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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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ges beybehalten. Da hingegen ein seltsames Ge-
misch entstehen würde, wenn man jeder Stimme,
und bald in jedem Takt, eine andre Gestalt der Me-
lodie geben wollte. Darin aber ist nur der recht
glüklich, der sich in dem canonischen Satz wol ge-
übt hat.
3. Ueberhaupt aber giebt diese Uebung dem Se-
tzer eine Fertigkeit, auf alle mögliche Weise eine
Harmonie und Melodie zu verwechseln, und immer
rein zu erhalten, welches ihm unfehlbar dazu die-
net, sich aus allen vorkommenden Schwierigkeiten
heraus zu helfen.

Also würde es der Musik gewiß nicht zum Vor-
theil gereichen, wenn dergleichen Uebungen gänz-
lich abkommen sollten. Es wäre leicht zu zeigen,
daß der unsterbliche Graun seine Duette und Ter-
zette in den berlinischen Opern, welche unter die
fürtreflichsten Werke der Musik, die man jemals
gesehen hat, gehören, nicht in dieser grossen Voll-
kommenheit würde verfertiget haben, wenn ihm die
Künste des canonischen Contrapunkts unbekannt ge-
wesen wären. Allein seine Zeit damit allein zubrin-
gen, und sich selbst bereden, daß allein darin die
wahre Kunst des Componisten bestehe, ist freylich
eine Thorheit, die man den Liebhabern des musicali-
schen Satzes benehmen muß.

Cantate.
(Dichtkunst. Musik.)

Ein kleines für die Musik gemachtes Gedicht von
rührendem Jnhalt, darin in verschiedenen Versarten,
Beobachtungen, Betrachtungen, Empfindungen
und Leidenschaften ausgedrükt werden, welche bey
Gelegenheit eines wichtigen Gegenstandes entste-
hen. Der Dichter richtet seine Aufmerksamkeit
auf eine interessante Scene aus der Natur,
aus dem menschlichen Leben, aus der Moral, Po-
litik oder Religion. Aus Betrachtung dieses Ge-
genstandes entstehen in ihm wichtige Gedanken,
ernsthafte oder freudige Empfindungen, die biswei-
len in starke Leidenschaften ausbrechen. Wenn er
nun dem sich abändernden Zustand des Geistes und
Herzens zufolge, das, was er sieht, beschreibt, was
er denkt oder empfindet, ausdrükt, den Ausbruch
seiner Leidenschaft schildert, und für jedes eine be-
sondre, der Sache angemessene Versart wählet,
so entstehet dadurch die Cantate. Sie fällt dem-
nach nothwendig in verschiedene Dichtungsarten.
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Can
Ein Theil kann erzählend, ein andrer lehrend, ein
andrer betrachtend, und ein andrer rührend seyn.
Daher können in der Cantate Recitative, Cavaten,
Arioso, Ariette,
und Arien zugleich vorkommen;
und von diesen verschiedenen Arten kommen mehr
oder weniger vor, je nachdem der Dichter sich bey
einem Gegenstand mehr oder weniger auf hält. Ein
oder zwey Recitative und ein paar Arien müssen
nothwendig dabey vorkommeu. Da wir die ver-
schiedenen Dichtungsarten der besondern Theile
der Cantate in besondern Artikeln beschrieben haben,
so wollen wir hier nur einige allgemeine Anmerkun-
gen über den Gebrauch und die verschiedene Ge-
stalten der Cantate machen.

Der vornehmste Gebrauch der Cantaten ist bey
dem öffentlichen Gottesdienst, an seyerlichen Ta-
gen. Der Dichter nimmt die Begebenheit, deren
Andenken feyerlich begangen wird, zu seinem Gegen-
stand. Er muß dabey die Absicht haben, das
Volk auf die wichtigsten Theile seines Gegenstandes
aufmerksam zu machen, dasselbe auf wichtige Be-
trachtungen und Lehren zu führen, lebhafte Em-
pfindungen rege zu machen, und überhaupt das
ganze Gemüth mit einer heilsamen Leidenschaft zu
erfüllen. Ueberhaupt muß also der Dichter den
Charakter der geistlichen Dichtung wol beobachten,
und sich vornehmlich in Acht nehmen, weder Witz,
noch Kunst, noch irgend etwas zu zeigen, wodurch
der Zuhörer von dem Gegenstand seiner Betrach-
tung auf den Dichter, oder auf Nebensachen könnte
abgeführt werden. Es muß nichts vorkommen,
was blos zur Belustigung diente, sondern alles
muß auf Erbauung übereinstimmen.

