Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Bil Werke sind kostbar und höchft mühsam; also mußauch der Zwek derselben groß seyn. Sie soll also nicht eine flüchtige Ueberraschung Auch in ihren geringern Werken, selbst da, wo Bil in leblosen Formen, das Schikliche, selbst in gleich-gültigen Dingen, das Ordentliche, das Angenehme und andre Eigenschaften dieser Art, haben allemal einen vortheilhaften Einfluß auf die Gemüther. S. Baukunst. Verzogene Gestalten aber, von denen das Auge nichts begreift; Formen, die die Natur verkennt; elende Nachahmungen natürlicher Dinge; Vermischung widerstreitender Naturen, sind Mißgeburten der Kunst, und Gegenstände, an die sich das Auge nicht ohne schädliche Würkung auf die Denkungsart, gewöhnet. Die Bildhauerkunst kann also ihren Rang unter Von dem Ursprung dieser Kunst weiß man nichts Unter den alten, aus der Geschichte bekannten Es scheinet, daß die Aegyptier blos einen reli- deutung
[Spaltenumbruch] Bil Werke ſind koſtbar und hoͤchft muͤhſam; alſo mußauch der Zwek derſelben groß ſeyn. Sie ſoll alſo nicht eine fluͤchtige Ueberraſchung Auch in ihren geringern Werken, ſelbſt da, wo Bil in lebloſen Formen, das Schikliche, ſelbſt in gleich-guͤltigen Dingen, das Ordentliche, das Angenehme und andre Eigenſchaften dieſer Art, haben allemal einen vortheilhaften Einfluß auf die Gemuͤther. S. Baukunſt. Verzogene Geſtalten aber, von denen das Auge nichts begreift; Formen, die die Natur verkennt; elende Nachahmungen natuͤrlicher Dinge; Vermiſchung widerſtreitender Naturen, ſind Mißgeburten der Kunſt, und Gegenſtaͤnde, an die ſich das Auge nicht ohne ſchaͤdliche Wuͤrkung auf die Denkungsart, gewoͤhnet. Die Bildhauerkunſt kann alſo ihren Rang unter Von dem Urſprung dieſer Kunſt weiß man nichts Unter den alten, aus der Geſchichte bekannten Es ſcheinet, daß die Aegyptier blos einen reli- deutung
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Es ſieht<lb/> nun Gedanken, Empfindungen, Groͤſſe des Geiſtes,<lb/> und Kraͤfte, daraus jede Tugend entſteht, ange-<lb/> deutet, dringt durch das aͤuſſerliche in das innere,<lb/> und ſtellt ſich ein denkendes und empfindendes We-<lb/> ſen vor, das den Marmor belebt. Denn beſtre-<lb/> bet ſich der Geiſt und das Herz, die Vollkommenheit,<lb/> deren Begriff durch das Bild erwekt worden iſt,<lb/> ganz zu faſſen, ſeine eigene Gedanken und Empfin-<lb/> dungen darnach zu ſtimmen; die ganze Seele ſtrebt<lb/> nun nach einem hoͤhern Grade der Vollkommenheit.<lb/> Dieſes iſt ohne Zweifel eine Wuͤrkung, die von voll-<lb/> kommenen Werken der Bildhauerkunſt zu erwarten<lb/><note place="left">(*) Sta-<lb/> ue.