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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Cho
macht haben, könnte gar wol blos eine Würkung
von der Menge der Stimmen gewesen seyn. Die-
ses zu begreifen darf man nur bedenken, wie un-
endlich fürchterlicher ein Feldgeschrey eines ganzen
Heeres sey, als ein ähnliches Geschrey von weni-
gen Menschen.

Wir wollen über die Chöre nur noch anmerken,
daß hiebey mehr, als irgend zu einem andern
Theile der Kunst, grosse Erfahrung von Seite des
Capellmeisters erfodert werde. Wer nicht ungemein
ofte, bey verschiedenen Gelegenheiten und an ganz
verschiedenen Orten, in Kirchen, auf der Schau-
bühne, und im freyen, grosse Chöre, von abgeän-
derten Plätzen und Stellungen gehört hat, der
wird nie alle Vortheile kennen lernen, die, sowol den
Satz, als die Ausführung der Chöre vollkommener
machen. Also müssen sich unerfahrne, so viel mög-
lich, enthalten, die Musik in aller ihrer Pracht, so
wie in Chören geschieht, zeigen zu wollen. Unter
den Deutschen sind Händel und Graun die größten
Meister hierin. Jhre Chöre verdienen mit der
größten Ueberlegung studirt zu werden.

Chor wird auch die Gesellschaft der Sänger
selbst, die zu Aufführung einer grossen Musik be-
stimmt sind, genennt. Jhr Vorsteher wird in Deutsch-
land insgemein der Praefectus Chori genennt.

Chor in den Kirchen, auch in grossen Musiksä-
len, ist der Ort, wo der Chor der Sänger steht um
die Musik aufzuführen. Es würde vortheilhaft für
die Musik seyn, wenn ein Kenner von feinem Gehör
und weitläuftiger Erfahrung, seine Beobachtungen
über die vortheilhafte oder nachtheilige Einrichtung
der zur Musik bestimmten Gebäude an den Tag
geben würde. Denn noch zur Zeit scheinen die Bau-
meister keine bestimmte Regeln zu haben, nach de-
nen die Chöre sicher anzulegen wären.

Choral.
(Musik.)

Ein vierstimmiger Gesang, der weder figurirt noch
rythmisch ist. Er ist gesetzt, um in Kirchen von der
ganzen Gemeinde abgesungen zu werden. Man
nennt ihn auch den Gregorianischen Gesang, weil
Pabst Gregorius der Grosse ihn eingeführt haben
soll. Die Franzosen nennen ihn plain chant und die
Jtaliäner Canto firmo. Er ist der einfacheste Ge-
sang, der möglich ist, und schiket sich zu stillen, und
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Cho
etwas ruhigen Betrachtungen und Empfindungen,
die insgemein den Charakter der Kirchenlieder aus-
machen. Er ist einer grossen Rührung fähig, und
scheinet zu ruhigen Empfindungen weit vorzügli-
cher zu seyn, als der figurirte melismatische Ge-
sang: wie denn überhaupt überaus wenig dazu ge-
hört, sehr tiefe Empfindungen einer ruhigen Art
zu erweken. (*) Wenn er aber seine ganze Kraft(*) S.
Lieder.

behalten soll, so muß durch den Gesang der Fall
der Verse, und folglich das richtige Zeitmaas der
Sylben, nicht verlohren gehen; nur das cadenzirte,
zu abgemessene rythmische Wesen, welches unsre
heutigen figurirten Tonstüke gemeiniglich gar zu sehr
der Tanzmusik nähert, muß aus dem Choral gänz-
lich wegbleiben.

Der Choral wird allemal vierstimmig gesetzt,
und jede der vier Stimmen ist eine Hauptstimme.
Dieses macht seine Verfertigung, obgleich gar
wenig Ersindung dazu gehört, dem, der nicht ein
vollkommener Harmoniste ist, sehr schweer; weil
bey dem langsamen und nachdrüklichen Gange des-
selben, auch die kleineste Unrichtigkeit in der Har-
monie sehr fühlbar wird. Man muß dabey mit
den Dissonanzen sparsam seyn, die sich ohne dem zu
dem sanften Affekt des Kirchengesanges nicht so |gut,
als zu unruhigen Leidenschaften schiken. Es ist
möglich, daß ein blos zweystimmiger Choral, da
die Harmonie der Mittelstimme etwa, wo es nöthtg
ist, durch die Orgel ausgefüllt würde, noch bessere
Würkung thäte. Denn da die Stimmen doch, um
harmonische Fehler zu vermeiden, sich gegen einan-
der bewegen müssen: so scheinet es nicht natürlich,
daß bey einerley Empfindung, einer mit der Stim-
me steigt, da der andre fällt, und der dritte auf der-
selben Höhe stehen bleibt.

