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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Bew
scheinet mir nicht außer allem Zweifel. Wenn ein
scharfsinniger Zuhörer einige schwache Beweise hin-
tereinander anhört, so kann er leicht verdrießlich
werden und die Aufmerksamkeit auf stärkere ver-
lieren. Auf der andern Seite kann man sagen,
daß die lezten Eindrüke immer die wichtigsten sind,
Man findet also bey großen Rednern Beyspiele von
beyden entgegen stehenden Ordnungen.

Am sichersten scheinet es zu seyn, daß man die
Hauptbeweise zuerst vorbringe. Hat man wahr-
scheinlicher Weise damit den Zuhörer nahe an die
Ueberzeugung gebracht, so häufe man schnell noch
verschiedene geringere Beweise zusammen und lasse
sie in geschloßnen Gliedern den Zuhörer angreifen,
so wird die Würkung nach Wunsch ausfallen.

Zur Erläuterung dieser Regel wollen wir setzen,
man habe eine geschehene Sache durch Zeugnisse er-
härtet, oder einen Satz durch andre Gründe so
wahrscheinlich gemacht, daß dem Zuhörer nur noch
wenige Zweifel übrig seyn können. Nun setze man
gleich noch verschiedene kleinere Gründe nach, wel-
che zeigen, daß die Sache der Natur der Personen,
den Zeiten, den Umständen u. s. f. gemäß sey, so
wird aller Zweifel verschwinden. Dieses will ohne
Zweifel Quintilian durch folgende Regel sagen:
Die stärksten Beweife, sagt er, muß man einzeln
wol ausführen, die schwächern kurz aneinander
drengen. -- Wenn man einen beschuldiget er
habe einer Erbschaft halber einen Mord begangen

(und hätte z. E. den Hauptbeweis durch wahrschein-
liche Zeugnisse geführt; so kann man, wenn die
Umstände so sind, folgende Gründe noch hinzu fü-
gen.) Du hattest Anwartschaft darauf, du warst
in Noth und damals von deinen Gläubigern am
stärksten getriehen; dazu hattest du deinen Erblaßer
damals beleidiget, und wußtest daß er das Testa-
ment eben ändern wollte.
Man begreift leicht, daß
solche geschlossene Gründe, eine Sache außer Zweifel
setzen müssen, von welcher man schon durch andre
stärkere Anzeigen bey nahe überzeuget worden.

Sind aber die Beweise so beschaffen, daß die
schwächeren den stärkern zur Grundlage dienen, daß
sie erst dem Zuhörer vorläufig einige Zweifel beneh-
men, ihn in die Denkungsart setzen, die zur Wür-
kung der stärksten Beweise nöthig ist, so muß die
erwähnte Ordnung nothwendig umgekehrt werden.

[Spaltenumbruch]
Bew
Beweisarten.

Es ist nicht genug, daß der Redner die Gründe ge-
funden habe aus welchen die Wahrheit oder Wahr-
scheinlichkeit einer Sache erkennt wird; er muß
diese Gründe so zu behandeln und so vorzutragen
wissen, daß sie ihre völlige Würkung thun; dieses
ist eigentlich das vornehmste in der Kunst zu be-
weisen. [Spaltenumbruch] (+) Die Beweisgründe hat der Redner mit
dem Philosohen und mit dem gemeinen Mann ge-
mein; aber ihre Behandlung, die Art sich ihrer zu
bedienen, ist ihm eigen. Dadurch kann er sich als
einen großen Redner zeigen, daß er so gründlich als
der Weltweise, obgleich nicht so abstrakt und nicht
so genau methodisch; so einfach, als der gemeine
Mann, aber nicht so nachläßig und so wankend in
seinen Beweisen ist.

Zu dieser rednerischen Behandlung der Beweise
gehören verschiedene Dinge; die Form des Bewei-
ses an sich selbst; die Ausziehrung und Ausfüh-
rung; der Ton und Vortrag desselben. Hier ist
von dem ersten Punkt, nämlich der Form des Be-
weises die Rede.