</note>iſt. (*) Alſo weiß ein Phidias Seelen erhoͤhende<lb/> Kraͤfte in den Marmor zu legen; iſt vermoͤgend,<lb/> jede Vollkommenheit des Geiſtes, jede Tugend und<lb/> jede Empfindung des Herzens, den Sinnen fuͤhlbar<lb/> zu machen. Was kann aber zur Beſtrebung nach<lb/> innerlicher Vollkommenheit nuͤtzlicher ſeyn, als<lb/> wenn wir dieſelbe fuͤhlen? Unter allen ſichtbaren<lb/> Dingen iſt der Menſch ohne allen Zweifel der wich-<lb/> tigſte Gegenſtand des Auges; in dem Menſchen<lb/> aber koͤnnen alle menſchliche Tugenden ſichtbar wer-<lb/> den — vielleicht auch uͤbermenſchliche; wenn nur<lb/> die Muſe dem Kuͤnſtler ein hoͤheres Jd<supplied>e</supplied>al in ſeine<lb/> Phantaſte gelegt hat. Was alſo der Moraliſt mit<lb/> ungemeiner Muͤhe dem Verſtand vorſtellt, groſſe<lb/> Muſter jeder Vollkommenheit, das giebt der bil-<lb/> dende Kuͤnſtler, wenn ihm nur die Geheimniſſe ſei-<lb/> ner Kunſt geoffenbaret ſind, dem Auge zu ſehen.<lb/> Dieſes aber iſt das Hoͤchſte der Kunſt.</p><lb/> <p>Auch in ihren geringern Werken, ſelbſt da, wo<lb/> ſie blos zur Verzierung der Staͤdte, der Gaͤrten,<lb/> der Gebaͤude und der Wohnungen arbeitet, iſt ſie<lb/> noch eine nuͤtzliche Kunſt, wenn ſie nur von dem<lb/> guten Geſchmak geleitet wird. Das Schoͤne ſelbſt<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Bil</hi></fw><lb/> in lebloſen Formen, das Schikliche, ſelbſt in gleich-<lb/> guͤltigen Dingen, das Ordentliche, das Angenehme<lb/> und andre Eigenſchaften dieſer Art, haben allemal<lb/> einen vortheilhaften Einfluß auf die Gemuͤther.<lb/> S. Baukunſt. Verzogene Geſtalten aber, von<lb/> denen das Auge nichts begreift; Formen, die die<lb/> Natur verkennt; elende Nachahmungen natuͤrlicher<lb/> Dinge; Vermiſchung widerſtreitender Naturen, ſind<lb/> Mißgeburten der Kunſt, und Gegenſtaͤnde, an die<lb/> ſich das Auge nicht ohne ſchaͤdliche Wuͤrkung auf<lb/> die Denkungsart, gewoͤhnet.</p><lb/> <p>Die Bildhauerkunſt kann alſo ihren Rang unter<lb/> andern ſchoͤnen Kuͤnſten, mit voͤlligem Recht be-<lb/> haupten. Mittelmaͤßig ſcheinet ſie von uͤberaus ge-<lb/> ringem Nutzen zu ſeyn; aber in ihrer Vollkommen-<lb/> heit darf ſie keiner andern nachſtehen. Wuͤrkt ſie<lb/> gleich nicht auf ſo mancherley Art auf die Gemuͤther,<lb/> als die Dichtkunſt, ſo iſt ihre Wuͤrkung deſto nach-<lb/> druͤklicher.</p><lb/> <p>Von dem Urſprung dieſer Kunſt weiß man nichts<lb/> zuverlaͤßiges. Aus der H. Schrift iſt bekannt, daß<lb/> ſchon zu den Zeiten der Patriarchen Bilder der<lb/> Goͤtter in Meſopotamien vorhanden geweſen. Der-<lb/> gleichen moͤgen bey mehrern Voͤlkern ſelbiger Zeit<lb/> im Gebrauch geweſen ſeyn. Es iſt nicht unwahr-<lb/> ſcheinlich, daß die Verehrung der Goͤtter ſichtbare<lb/> Bilder derſelben veranlaſet, und daß durch dieſe<lb/> die Bildhauerkunſt nach und nach aufgekommen<lb/> ſey: wiewol auch der Einfall, durch Hieroglyphen<lb/> etwas auszudruken, die Gelegenheit dazu mag<lb/> gegeben haben. Bey verſchiedenen Voͤlkern mag<lb/> ſie durch verſchiedene Veranlaſungen entſtanden<lb/> ſeyn.