Der beste Choralgesang scheinet der zu seyn, der
am einfachesten, durch kleinere diatonische Jnter-
valle fortschreitet, und die wenigsten Dissonanzen
hat, dabey aber die Geltung der Sylben auf das
genaueste beobachtet wird.

Jn den Chorälen richtet man sich noch nach den
alten Tonarten, den sechs authentischen und so viel
plagalischen. Man kann nicht leugnen, daß nicht
dadurch, wenn nur übrigens gut temperirte Or-
geln vorhanden sind, eine noch mehrere Mannig-
faltigkeit der Charaktere des Gesanges erhalten
werde, als wenn man, nach einer gleichschweben-
den Temperatur, alles auf die itzt in der an-

dern

[Spaltenumbruch]

Cho
macht haben, koͤnnte gar wol blos eine Wuͤrkung
von der Menge der Stimmen geweſen ſeyn. Die-
ſes zu begreifen darf man nur bedenken, wie un-
endlich fuͤrchterlicher ein Feldgeſchrey eines ganzen
Heeres ſey, als ein aͤhnliches Geſchrey von weni-
gen Menſchen.

Wir wollen uͤber die Choͤre nur noch anmerken,
daß hiebey mehr, als irgend zu einem andern
Theile der Kunſt, groſſe Erfahrung von Seite des
Capellmeiſters erfodert werde. Wer nicht ungemein
ofte, bey verſchiedenen Gelegenheiten und an ganz
verſchiedenen Orten, in Kirchen, auf der Schau-
buͤhne, und im freyen, groſſe Choͤre, von abgeaͤn-
derten Plaͤtzen und Stellungen gehoͤrt hat, der
wird nie alle Vortheile kennen lernen, die, ſowol den
Satz, als die Ausfuͤhrung der Choͤre vollkommener
machen. Alſo muͤſſen ſich unerfahrne, ſo viel moͤg-
lich, enthalten, die Muſik in aller ihrer Pracht, ſo
wie in Choͤren geſchieht, zeigen zu wollen. Unter
den Deutſchen ſind Haͤndel und Graun die groͤßten
Meiſter hierin. Jhre Choͤre verdienen mit der
groͤßten Ueberlegung ſtudirt zu werden.

Chor wird auch die Geſellſchaft der Saͤnger
ſelbſt, die zu Auffuͤhrung einer groſſen Muſik be-
ſtimmt ſind, genennt. Jhr Vorſteher wird in Deutſch-
land insgemein der Præfectus Chori genennt.

Chor in den Kirchen, auch in groſſen Muſikſaͤ-
len, iſt der Ort, wo der Chor der Saͤnger ſteht um
die Muſik aufzufuͤhren. Es wuͤrde vortheilhaft fuͤr
die Muſik ſeyn, wenn ein Kenner von feinem Gehoͤr
und weitlaͤuftiger Erfahrung, ſeine Beobachtungen
uͤber die vortheilhafte oder nachtheilige Einrichtung
der zur Muſik beſtimmten Gebaͤude an den Tag
geben wuͤrde. Denn noch zur Zeit ſcheinen die Bau-
meiſter keine beſtimmte Regeln zu haben, nach de-
nen die Choͤre ſicher anzulegen waͤren.

Choral.
(Muſik.)

Ein vierſtimmiger Geſang, der weder figurirt noch
rythmiſch iſt. Er iſt geſetzt, um in Kirchen von der
ganzen Gemeinde abgeſungen zu werden. Man
nennt ihn auch den Gregorianiſchen Geſang, weil
Pabſt Gregorius der Groſſe ihn eingefuͤhrt haben
ſoll. Die Franzoſen nennen ihn plain chant und die
Jtaliaͤner Canto firmo. Er iſt der einfacheſte Ge-
ſang, der moͤglich iſt, und ſchiket ſich zu ſtillen, und
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Cho
etwas ruhigen Betrachtungen und Empfindungen,
die insgemein den Charakter der Kirchenlieder aus-
machen. Er iſt einer groſſen Ruͤhrung faͤhig, und
ſcheinet zu ruhigen Empfindungen weit vorzuͤgli-
cher zu ſeyn, als der figurirte melismatiſche Ge-
ſang: wie denn uͤberhaupt uͤberaus wenig dazu ge-
hoͤrt, ſehr tiefe Empfindungen einer ruhigen Art
zu erweken. (*) Wenn er aber ſeine ganze Kraft(*) S.
Lieder.

behalten ſoll, ſo muß durch den Geſang der Fall
der Verſe, und folglich das richtige Zeitmaas der
Sylben, nicht verlohren gehen; nur das cadenzirte,
zu abgemeſſene rythmiſche Weſen, welches unſre
heutigen figurirten Tonſtuͤke gemeiniglich gar zu ſehr
der Tanzmuſik naͤhert, muß aus dem Choral gaͤnz-
lich wegbleiben.

