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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Bey
was an sich selbst schon verständlich genug ist, mit
ästhetischer Kraft zu sagen und recht sinnlich zu
machen.

Die Anmerkung, daß jeder des andern Zustand
für besser hält, als den seinigen, ist an sich schon
verständlich genug; dennoch drükt Horaz sie durch
Beyspiele aus:

O! fortunati mercatores, gravis annis
Miles ait, multo jam fractus membra labore.
Contra Mercator navim jactantibus austris,
Militia ost potior. -- --
Agricolam laudat juris legumque peritus
-- --
Ille -- --

(*)
Serm. I. 1.
Solos felices viventes clamat in urbe. (*)

Die Würkung des ästhetischen Beyspiels ist ver-
schieden. Es kann dienen, die allgemeine Wahr-
heit, zu deren Behuf es angeführt worden ist, auf
eine ästhetische Art zu beweisen, in dem es uns
Fälle zu Gemüthe führt, die wir erlebt haben, die
uns also die Wahrheit fühlbar machen. Von die-
ser Art ist das angeführte. Denn wer einige Er-
fahrung hat, muß dergleichen Reden würklich gehört
haben. Diese Art, Wahrheiten, die jeder aus be-
sondern Fällen unmittelbar abnehmen kann, durch
Anführung solcher Fälle, als Beyspiele, einzuprä-
gen, ist durch die ganze Beredsamkeit und Dicht-
kunst von sehr grossem Nutzen. Jm Grunde ist es
(*) S.
Beweisar-
ten.
eine Beweisart durch Jnduktion, (*) und die beste
Art zu überzeugen. Dergleichen Beyspiele kann
man beweisende Beyspiele nennen; insgemein wer-
den viele nach einander angeführt. Man kann sie
hinter dem Satz, dessen Beweis sie sind, anführen,
oder demselben vorhergehen lassen. Die Geschiklich-
keit, solche Beyspiele gut zu wählen, und (nach
Beschaffenheit der Umstände) kurz oder naiv oder
nachdrüklich oder mahlerisch vorzutragen, ist eines
der wichtigsten Talente der Moralisten.

Bisweilen dienen solche Beyspiele, wenn meh-
rere hinter einander kommen, blos dazu, daß der
Leser Zeit habe, sich die allgemeine Wahrheit, an
welcher er ohnedem nicht zweifeln würde, durch die
Wiederholung derselben, desto sicherer einzuprägen,
damit sie unvergeßlich bleibe. Daher werden bis-
weilen die gemeinesten und bekanntesten Wahrheiten
von mehrern Beyspielen begleitet, nur daß der Leser
sich dabey aufhalte. Was ist bekannter, als daß
[Spaltenumbruch]

Bey
der, der einmal gestorben ist, für immer todt ist?
Aber Horaz führt Beyspiele davon an:

Cum semel occideris & de te splendida Minos
Fecerit arbitria
Non te Torquate genus, non te facundia, non te
Restituet pietas:
Infernis neque enim tenebris Diana pudicum
Liberat Hippolytum;
Nec Lethaea valet Theseus abrumpere charo
Vincula Pirithoo. (*)
(*) Od.
Lib. IV.
7.

Man könnte diese Beyspiele verweilende Beyspiele
nennen; weil sie durch die Verweilung bey einer be-
kannten Wahrheit sie tiefer einprägen. Man trift
nirgend mehr Beyspiele dieser Art an, als beym
Ovidius, dem gleich bey jedem allgemeinen Satz
hundert besondre Fälle ins Gedächtniß kommen.

Bisweilen dient das Beyspiel, der Wahrheit, die es
enthält, einen Schmuk zu geben, wodurch sie rei-
zender wird. So braucht Horaz, anstatt der
vorher angeführten lehrenden Beyspiele, für die-
selbe Wahrheit ein andermal naive mahlerische
Beyspiele:

Optat ephippia bos piger; optat arare caballus.

Von dieser Art sind auch diese Beyspiele des La Fon-
taine
von der Wahrheit, daß jeder Mensch sucht
sich über seinen Stand zu erheben:

Tout bourgeois veut batir comme les grands Seigueurs,
Tout petit prince a des Ambassadeurs,
Tout Marquis veut avoir des pages.

