheinungen in der Natur, und mit den
Spuhren eines wohlthätigen Lichtes in Absicht auf
die Mahlerey. (*) Niemand frage, wie die Far-(*) S.
von Hage-
dorn Betr.
über die
Mahlerey
IV. Buch,
25. Betr.

ben Liebe, Wollust, die lieblichste Empfindung
einer sanften Ruhe, ein paradiesisches Gefühl in der
Seele bewürken. Man kann es fühlen, aber nicht
beschreiben.

Um so viel schweerer wird das Studium des Colo-
rits. Es ist hier noch nicht die Frage von der Auf-

tragung
Erster Theil. D d
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Col

Daß uͤberhaupt aller Orten mehr claßiſche Dichter,
als andre claßiſche Schriftſteller erſcheinen, laͤßt ſich
leicht begreifen. Die Einbildungskraft und die Em-
pfindungen zeigen ſich allemal fruͤher, als der Verſtand
und der Beobachtungsgeiſt; alſo koͤnnen ſie in einer
Nation auch eher zur Vollkommenheit kommen, als
die Talente, die nur auf eine gewiſſe Groͤſſe des Ver-
ſtandes gegruͤndet ſind. Daher iſt es, wie Cicero
(*) Multo
tamen
pauciores
oratores
quam poe-
tae boni
reperien-
tur. Cic.
de Orat.
Lib. I.
angemerkt hat, (*) leichter, einen groſſen Dichter,
als einen groſſen Redner anzutreffen.

Colorit.
(Mahlerey.)

Mit dieſem Namen bezeichnet man den Theil der
Mahlerey, der jedem Gegenſtand die Farben zu ge-
ben weiß, die er haben muß, damit das Ganze,
als ein in der Natur vorhandener Gegenſtand in
die Augen falle. Jn dieſem Sinn kann man den
Begriff des Worts Colorit durch Farbengebung aus-
druͤken. Man verſteht aber auch durch dieſen Aus-
druk, die Beſchaffenheit aller im Gemaͤhlde ſichtbaren
Farben in ihrem Zuſammenhang und ihrer Wuͤrkung
auf das Auge.

Durch das Colorit unterſcheidet ſich das Gemaͤhlde
von der bloſſen Zeichnung und dem Kupferſtich.
Waͤr in der ſichtbaren Natur alles einfaͤrbig, wie in
den Kupferſtichen, ſo wuͤrde ſie ohne Zweifel eines
groſſen Theils ihrer Schoͤnheit beraubt ſeyn. Denn
in den Farben liegt ein Reiz, der ofte nicht viel ge-
ringer iſt, als der, der von der Schoͤnheit der For-
men herruͤhret. Jn der lebloſen Natur uͤbertrift die
untergehende Sonne jede andre Schoͤnheit, und der
lachenden Morgenroͤthe kommt an Anmuthigkeit
nichts gleich. Selbſt in der hoͤhern Natur ſtrei-
tet der Reiz der Farben auf einem jugendlich ſchoͤ-
nen Geſichte, mit dem Reiz der Bildung um den
Vorzug. Auch andre Arten der Kraͤfte, die in
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ſo ſtark in den Farben. Die Todtenblaͤſſe allein iſt
vermoͤgend Mitleiden zu erweken, und gewiſſe wi-
derſtehende, die hoͤchſte Mißharmonie erwekende
Farben, Abſcheu.

Diejenigen, welche eine ausſchlieſſende Liebe zur
Zeichnung haben, und deswegen das Colorit gering
ſchaͤtzen, verkennen die Schoͤnheit in Farben, und
bedenken nicht, daß in den Kuͤnſten der hoͤchſte Grad
(*) S.
Taͤuſchung
der Kraft von der Taͤuſchung herkomme (*), die nur
durch den vollkommenſten Ausdruk der Wahrheit;
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Col
alſo, in ſichtbaren Dingen, durch das vollkommene
Colorit, erreicht wird. Man ſieht den Laocoon
in Marmor, und wird durch dieſen Anblik mit man-
cherley Empfindungen durchdrungen: aber wenn
itzt dieſes Bild zu leben anfienge? Wenn wir die
Blaͤſſe der Todesangſt im Geſicht und am ganzen
Leibe, die blutruͤnſtigen Streifen auf der Haut;
wenn wir die Spuren des ſchaͤumenden Gifts der
Schlange (*) durch ekelhafte Farben ausgedrukt ſaͤ-(*) Perfu-
ſus ſanie
vittas,
atroque
Veneno
Virg.