Der Choral wird allemal vierſtimmig geſetzt,
und jede der vier Stimmen iſt eine Hauptſtimme.
Dieſes macht ſeine Verfertigung, obgleich gar
wenig Erſindung dazu gehoͤrt, dem, der nicht ein
vollkommener Harmoniſte iſt, ſehr ſchweer; weil
bey dem langſamen und nachdruͤklichen Gange deſ-
ſelben, auch die kleineſte Unrichtigkeit in der Har-
monie ſehr fuͤhlbar wird. Man muß dabey mit
den Diſſonanzen ſparſam ſeyn, die ſich ohne dem zu
dem ſanften Affekt des Kirchengeſanges nicht ſo |gut,
als zu unruhigen Leidenſchaften ſchiken. Es iſt
moͤglich, daß ein blos zweyſtimmiger Choral, da
die Harmonie der Mittelſtimme etwa, wo es noͤthtg
iſt, durch die Orgel ausgefuͤllt wuͤrde, noch beſſere
Wuͤrkung thaͤte. Denn da die Stimmen doch, um
harmoniſche Fehler zu vermeiden, ſich gegen einan-
der bewegen muͤſſen: ſo ſcheinet es nicht natuͤrlich,
daß bey einerley Empfindung, einer mit der Stim-
me ſteigt, da der andre faͤllt, und der dritte auf der-
ſelben Hoͤhe ſtehen bleibt.

Der beſte Choralgeſang ſcheinet der zu ſeyn, der
am einfacheſten, durch kleinere diatoniſche Jnter-
valle fortſchreitet, und die wenigſten Diſſonanzen
hat, dabey aber die Geltung der Sylben auf das
genaueſte beobachtet wird.

Jn den Choraͤlen richtet man ſich noch nach den
alten Tonarten, den ſechs authentiſchen und ſo viel
plagaliſchen. Man kann nicht leugnen, daß nicht
dadurch, wenn nur uͤbrigens gut temperirte Or-
geln vorhanden ſind, eine noch mehrere Mannig-
faltigkeit der Charaktere des Geſanges erhalten
werde, als wenn man, nach einer gleichſchweben-
den Temperatur, alles auf die itzt in der an-