Da die Cantate keine Handlung ist, wie das
Drama, sondern eine Betrachtung über einen gros-
sen Gegenstand, so muß sie nicht weitläuftig seyn.
Denn Weitläuftigkeit über einen einzigen Gegen-
stand macht verwirrt und schwächet die Haupt-
verstellung. Der Dichter soll nicht alles, was
sich über den Gegenstand gutes denken oder em-
pfinden läßt; sondern nur das wichtigste, das,
was den Verstand und das Herz am stärksten rüh-
ret, anbringen. Es giebt Dichter, welche in Can-
taten über das Leiden des Heilandes, oder über
seine Geburt, in die kleinsten Umstände sich einlas-
sen; jeden, wenn er auch noch so wenig auf sich hat,
bemerken machen, Betrachtungen darüber, wie man
sagt, bey den Haaren herbey zu bringen. Dadurch

werden
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ges beybehalten. Da hingegen ein ſeltſames Ge-
miſch entſtehen wuͤrde, wenn man jeder Stimme,
und bald in jedem Takt, eine andre Geſtalt der Me-
lodie geben wollte. Darin aber iſt nur der recht
gluͤklich, der ſich in dem canoniſchen Satz wol ge-
uͤbt hat.
3. Ueberhaupt aber giebt dieſe Uebung dem Se-
tzer eine Fertigkeit, auf alle moͤgliche Weiſe eine
Harmonie und Melodie zu verwechſeln, und immer
rein zu erhalten, welches ihm unfehlbar dazu die-
net, ſich aus allen vorkommenden Schwierigkeiten
heraus zu helfen.

Alſo wuͤrde es der Muſik gewiß nicht zum Vor-
theil gereichen, wenn dergleichen Uebungen gaͤnz-
lich abkommen ſollten. Es waͤre leicht zu zeigen,
daß der unſterbliche Graun ſeine Duette und Ter-
zette in den berliniſchen Opern, welche unter die
fuͤrtreflichſten Werke der Muſik, die man jemals
geſehen hat, gehoͤren, nicht in dieſer groſſen Voll-
kommenheit wuͤrde verfertiget haben, wenn ihm die
Kuͤnſte des canoniſchen Contrapunkts unbekannt ge-
weſen waͤren. Allein ſeine Zeit damit allein zubrin-
gen, und ſich ſelbſt bereden, daß allein darin die
wahre Kunſt des Componiſten beſtehe, iſt freylich
eine Thorheit, die man den Liebhabern des muſicali-
ſchen Satzes benehmen muß.

Cantate.
(Dichtkunſt. Muſik.)

Ein kleines fuͤr die Muſik gemachtes Gedicht von
ruͤhrendem Jnhalt, darin in verſchiedenen Versarten,
Beobachtungen, Betrachtungen, Empfindungen
und Leidenſchaften ausgedruͤkt werden, welche bey
Gelegenheit eines wichtigen Gegenſtandes entſte-
hen. Der Dichter richtet ſeine Aufmerkſamkeit
auf eine intereſſante Scene aus der Natur,
aus dem menſchlichen Leben, aus der Moral, Po-
litik oder Religion. Aus Betrachtung dieſes Ge-
genſtandes entſtehen in ihm wichtige Gedanken,
ernſthafte oder freudige Empfindungen, die biswei-
len in ſtarke Leidenſchaften ausbrechen. Wenn er
nun dem ſich abaͤndernden Zuſtand des Geiſtes und
Herzens zufolge, das, was er ſieht, beſchreibt, was
er denkt oder empfindet, ausdruͤkt, den Ausbruch
ſeiner Leidenſchaft ſchildert, und fuͤr jedes eine be-
ſondre, der Sache angemeſſene Versart waͤhlet,
ſo entſtehet dadurch die Cantate. Sie faͤllt dem-
nach nothwendig in verſchiedene Dichtungsarten.
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Can
Ein Theil kann erzaͤhlend, ein andrer lehrend, ein
andrer betrachtend, und ein andrer ruͤhrend ſeyn.
Daher koͤnnen in der Cantate Recitative, Cavaten,
Arioſo, Ariette,
und Arien zugleich vorkommen;
und von dieſen verſchiedenen Arten kommen mehr
oder weniger vor, je nachdem der Dichter ſich bey
einem Gegenſtand mehr oder weniger auf haͤlt. Ein
oder zwey Recitative und ein paar Arien muͤſſen
nothwendig dabey vorkommeu. Da wir die ver-
ſchiedenen Dichtungsarten der beſondern Theile
der Cantate in beſondern Artikeln beſchrieben haben,
ſo wollen wir hier nur einige allgemeine Anmerkun-
gen uͤber den Gebrauch und die verſchiedene Ge-
ſtalten der Cantate machen.