</p><lb/> <p>Unter den alten, aus der Geſchichte bekannten<lb/> Voͤlkern, haben die Aegyptier, die Phoͤnicier, die<lb/> Griechen, ſowol in Kleinaſien, als in dem eigent-<lb/> lichen Griechenland, und die Hetrurier, dieſe Kunſt<lb/> vorzuͤglich ausgeuͤbet; aber die Griechen, und naͤchſt<lb/> dieſen die Hetrurier, haben ſie zur hoͤchſten Voll-<lb/> kommenheit gebracht. Winkelmanns Geſchichte der<lb/> Kunſt, die in jedes Liebhabers Haͤnden iſt, enthaͤlt<lb/> die richtigſten Nachrichten und Bemerkungen uͤber<lb/> den Urſprung, den Flor und den Verfall derſelben.</p><lb/> <p>Es ſcheinet, daß die Aegyptier blos einen reli-<lb/> gioͤſen Gebrauch davon gemacht haben, dabey aber<lb/> bey der hieroglyphiſchen Bedeutung der Bilder ſte-<lb/> hen geblieben ſeyn. Wenigſtens iſt kein aͤgyptiſches<lb/> Bild bekannt, das auſſer ſeiner hieroglyphiſchen Be-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">deutung</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [175/0187]
Bil
Bil
Werke ſind koſtbar und hoͤchft muͤhſam; alſo muß
auch der Zwek derſelben groß ſeyn.
Sie ſoll alſo nicht eine fluͤchtige Ueberraſchung
der Einbildungskraft, nicht eine bloße Ergetzlichkeit
des Auges, nicht die Bewunderung der Geſchiklich-
keit und des Reichthums, ſondern etwas groͤſſeres
zum Endzwek haben. Sie ſucht tiefe Eindruͤke
des Guten, des Erhabenen und des Groſſen zu
machen, die nach der Betrachtung des Bildes auf
immer in der Seele uͤbrig bleiben. Erſt zieht ſie
das Aug durch die harmoniſche Schoͤnheit der For-
men auf ſich; denn reizet ſie daſſelbe durch den
Ausdruk zu ernſthafterer Betrachtung. Es ſieht
nun Gedanken, Empfindungen, Groͤſſe des Geiſtes,
und Kraͤfte, daraus jede Tugend entſteht, ange-
deutet, dringt durch das aͤuſſerliche in das innere,
und ſtellt ſich ein denkendes und empfindendes We-
ſen vor, das den Marmor belebt. Denn beſtre-
bet ſich der Geiſt und das Herz, die Vollkommenheit,
deren Begriff durch das Bild erwekt worden iſt,
ganz zu faſſen, ſeine eigene Gedanken und Empfin-
dungen darnach zu ſtimmen; die ganze Seele ſtrebt
nun nach einem hoͤhern Grade der Vollkommenheit.
Dieſes iſt ohne Zweifel eine Wuͤrkung, die von voll-
kommenen Werken der Bildhauerkunſt zu erwarten
iſt. (*) Alſo weiß ein Phidias Seelen erhoͤhende
Kraͤfte in den Marmor zu legen; iſt vermoͤgend,
jede Vollkommenheit des Geiſtes, jede Tugend und
jede Empfindung des Herzens, den Sinnen fuͤhlbar
zu machen. Was kann aber zur Beſtrebung nach
innerlicher Vollkommenheit nuͤtzlicher ſeyn, als
wenn wir dieſelbe fuͤhlen? Unter allen ſichtbaren
Dingen iſt der Menſch ohne allen Zweifel der wich-
tigſte Gegenſtand des Auges; in dem Menſchen
aber koͤnnen alle menſchliche Tugenden ſichtbar wer-
den — vielleicht auch uͤbermenſchliche; wenn nur
die Muſe dem Kuͤnſtler ein hoͤheres Jdeal in ſeine
Phantaſte gelegt hat. Was alſo der Moraliſt mit
ungemeiner Muͤhe dem Verſtand vorſtellt, groſſe
Muſter jeder Vollkommenheit, das giebt der bil-
dende Kuͤnſtler, wenn ihm nur die Geheimniſſe ſei-
ner Kunſt geoffenbaret ſind, dem Auge zu ſehen.