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[204/0216] Cho Cho macht haben, koͤnnte gar wol blos eine Wuͤrkung von der Menge der Stimmen geweſen ſeyn. Die- ſes zu begreifen darf man nur bedenken, wie un- endlich fuͤrchterlicher ein Feldgeſchrey eines ganzen Heeres ſey, als ein aͤhnliches Geſchrey von weni- gen Menſchen. Wir wollen uͤber die Choͤre nur noch anmerken, daß hiebey mehr, als irgend zu einem andern Theile der Kunſt, groſſe Erfahrung von Seite des Capellmeiſters erfodert werde. Wer nicht ungemein ofte, bey verſchiedenen Gelegenheiten und an ganz verſchiedenen Orten, in Kirchen, auf der Schau- buͤhne, und im freyen, groſſe Choͤre, von abgeaͤn- derten Plaͤtzen und Stellungen gehoͤrt hat, der wird nie alle Vortheile kennen lernen, die, ſowol den Satz, als die Ausfuͤhrung der Choͤre vollkommener machen. Alſo muͤſſen ſich unerfahrne, ſo viel moͤg- lich, enthalten, die Muſik in aller ihrer Pracht, ſo wie in Choͤren geſchieht, zeigen zu wollen. Unter den Deutſchen ſind Haͤndel und Graun die groͤßten Meiſter hierin. Jhre Choͤre verdienen mit der groͤßten Ueberlegung ſtudirt zu werden. Chor wird auch die Geſellſchaft der Saͤnger ſelbſt, die zu Auffuͤhrung einer groſſen Muſik be- ſtimmt ſind, genennt. Jhr Vorſteher wird in Deutſch- land insgemein der Præfectus Chori genennt. Chor in den Kirchen, auch in groſſen Muſikſaͤ- len, iſt der Ort, wo der Chor der Saͤnger ſteht um die Muſik aufzufuͤhren. Es wuͤrde vortheilhaft fuͤr die Muſik ſeyn, wenn ein Kenner von feinem Gehoͤr und weitlaͤuftiger Erfahrung, ſeine Beobachtungen uͤber die vortheilhafte oder nachtheilige Einrichtung der zur Muſik beſtimmten Gebaͤude an den Tag geben wuͤrde. Denn noch zur Zeit ſcheinen die Bau- meiſter keine beſtimmte Regeln zu haben, nach de- nen die Choͤre ſicher anzulegen waͤren. Choral. (Muſik.) Ein vierſtimmiger Geſang, der weder figurirt noch rythmiſch iſt. Er iſt geſetzt, um in Kirchen von der ganzen Gemeinde abgeſungen zu werden. Man nennt ihn auch den Gregorianiſchen Geſang, weil Pabſt Gregorius der Groſſe ihn eingefuͤhrt haben ſoll. Die Franzoſen nennen ihn plain chant und die Jtaliaͤner Canto firmo. Er iſt der einfacheſte Ge- ſang, der moͤglich iſt, und ſchiket ſich zu ſtillen, und etwas ruhigen Betrachtungen und Empfindungen, die insgemein den Charakter der Kirchenlieder aus- machen. Er iſt einer groſſen Ruͤhrung faͤhig, und ſcheinet zu ruhigen Empfindungen weit vorzuͤgli- cher zu ſeyn, als der figurirte melismatiſche Ge- ſang: wie denn uͤberhaupt uͤberaus wenig dazu ge- hoͤrt, ſehr tiefe Empfindungen einer ruhigen Art zu erweken. (*) Wenn er aber ſeine ganze Kraft behalten ſoll, ſo muß durch den Geſang der Fall der Verſe, und folglich das richtige Zeitmaas der Sylben, nicht verlohren gehen; nur das cadenzirte, zu abgemeſſene rythmiſche Weſen, welches unſre heutigen figurirten Tonſtuͤke gemeiniglich gar zu ſehr der Tanzmuſik naͤhert, muß aus dem Choral gaͤnz- lich wegbleiben. (*) S. Lieder. Der Choral wird allemal vierſtimmig geſetzt, und jede der vier Stimmen iſt eine Hauptſtimme. Dieſes macht ſeine Verfertigung, obgleich gar wenig Erſindung dazu gehoͤrt, dem, der nicht ein vollkommener Harmoniſte iſt, ſehr ſchweer; weil bey dem langſamen und nachdruͤklichen Gange deſ- ſelben, auch die kleineſte Unrichtigkeit in der Har- monie ſehr fuͤhlbar wird. Man muß dabey mit den Diſſonanzen ſparſam ſeyn, die ſich ohne dem zu dem ſanften Affekt des Kirchengeſanges nicht ſo |gut, als zu unruhigen Leidenſchaften ſchiken. Es iſt moͤglich, daß ein blos zweyſtimmiger Choral, da die Harmonie der Mittelſtimme etwa, wo es noͤthtg iſt, durch die Orgel ausgefuͤllt wuͤrde, noch beſſere Wuͤrkung thaͤte. Denn da die Stimmen doch, um harmoniſche Fehler zu vermeiden, ſich gegen einan- der bewegen muͤſſen: ſo ſcheinet es nicht natuͤrlich, daß bey einerley Empfindung, einer mit der Stim- me ſteigt, da der andre faͤllt, und der dritte auf der- ſelben Hoͤhe ſtehen bleibt. Der beſte Choralgeſang ſcheinet der zu ſeyn, der am einfacheſten, durch kleinere diatoniſche Jnter- valle fortſchreitet, und die wenigſten Diſſonanzen hat, dabey aber die Geltung der Sylben auf das genaueſte beobachtet wird. Jn den Choraͤlen richtet man ſich noch nach den alten Tonarten, den ſechs authentiſchen und ſo viel plagaliſchen. Man kann nicht leugnen, daß nicht dadurch, wenn nur uͤbrigens gut temperirte Or- geln vorhanden ſind, eine noch mehrere Mannig- faltigkeit der Charaktere des Geſanges erhalten werde, als wenn man, nach einer gleichſchweben- den Temperatur, alles auf die itzt in der an- dern

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/216>, abgerufen am 23.04.2024.