Der vornehmſte Gebrauch der Cantaten iſt bey
dem oͤffentlichen Gottesdienſt, an ſeyerlichen Ta-
gen. Der Dichter nimmt die Begebenheit, deren
Andenken feyerlich begangen wird, zu ſeinem Gegen-
ſtand. Er muß dabey die Abſicht haben, das
Volk auf die wichtigſten Theile ſeines Gegenſtandes
aufmerkſam zu machen, daſſelbe auf wichtige Be-
trachtungen und Lehren zu fuͤhren, lebhafte Em-
pfindungen rege zu machen, und uͤberhaupt das
ganze Gemuͤth mit einer heilſamen Leidenſchaft zu
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Charakter der geiſtlichen Dichtung wol beobachten,
und ſich vornehmlich in Acht nehmen, weder Witz,
noch Kunſt, noch irgend etwas zu zeigen, wodurch
der Zuhoͤrer von dem Gegenſtand ſeiner Betrach-
tung auf den Dichter, oder auf Nebenſachen koͤnnte
abgefuͤhrt werden. Es muß nichts vorkommen,
was blos zur Beluſtigung diente, ſondern alles
muß auf Erbauung uͤbereinſtimmen.

Da die Cantate keine Handlung iſt, wie das
Drama, ſondern eine Betrachtung uͤber einen groſ-
ſen Gegenſtand, ſo muß ſie nicht weitlaͤuftig ſeyn.
Denn Weitlaͤuftigkeit uͤber einen einzigen Gegen-
ſtand macht verwirrt und ſchwaͤchet die Haupt-
verſtellung. Der Dichter ſoll nicht alles, was
ſich uͤber den Gegenſtand gutes denken oder em-
pfinden laͤßt; ſondern nur das wichtigſte, das,
was den Verſtand und das Herz am ſtaͤrkſten ruͤh-
ret, anbringen. Es giebt Dichter, welche in Can-
taten uͤber das Leiden des Heilandes, oder uͤber
ſeine Geburt, in die kleinſten Umſtaͤnde ſich einlaſ-
ſen; jeden, wenn er auch noch ſo wenig auf ſich hat,
bemerken machen, Betrachtungen daruͤber, wie man
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[191/0203] Can Can ges beybehalten. Da hingegen ein ſeltſames Ge- miſch entſtehen wuͤrde, wenn man jeder Stimme, und bald in jedem Takt, eine andre Geſtalt der Me- lodie geben wollte. Darin aber iſt nur der recht gluͤklich, der ſich in dem canoniſchen Satz wol ge- uͤbt hat. 3. Ueberhaupt aber giebt dieſe Uebung dem Se- tzer eine Fertigkeit, auf alle moͤgliche Weiſe eine Harmonie und Melodie zu verwechſeln, und immer rein zu erhalten, welches ihm unfehlbar dazu die- net, ſich aus allen vorkommenden Schwierigkeiten heraus zu helfen. Alſo wuͤrde es der Muſik gewiß nicht zum Vor- theil gereichen, wenn dergleichen Uebungen gaͤnz- lich abkommen ſollten. Es waͤre leicht zu zeigen, daß der unſterbliche Graun ſeine Duette und Ter- zette in den berliniſchen Opern, welche unter die fuͤrtreflichſten Werke der Muſik, die man jemals geſehen hat, gehoͤren, nicht in dieſer groſſen Voll- kommenheit wuͤrde verfertiget haben, wenn ihm die Kuͤnſte des canoniſchen Contrapunkts unbekannt ge- weſen waͤren. Allein ſeine Zeit damit allein zubrin- gen, und ſich ſelbſt bereden, daß allein darin die wahre Kunſt des Componiſten beſtehe, iſt freylich eine Thorheit, die man den Liebhabern des muſicali- ſchen Satzes benehmen muß. Cantate. (Dichtkunſt. Muſik.) Ein kleines fuͤr die Muſik gemachtes Gedicht von ruͤhrendem Jnhalt, darin in verſchiedenen Versarten, Beobachtungen, Betrachtungen, Empfindungen und Leidenſchaften ausgedruͤkt werden, welche bey Gelegenheit eines