Die Beweisarten sind für den Redner dieselben,
die der Philosoph braucht; alle Arten der Vernunft-
schlüße nach ihren mannigfaltigen Formen und Ge-
stalten. Jede Rede, oder ein Theil derselben,
darin der Beweis einer Sache ausgeführt wird,
muß sich in einen Vernunftschluß auflösen lassen,
der, wenn der Redner gründlich gewesen ist, so wol
in der Materie, als in der Form seine völlige Rich-
tigkeit habe. Nun giebt es, wie bekannt, ungemein
viel Arten solcher Vernunftschlüsse, deren jeder seine
eigene Form und Gestalt hat. Der Redner muß
diejenige zu wählen wissen, die der besondern Be-
schaffenheit seiner Materie am gemäßesten und zu-
gleich für seine Zuhörer die einleuchtendste ist. Der
Philosoph sieht in der Wahl der Beweisart auf
Kürze und Deutlichkeit, der Redner aber auf Klar-
heit und Sinnlichkeit.

Also ist der Grundriß einer jeden Abhandlung
der beweisenden Rede, oder eines Haupttheils des-
selben allemal ein Vernunftschluß von drey oder
von zwey Sätzen. Diesen zu erfinden ist die erste
Arbeit des Redners. Wenn Cicero gegen den
Cecilius beweisen will, daß er und nicht dieser zum

An-
(+) Est prudentiae paene mediocris, quid dicendum sit
videre; alterum est in quo oratoris vis illa divina virtusque
[Spaltenumbruch] cernitur, ea quae dicenda sunt copiose, ornate, varieque
posse dicere. Cic.

[Spaltenumbruch]

Bew
ſcheinet mir nicht außer allem Zweifel. Wenn ein
ſcharfſinniger Zuhoͤrer einige ſchwache Beweiſe hin-
tereinander anhoͤrt, ſo kann er leicht verdrießlich
werden und die Aufmerkſamkeit auf ſtaͤrkere ver-
lieren. Auf der andern Seite kann man ſagen,
daß die lezten Eindruͤke immer die wichtigſten ſind,
Man findet alſo bey großen Rednern Beyſpiele von
beyden entgegen ſtehenden Ordnungen.

Am ſicherſten ſcheinet es zu ſeyn, daß man die
Hauptbeweiſe zuerſt vorbringe. Hat man wahr-
ſcheinlicher Weiſe damit den Zuhoͤrer nahe an die
Ueberzeugung gebracht, ſo haͤufe man ſchnell noch
verſchiedene geringere Beweiſe zuſammen und laſſe
ſie in geſchloßnen Gliedern den Zuhoͤrer angreifen,
ſo wird die Wuͤrkung nach Wunſch ausfallen.

Zur Erlaͤuterung dieſer Regel wollen wir ſetzen,
man habe eine geſchehene Sache durch Zeugniſſe er-
haͤrtet, oder einen Satz durch andre Gruͤnde ſo
wahrſcheinlich gemacht, daß dem Zuhoͤrer nur noch
wenige Zweifel uͤbrig ſeyn koͤnnen. Nun ſetze man
gleich noch verſchiedene kleinere Gruͤnde nach, wel-
che zeigen, daß die Sache der Natur der Perſonen,
den Zeiten, den Umſtaͤnden u. ſ. f. gemaͤß ſey, ſo
wird aller Zweifel verſchwinden. Dieſes will ohne
Zweifel Quintilian durch folgende Regel ſagen:
Die ſtaͤrkſten Beweife, ſagt er, muß man einzeln
wol ausfuͤhren, die ſchwaͤchern kurz aneinander
drengen. — Wenn man einen beſchuldiget er
habe einer Erbſchaft halber einen Mord begangen