hen: alsdenn wuͤrden wir auch das heftige Keuchen
zu hoͤren glauben, und der ganze Eindruk wuͤrde
alsdenn die hoͤchſte Staͤrke haben. Die Niobe in
Marmor erwekt das tiefſte Mitleiden; aber wenn
man ſie mit der Farbe des Todesſchrekens, mit dem
ſtarren und unausſprechlich verwirrten Auge ſaͤhe,
ſo koͤnnte niemand den Anblik aushalten. Man
ſtelle ſich bey dem, was Apollo im Belvedere ent-
zuͤkendes hat, die Farbe einer goͤttlichen Jugend, und
den Glanz, der dem Vater des Lichts zukommt, noch
dabey vor: was wuͤrde man alsdenn empfinden?
Alſo bleibt dem vollkommenen Colorit ſein Werth
auch bey dem hoͤchſten Reiz der Form: es iſt ein eben
ſo weſentlicher Theil der Kunſt als die Zeichnung.

Aber worin beſteht ſeine Vollkommenheit? durch
welchen Weg, durch welches Studium gelangt der
Mahler zu ſicherer Kenntniß aller Kraͤfte deſſelben?
Dies iſt vielleicht die ſchweerſte Aufgabe aus der gan-
zen Kunſt. Ohne Zweifel waͤr es dem Titian ſelbſt
unmoͤglich geweſen, das, was er uͤber die Schoͤn-
heit und die Kraft des Colorits empfunden hat, aus-
zudruken. Da es uns ſo ſehr ſchweer wird, von
der Schoͤnheit in Formen irgend etwas beſtimmtes
zu erkennen, ob es gleich moͤglich iſt, von Formen
manchen deutlichen Begriff zu faſſen, ſo wird es
voͤllig unmoͤglich, die Schoͤnheit, die von Mi-
ſchung und Harmonie der Farben entſteht, zu be-
ſchreiben. Wir ſind, wie ein groſſer Kenner ſich
ausdrukt, mit den Verhaͤltniſſen des menſchlichen
Koͤrpers lange nicht ſo unbekannt, als mit den taͤg-
lichen Erſcheinungen in der Natur, und mit den
Spuhren eines wohlthaͤtigen Lichtes in Abſicht auf
die Mahlerey. (*) Niemand frage, wie die Far-(*) S.
von Hage-
dorn Betr.
uͤber die
Mahlerey
IV. Buch,
25. Betr.

ben Liebe, Wolluſt, die lieblichſte Empfindung
einer ſanften Ruhe, ein paradieſiſches Gefuͤhl in der
Seele bewuͤrken. Man kann es fuͤhlen, aber nicht
beſchreiben.

Um ſo viel ſchweerer wird das Studium des Colo-
rits. Es iſt hier noch nicht die Frage von der Auf-