Dieſes aber iſt das Hoͤchſte der Kunſt.
(*) Sta-
ue.
Auch in ihren geringern Werken, ſelbſt da, wo
ſie blos zur Verzierung der Staͤdte, der Gaͤrten,
der Gebaͤude und der Wohnungen arbeitet, iſt ſie
noch eine nuͤtzliche Kunſt, wenn ſie nur von dem
guten Geſchmak geleitet wird. Das Schoͤne ſelbſt
in lebloſen Formen, das Schikliche, ſelbſt in gleich-
guͤltigen Dingen, das Ordentliche, das Angenehme
und andre Eigenſchaften dieſer Art, haben allemal
einen vortheilhaften Einfluß auf die Gemuͤther.
S. Baukunſt. Verzogene Geſtalten aber, von
denen das Auge nichts begreift; Formen, die die
Natur verkennt; elende Nachahmungen natuͤrlicher
Dinge; Vermiſchung widerſtreitender Naturen, ſind
Mißgeburten der Kunſt, und Gegenſtaͤnde, an die
ſich das Auge nicht ohne ſchaͤdliche Wuͤrkung auf
die Denkungsart, gewoͤhnet.
Die Bildhauerkunſt kann alſo ihren Rang unter
andern ſchoͤnen Kuͤnſten, mit voͤlligem Recht be-
haupten. Mittelmaͤßig ſcheinet ſie von uͤberaus ge-
ringem Nutzen zu ſeyn; aber in ihrer Vollkommen-
heit darf ſie keiner andern nachſtehen. Wuͤrkt ſie
gleich nicht auf ſo mancherley Art auf die Gemuͤther,
als die Dichtkunſt, ſo iſt ihre Wuͤrkung deſto nach-
druͤklicher.
Von dem Urſprung dieſer Kunſt weiß man nichts
zuverlaͤßiges. Aus der H. Schrift iſt bekannt, daß
ſchon zu den Zeiten der Patriarchen Bilder der
Goͤtter in Meſopotamien vorhanden geweſen. Der-
gleichen moͤgen bey mehrern Voͤlkern ſelbiger Zeit
im Gebrauch geweſen ſeyn. Es iſt nicht unwahr-
ſcheinlich, daß die Verehrung der Goͤtter ſichtbare
Bilder derſelben veranlaſet, und daß durch dieſe
die Bildhauerkunſt nach und nach aufgekommen
ſey: wiewol auch der Einfall, durch Hieroglyphen
etwas auszudruken, die Gelegenheit dazu mag
gegeben haben. Bey verſchiedenen Voͤlkern mag
ſie durch verſchiedene Veranlaſungen entſtanden
ſeyn.
Unter den alten, aus der Geſchichte bekannten
Voͤlkern, haben die Aegyptier, die Phoͤnicier, die
Griechen, ſowol in Kleinaſien, als in dem eigent-
lichen Griechenland, und die Hetrurier, dieſe Kunſt
vorzuͤglich ausgeuͤbet; aber die Griechen, und naͤchſt
dieſen die Hetrurier, haben ſie zur hoͤchſten Voll-
kommenheit gebracht. Winkelmanns Geſchichte der
Kunſt, die in jedes Liebhabers Haͤnden iſt, enthaͤlt
die richtigſten Nachrichten und Bemerkungen uͤber
den Urſprung, den Flor und den Verfall derſelben.
Es ſcheinet, daß die Aegyptier blos einen reli-
gioͤſen Gebrauch davon gemacht haben, dabey aber
bey der hieroglyphiſchen Bedeutung der Bilder ſte-
hen geblieben ſeyn. Wenigſtens iſt kein aͤgyptiſches
Bild bekannt, das auſſer ſeiner hieroglyphiſchen Be-
deutung
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