Diese Art des Beyspiels, das der Vorstellung eine
besonders kräftige Gestalt oder Farbe giebt, um sie
dem Gemüthe desto lebhafter einzuprägen, hat wie-
der gar vielerley Formen, die sich nicht alle ent-
wikeln lassen. So hat folgende Art des Beyspiels
eine ungemeine Kraft. Horaz will die allgemeine
Lehre anbringen, daß Ueppigkeit und grosser Auf-
wand sich nicht einmal durch grossen Reichthum ent-
schuldigen lassen. Anstatt blos allgemein zu sagen:
das Geld könnte besser angewendet werden, sagt
er dieses in Beyspielen, die er noch dazu in drin-
genden Fragen vorträgt:

Cur eget indignus quisquam, te divite? quare
Templa ruunt antiqua Deum? Cur, improbe, carae
Non aliquid patriae tanto emetiris acervo?
(*)
(*) Ser-
mon. II.
2.
103.

Die Beyspiele können nach der besondern Absicht,
die man dabey hat, allgemeiner seyn, oder aus ganz

ein-

[Spaltenumbruch]

Bey
was an ſich ſelbſt ſchon verſtaͤndlich genug iſt, mit
aͤſthetiſcher Kraft zu ſagen und recht ſinnlich zu
machen.

Die Anmerkung, daß jeder des andern Zuſtand
fuͤr beſſer haͤlt, als den ſeinigen, iſt an ſich ſchon
verſtaͤndlich genug; dennoch druͤkt Horaz ſie durch
Beyſpiele aus:

O! fortunati mercatores, gravis annis
Miles ait, multo jam fractus membra labore.
Contra Mercator navim jactantibus auſtris,
Militia oſt potior. — —
Agricolam laudat juris legumque peritus
— —
Ille — —

(*)
Serm. I. 1.
Solos felices viventes clamat in urbe. (*)

Die Wuͤrkung des aͤſthetiſchen Beyſpiels iſt ver-
ſchieden. Es kann dienen, die allgemeine Wahr-
heit, zu deren Behuf es angefuͤhrt worden iſt, auf
eine aͤſthetiſche Art zu beweiſen, in dem es uns
Faͤlle zu Gemuͤthe fuͤhrt, die wir erlebt haben, die
uns alſo die Wahrheit fuͤhlbar machen. Von die-
ſer Art iſt das angefuͤhrte. Denn wer einige Er-
fahrung hat, muß dergleichen Reden wuͤrklich gehoͤrt
haben. Dieſe Art, Wahrheiten, die jeder aus be-
ſondern Faͤllen unmittelbar abnehmen kann, durch
Anfuͤhrung ſolcher Faͤlle, als Beyſpiele, einzupraͤ-
gen, iſt durch die ganze Beredſamkeit und Dicht-
kunſt von ſehr groſſem Nutzen. Jm Grunde iſt es
(*) S.
Beweisar-
ten.
eine Beweisart durch Jnduktion, (*) und die beſte
Art zu uͤberzeugen. Dergleichen Beyſpiele kann
man beweiſende Beyſpiele nennen; insgemein wer-
den viele nach einander angefuͤhrt. Man kann ſie
hinter dem Satz, deſſen Beweis ſie ſind, anfuͤhren,
oder demſelben vorhergehen laſſen. Die Geſchiklich-
keit, ſolche Beyſpiele gut zu waͤhlen, und (nach
Beſchaffenheit der Umſtaͤnde) kurz oder naiv oder
nachdruͤklich oder mahleriſch vorzutragen, iſt eines
der wichtigſten Talente der Moraliſten.

Bisweilen dienen ſolche Beyſpiele, wenn meh-
rere hinter einander kommen, blos dazu, daß der
Leſer Zeit habe, ſich die allgemeine Wahrheit, an
welcher er ohnedem nicht zweifeln wuͤrde, durch die
Wiederholung derſelben, deſto ſicherer einzupraͤgen,
damit ſie unvergeßlich bleibe. Daher werden bis-
weilen die gemeineſten und bekannteſten Wahrheiten
von mehrern Beyſpielen begleitet, nur daß der Leſer
ſich dabey aufhalte. Was iſt bekannter, als daß
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Bey
der, der einmal geſtorben iſt, fuͤr immer todt iſt?
Aber Horaz fuͤhrt Beyſpiele davon an:

Cum ſemel occideris & de te ſplendida Minos
Fecerit arbitria
Non te Torquate genus, non te facundia, non te
Reſtituet pietas:
Infernis neque enim tenebris Diana pudicum
Liberat Hippolytum;
Nec Lethæa valet Theſeus abrumpere charo
Vincula Pirithoo. (*)
(*) Od.
Lib. IV.
7.