wichtigen Gegenſtandes entſte- hen. Der Dichter richtet ſeine Aufmerkſamkeit auf eine intereſſante Scene aus der Natur, aus dem menſchlichen Leben, aus der Moral, Po- litik oder Religion. Aus Betrachtung dieſes Ge- genſtandes entſtehen in ihm wichtige Gedanken, ernſthafte oder freudige Empfindungen, die biswei- len in ſtarke Leidenſchaften ausbrechen. Wenn er nun dem ſich abaͤndernden Zuſtand des Geiſtes und Herzens zufolge, das, was er ſieht, beſchreibt, was er denkt oder empfindet, ausdruͤkt, den Ausbruch ſeiner Leidenſchaft ſchildert, und fuͤr jedes eine be- ſondre, der Sache angemeſſene Versart waͤhlet, ſo entſtehet dadurch die Cantate. Sie faͤllt dem- nach nothwendig in verſchiedene Dichtungsarten. Ein Theil kann erzaͤhlend, ein andrer lehrend, ein andrer betrachtend, und ein andrer ruͤhrend ſeyn. Daher koͤnnen in der Cantate Recitative, Cavaten, Arioſo, Ariette, und Arien zugleich vorkommen; und von dieſen verſchiedenen Arten kommen mehr oder weniger vor, je nachdem der Dichter ſich bey einem Gegenſtand mehr oder weniger auf haͤlt. Ein oder zwey Recitative und ein paar Arien muͤſſen nothwendig dabey vorkommeu. Da wir die ver- ſchiedenen Dichtungsarten der beſondern Theile der Cantate in beſondern Artikeln beſchrieben haben, ſo wollen wir hier nur einige allgemeine Anmerkun- gen uͤber den Gebrauch und die verſchiedene Ge- ſtalten der Cantate machen. Der vornehmſte Gebrauch der Cantaten iſt bey dem oͤffentlichen Gottesdienſt, an ſeyerlichen Ta- gen. Der Dichter nimmt die Begebenheit, deren Andenken feyerlich begangen wird, zu ſeinem Gegen- ſtand. Er muß dabey die Abſicht haben, das Volk auf die wichtigſten Theile ſeines Gegenſtandes aufmerkſam zu machen, daſſelbe auf wichtige Be- trachtungen und Lehren zu fuͤhren, lebhafte Em- pfindungen rege zu machen, und uͤberhaupt das ganze Gemuͤth mit einer heilſamen Leidenſchaft zu erfuͤllen. Ueberhaupt muß alſo der Dichter den Charakter der geiſtlichen Dichtung wol beobachten, und ſich vornehmlich in Acht nehmen, weder Witz, noch Kunſt, noch irgend etwas zu zeigen, wodurch der Zuhoͤrer von dem Gegenſtand ſeiner Betrach- tung auf den Dichter, oder auf Nebenſachen koͤnnte abgefuͤhrt werden. Es muß nichts vorkommen, was blos zur Beluſtigung diente, ſondern alles muß auf Erbauung uͤbereinſtimmen. Da die Cantate keine Handlung iſt, wie das Drama, ſondern eine Betrachtung uͤber einen groſ- ſen Gegenſtand, ſo muß ſie nicht weitlaͤuftig ſeyn. Denn Weitlaͤuftigkeit uͤber einen einzigen Gegen- ſtand macht verwirrt und ſchwaͤchet die Haupt- verſtellung. Der Dichter ſoll nicht alles, was ſich uͤber den Gegenſtand gutes denken oder em- pfinden laͤßt; ſondern nur das wichtigſte, das, was den Verſtand und das Herz am ſtaͤrkſten ruͤh- ret, anbringen. Es giebt Dichter, welche in Can- taten uͤber das Leiden des Heilandes, oder uͤber ſeine Geburt, in die kleinſten Umſtaͤnde ſich einlaſ- ſen; jeden, wenn er auch noch ſo wenig auf ſich hat, bemerken machen, Betrachtungen daruͤber, wie man ſagt, bey den Haaren herbey zu bringen. Dadurch werden

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/203>, abgerufen am 28.03.2024.