(und haͤtte z. E. den Hauptbeweis durch wahrſchein-
liche Zeugniſſe gefuͤhrt; ſo kann man, wenn die
Umſtaͤnde ſo ſind, folgende Gruͤnde noch hinzu fuͤ-
gen.) Du hatteſt Anwartſchaft darauf, du warſt
in Noth und damals von deinen Glaͤubigern am
ſtaͤrkſten getriehen; dazu hatteſt du deinen Erblaßer
damals beleidiget, und wußteſt daß er das Teſta-
ment eben aͤndern wollte.
Man begreift leicht, daß
ſolche geſchloſſene Gruͤnde, eine Sache außer Zweifel
ſetzen muͤſſen, von welcher man ſchon durch andre
ſtaͤrkere Anzeigen bey nahe uͤberzeuget worden.

Sind aber die Beweiſe ſo beſchaffen, daß die
ſchwaͤcheren den ſtaͤrkern zur Grundlage dienen, daß
ſie erſt dem Zuhoͤrer vorlaͤufig einige Zweifel beneh-
men, ihn in die Denkungsart ſetzen, die zur Wuͤr-
kung der ſtaͤrkſten Beweiſe noͤthig iſt, ſo muß die
erwaͤhnte Ordnung nothwendig umgekehrt werden.

[Spaltenumbruch]
Bew
Beweisarten.

Es iſt nicht genug, daß der Redner die Gruͤnde ge-
funden habe aus welchen die Wahrheit oder Wahr-
ſcheinlichkeit einer Sache erkennt wird; er muß
dieſe Gruͤnde ſo zu behandeln und ſo vorzutragen
wiſſen, daß ſie ihre voͤllige Wuͤrkung thun; dieſes
iſt eigentlich das vornehmſte in der Kunſt zu be-
weiſen. [Spaltenumbruch] (†) Die Beweisgruͤnde hat der Redner mit
dem Philoſohen und mit dem gemeinen Mann ge-
mein; aber ihre Behandlung, die Art ſich ihrer zu
bedienen, iſt ihm eigen. Dadurch kann er ſich als
einen großen Redner zeigen, daß er ſo gruͤndlich als
der Weltweiſe, obgleich nicht ſo abſtrakt und nicht
ſo genau methodiſch; ſo einfach, als der gemeine
Mann, aber nicht ſo nachlaͤßig und ſo wankend in
ſeinen Beweiſen iſt.

Zu dieſer redneriſchen Behandlung der Beweiſe
gehoͤren verſchiedene Dinge; die Form des Bewei-
ſes an ſich ſelbſt; die Ausziehrung und Ausfuͤh-
rung; der Ton und Vortrag deſſelben. Hier iſt
von dem erſten Punkt, naͤmlich der Form des Be-
weiſes die Rede.

Die Beweisarten ſind fuͤr den Redner dieſelben,
die der Philoſoph braucht; alle Arten der Vernunft-
ſchluͤße nach ihren mannigfaltigen Formen und Ge-
ſtalten. Jede Rede, oder ein Theil derſelben,
darin der Beweis einer Sache ausgefuͤhrt wird,
muß ſich in einen Vernunftſchluß aufloͤſen laſſen,
der, wenn der Redner gruͤndlich geweſen iſt, ſo wol
in der Materie, als in der Form ſeine voͤllige Rich-
tigkeit habe. Nun giebt es, wie bekannt, ungemein
viel Arten ſolcher Vernunftſchluͤſſe, deren jeder ſeine
eigene Form und Geſtalt hat. Der Redner muß
diejenige zu waͤhlen wiſſen, die der beſondern Be-
ſchaffenheit ſeiner Materie am gemaͤßeſten und zu-
gleich fuͤr ſeine Zuhoͤrer die einleuchtendſte iſt. Der
Philoſoph ſieht in der Wahl der Beweisart auf
Kuͤrze und Deutlichkeit, der Redner aber auf Klar-
heit und Sinnlichkeit.