Man koͤnnte dieſe Beyſpiele verweilende Beyſpiele
nennen; weil ſie durch die Verweilung bey einer be-
kannten Wahrheit ſie tiefer einpraͤgen. Man trift
nirgend mehr Beyſpiele dieſer Art an, als beym
Ovidius, dem gleich bey jedem allgemeinen Satz
hundert beſondre Faͤlle ins Gedaͤchtniß kommen.

Bisweilen dient das Beyſpiel, der Wahrheit, die es
enthaͤlt, einen Schmuk zu geben, wodurch ſie rei-
zender wird. So braucht Horaz, anſtatt der
vorher angefuͤhrten lehrenden Beyſpiele, fuͤr die-
ſelbe Wahrheit ein andermal naive mahleriſche
Beyſpiele:

Optat ephippia bos piger; optat arare caballus.

Von dieſer Art ſind auch dieſe Beyſpiele des La Fon-
taine
von der Wahrheit, daß jeder Menſch ſucht
ſich uͤber ſeinen Stand zu erheben:

Tout bourgeois veut batir comme les grands Seigueurs,
Tout petit prince a des Ambaſſadeurs,
Tout Marquis veut avoir des pages.

Dieſe Art des Beyſpiels, das der Vorſtellung eine
beſonders kraͤftige Geſtalt oder Farbe giebt, um ſie
dem Gemuͤthe deſto lebhafter einzupraͤgen, hat wie-
der gar vielerley Formen, die ſich nicht alle ent-
wikeln laſſen. So hat folgende Art des Beyſpiels
eine ungemeine Kraft. Horaz will die allgemeine
Lehre anbringen, daß Ueppigkeit und groſſer Auf-
wand ſich nicht einmal durch groſſen Reichthum ent-
ſchuldigen laſſen. Anſtatt blos allgemein zu ſagen:
das Geld koͤnnte beſſer angewendet werden, ſagt
er dieſes in Beyſpielen, die er noch dazu in drin-
genden Fragen vortraͤgt:

Cur eget indignus quisquam, te divite? quare
Templa ruunt antiqua Deum? Cur, improbe, caræ
Non aliquid patriæ tanto emetiris acervo?
(*)
(*) Ser-
mon. II.
2.
103.

Die Beyſpiele koͤnnen nach der beſondern Abſicht,
die man dabey hat, allgemeiner ſeyn, oder aus ganz