tragung
Erſter Theil. D d
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[209/0221] Col Col Daß uͤberhaupt aller Orten mehr claßiſche Dichter, als andre claßiſche Schriftſteller erſcheinen, laͤßt ſich leicht begreifen. Die Einbildungskraft und die Em- pfindungen zeigen ſich allemal fruͤher, als der Verſtand und der Beobachtungsgeiſt; alſo koͤnnen ſie in einer Nation auch eher zur Vollkommenheit kommen, als die Talente, die nur auf eine gewiſſe Groͤſſe des Ver- ſtandes gegruͤndet ſind. Daher iſt es, wie Cicero angemerkt hat, (*) leichter, einen groſſen Dichter, als einen groſſen Redner anzutreffen. (*) Multo tamen pauciores oratores quam poe- tae boni reperien- tur. Cic. de Orat. Lib. I. Colorit. (Mahlerey.) Mit dieſem Namen bezeichnet man den Theil der Mahlerey, der jedem Gegenſtand die Farben zu ge- ben weiß, die er haben muß, damit das Ganze, als ein in der Natur vorhandener Gegenſtand in die Augen falle. Jn dieſem Sinn kann man den Begriff des Worts Colorit durch Farbengebung aus- druͤken. Man verſteht aber auch durch dieſen Aus- druk, die Beſchaffenheit aller im Gemaͤhlde ſichtbaren Farben in ihrem Zuſammenhang und ihrer Wuͤrkung auf das Auge. Durch das Colorit unterſcheidet ſich das Gemaͤhlde von der bloſſen Zeichnung und dem Kupferſtich. Waͤr in der ſichtbaren Natur alles einfaͤrbig, wie in den Kupferſtichen, ſo wuͤrde ſie ohne Zweifel eines groſſen Theils ihrer Schoͤnheit beraubt ſeyn. Denn in den Farben liegt ein Reiz, der ofte nicht viel ge- ringer iſt, als der, der von der Schoͤnheit der For- men herruͤhret. Jn der lebloſen Natur uͤbertrift die untergehende Sonne jede andre Schoͤnheit, und der lachenden Morgenroͤthe kommt an Anmuthigkeit nichts gleich. Selbſt in der hoͤhern Natur ſtrei- tet der Reiz der Farben auf einem jugendlich ſchoͤ- nen Geſichte, mit dem Reiz der Bildung um den Vorzug. Auch andre Arten der Kraͤfte, die in Bildung und Form liegen, finden ſich vielleicht eben ſo ſtark in den Farben. Die Todtenblaͤſſe allein iſt vermoͤgend Mitleiden zu erweken, und gewiſſe wi- derſtehende, die hoͤchſte Mißharmonie erwekende Farben, Abſcheu. Diejenigen, welche eine ausſchlieſſende Liebe zur Zeichnung haben, und deswegen das Colorit gering ſchaͤtzen, verkennen die Schoͤnheit in Farben, und bedenken nicht, daß in den Kuͤnſten der hoͤchſte Grad der Kraft von der Taͤuſchung herkomme (*), die nur durch den vollkommenſten Ausdruk der Wahrheit; alſo, in ſichtbaren Dingen, durch das vollkommene Colorit, erreicht wird. Man ſieht den Laocoon in Marmor, und wird durch dieſen Anblik mit man- cherley Empfindungen durchdrungen: aber wenn itzt dieſes Bild zu leben anfienge? Wenn wir die Blaͤſſe der Todesangſt im Geſicht und am ganzen Leibe, die blutruͤnſtigen Streifen auf der Haut; wenn wir die Spuren des ſchaͤumenden Gifts der Schlange (*) durch ekelhafte Farben ausgedrukt ſaͤ- hen: alsdenn wuͤrden wir auch das heftige Keuchen zu hoͤren glauben, und der ganze Eindruk wuͤrde alsdenn die hoͤchſte Staͤrke haben. Die Niobe in Marmor erwekt das tiefſte Mitleiden; aber wenn man ſie mit der Farbe des Todesſchrekens, mit dem ſtarren und unausſprechlich verwirrten Auge ſaͤhe, ſo koͤnnte niemand den Anblik aushalten. Man ſtelle ſich bey dem, was Apollo im Belvedere ent- zuͤkendes hat, die Farbe einer goͤttlichen Jugend, und den Glanz, der dem Vater des Lichts zukommt, noch dabey vor: was wuͤrde man alsdenn empfinden? Alſo bleibt dem vollkommenen Colorit ſein Werth auch bey dem hoͤchſten Reiz der Form: es iſt ein eben ſo weſentlicher Theil der Kunſt als die Zeichnung. (*) S. Taͤuſchung (*) Perfu- ſus ſanie vittas, atroque Veneno Virg. Aber worin beſteht ſeine Vollkommenheit? durch welchen Weg, durch welches Studium gelangt der Mahler zu ſicherer Kenntniß aller Kraͤfte deſſelben? Dies iſt vielleicht die ſchweerſte Aufgabe aus der gan- zen Kunſt. Ohne Zweifel waͤr es dem Titian ſelbſt unmoͤglich geweſen, das, was er uͤber die Schoͤn- heit und die Kraft des Colorits empfunden hat, aus- zudruken. Da es uns ſo ſehr ſchweer wird, von der Schoͤnheit in Formen irgend etwas beſtimmtes zu erkennen, ob es gleich moͤglich iſt, von Formen manchen deutlichen Begriff zu faſſen, ſo wird es voͤllig unmoͤglich, die Schoͤnheit, die von Mi- ſchung und Harmonie der Farben entſteht, zu be- ſchreiben. Wir ſind, wie ein groſſer Kenner ſich ausdrukt, mit den Verhaͤltniſſen des menſchlichen Koͤrpers lange nicht ſo unbekannt, als mit den taͤg- lichen Erſcheinungen in der Natur, und mit den Spuhren eines wohlthaͤtigen Lichtes in Abſicht auf die Mahlerey. (*) Niemand frage, wie die Far- ben Liebe, Wolluſt, die lieblichſte Empfindung einer ſanften Ruhe, ein paradieſiſches Gefuͤhl in der Seele bewuͤrken. Man kann es fuͤhlen, aber nicht beſchreiben. (*) S. von Hage- dorn Betr. uͤber die Mahlerey IV. Buch, 25. Betr. Um ſo viel ſchweerer wird das Studium des Colo- rits. Es iſt hier noch nicht die Frage von der Auf- tragung Erſter Theil. D d

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/221>, abgerufen am 23.04.2024.