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[166/0178] Bey Bey was an ſich ſelbſt ſchon verſtaͤndlich genug iſt, mit aͤſthetiſcher Kraft zu ſagen und recht ſinnlich zu machen. Die Anmerkung, daß jeder des andern Zuſtand fuͤr beſſer haͤlt, als den ſeinigen, iſt an ſich ſchon verſtaͤndlich genug; dennoch druͤkt Horaz ſie durch Beyſpiele aus: O! fortunati mercatores, gravis annis Miles ait, multo jam fractus membra labore. Contra Mercator navim jactantibus auſtris, Militia oſt potior. — — Agricolam laudat juris legumque peritus — — Ille — — Solos felices viventes clamat in urbe. (*) Die Wuͤrkung des aͤſthetiſchen Beyſpiels iſt ver- ſchieden. Es kann dienen, die allgemeine Wahr- heit, zu deren Behuf es angefuͤhrt worden iſt, auf eine aͤſthetiſche Art zu beweiſen, in dem es uns Faͤlle zu Gemuͤthe fuͤhrt, die wir erlebt haben, die uns alſo die Wahrheit fuͤhlbar machen. Von die- ſer Art iſt das angefuͤhrte. Denn wer einige Er- fahrung hat, muß dergleichen Reden wuͤrklich gehoͤrt haben. Dieſe Art, Wahrheiten, die jeder aus be- ſondern Faͤllen unmittelbar abnehmen kann, durch Anfuͤhrung ſolcher Faͤlle, als Beyſpiele, einzupraͤ- gen, iſt durch die ganze Beredſamkeit und Dicht- kunſt von ſehr groſſem Nutzen. Jm Grunde iſt es eine Beweisart durch Jnduktion, (*) und die beſte Art zu uͤberzeugen. Dergleichen Beyſpiele kann man beweiſende Beyſpiele nennen; insgemein wer- den viele nach einander angefuͤhrt. Man kann ſie hinter dem Satz, deſſen Beweis ſie ſind, anfuͤhren, oder demſelben vorhergehen laſſen. Die Geſchiklich- keit, ſolche Beyſpiele gut zu waͤhlen, und (nach Beſchaffenheit der Umſtaͤnde) kurz oder naiv oder nachdruͤklich oder mahleriſch vorzutragen, iſt eines der wichtigſten Talente der Moraliſten. (*) S. Beweisar- ten. Bisweilen dienen ſolche Beyſpiele, wenn meh- rere hinter einander kommen, blos dazu, daß der Leſer Zeit habe, ſich die allgemeine Wahrheit, an welcher er ohnedem nicht zweifeln wuͤrde, durch die Wiederholung derſelben, deſto ſicherer einzupraͤgen, damit ſie unvergeßlich bleibe. Daher werden bis- weilen die gemeineſten und bekannteſten Wahrheiten von mehrern Beyſpielen begleitet, nur daß der Leſer ſich dabey aufhalte. Was iſt bekannter, als daß der, der einmal geſtorben iſt, fuͤr immer todt iſt? Aber Horaz fuͤhrt Beyſpiele davon an: Cum ſemel occideris & de te ſplendida Minos Fecerit arbitria Non te Torquate genus, non te facundia, non te Reſtituet pietas: Infernis neque enim tenebris Diana pudicum Liberat Hippolytum; Nec Lethæa valet Theſeus abrumpere charo Vincula Pirithoo. (*) Man koͤnnte dieſe Beyſpiele verweilende Beyſpiele nennen; weil ſie durch die Verweilung bey einer be- kannten Wahrheit ſie tiefer einpraͤgen. Man trift nirgend mehr Beyſpiele dieſer Art an, als beym Ovidius, dem gleich bey jedem allgemeinen Satz hundert beſondre Faͤlle ins Gedaͤchtniß kommen. Bisweilen dient das Beyſpiel, der Wahrheit, die es enthaͤlt, einen Schmuk zu geben, wodurch ſie rei- zender wird. So braucht Horaz, anſtatt der vorher angefuͤhrten lehrenden Beyſpiele, fuͤr die- ſelbe Wahrheit ein andermal naive mahleriſche Beyſpiele: Optat ephippia bos piger; optat arare caballus. Von dieſer Art ſind auch dieſe Beyſpiele des La Fon- taine von der Wahrheit, daß jeder Menſch ſucht ſich uͤber ſeinen Stand zu erheben: Tout bourgeois veut batir comme les grands Seigueurs, Tout petit prince a des Ambaſſadeurs, Tout Marquis veut avoir des pages. Dieſe Art des Beyſpiels, das der Vorſtellung eine beſonders kraͤftige Geſtalt oder Farbe giebt, um ſie dem Gemuͤthe deſto lebhafter einzupraͤgen, hat wie- der gar vielerley Formen, die ſich nicht alle ent- wikeln laſſen. So hat folgende Art des Beyſpiels eine ungemeine Kraft. Horaz will die allgemeine Lehre anbringen, daß Ueppigkeit und groſſer Auf- wand ſich nicht einmal durch groſſen Reichthum ent- ſchuldigen laſſen. Anſtatt blos allgemein zu ſagen: das Geld koͤnnte beſſer angewendet werden, ſagt er dieſes in Beyſpielen, die er noch dazu in drin- genden Fragen vortraͤgt: Cur eget indignus quisquam, te divite? quare Templa ruunt antiqua Deum? Cur, improbe, caræ Non aliquid patriæ tanto emetiris acervo? (*) Die Beyſpiele koͤnnen nach der beſondern Abſicht, die man dabey hat, allgemeiner ſeyn, oder aus ganz ein-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/178>, abgerufen am 27.04.2024.