Alſo iſt der Grundriß einer jeden Abhandlung
der beweiſenden Rede, oder eines Haupttheils deſ-
ſelben allemal ein Vernunftſchluß von drey oder
von zwey Saͤtzen. Dieſen zu erfinden iſt die erſte
Arbeit des Redners. Wenn Cicero gegen den
Cecilius beweiſen will, daß er und nicht dieſer zum

An-
(†) Eſt prudentiæ pæne mediocris, quid dicendum ſit
videre; alterum eſt in quo oratoris vis illa divina virtusque
[Spaltenumbruch] cernitur, ea quæ dicenda ſunt copioſe, ornate, varieque
poſſe dicere. Cic.
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[160/0172] Bew Bew ſcheinet mir nicht außer allem Zweifel. Wenn ein ſcharfſinniger Zuhoͤrer einige ſchwache Beweiſe hin- tereinander anhoͤrt, ſo kann er leicht verdrießlich werden und die Aufmerkſamkeit auf ſtaͤrkere ver- lieren. Auf der andern Seite kann man ſagen, daß die lezten Eindruͤke immer die wichtigſten ſind, Man findet alſo bey großen Rednern Beyſpiele von beyden entgegen ſtehenden Ordnungen. Am ſicherſten ſcheinet es zu ſeyn, daß man die Hauptbeweiſe zuerſt vorbringe. Hat man wahr- ſcheinlicher Weiſe damit den Zuhoͤrer nahe an die Ueberzeugung gebracht, ſo haͤufe man ſchnell noch verſchiedene geringere Beweiſe zuſammen und laſſe ſie in geſchloßnen Gliedern den Zuhoͤrer angreifen, ſo wird die Wuͤrkung nach Wunſch ausfallen. Zur Erlaͤuterung dieſer Regel wollen wir ſetzen, man habe eine geſchehene Sache durch Zeugniſſe er- haͤrtet, oder einen Satz durch andre Gruͤnde ſo wahrſcheinlich gemacht, daß dem Zuhoͤrer nur noch wenige Zweifel uͤbrig ſeyn koͤnnen. Nun ſetze man gleich noch verſchiedene kleinere Gruͤnde nach, wel- che zeigen, daß die Sache der Natur der Perſonen, den Zeiten, den Umſtaͤnden u. ſ. f. gemaͤß ſey, ſo wird aller Zweifel verſchwinden. Dieſes will ohne Zweifel Quintilian durch folgende Regel ſagen: Die ſtaͤrkſten Beweife, ſagt er, muß man einzeln wol ausfuͤhren, die ſchwaͤchern kurz aneinander drengen. — Wenn man einen beſchuldiget er habe einer Erbſchaft halber einen Mord begangen (und haͤtte z. E. den Hauptbeweis durch wahrſchein- liche Zeugniſſe gefuͤhrt; ſo kann man, wenn die Umſtaͤnde ſo ſind, folgende Gruͤnde noch hinzu fuͤ- gen.) Du hatteſt Anwartſchaft darauf, du warſt in Noth und damals von deinen Glaͤubigern am ſtaͤrkſten getriehen; dazu hatteſt du deinen Erblaßer damals beleidiget, und wußteſt daß er das Teſta- ment eben aͤndern wollte. Man begreift leicht, daß ſolche geſchloſſene Gruͤnde, eine Sache außer Zweifel ſetzen muͤſſen, von welcher man ſchon durch andre ſtaͤrkere Anzeigen bey nahe uͤberzeuget worden. Sind aber die Beweiſe ſo beſchaffen, daß die ſchwaͤcheren den ſtaͤrkern zur Grundlage dienen, daß ſie erſt dem Zuhoͤrer vorlaͤufig einige Zweifel beneh- men, ihn in die Denkungsart ſetzen, die zur Wuͤr- kung der ſtaͤrkſten Beweiſe noͤthig iſt, ſo muß die erwaͤhnte Ordnung nothwendig umgekehrt werden. Beweisarten. Es iſt nicht genug, daß der Redner die Gruͤnde ge- funden habe aus welchen die Wahrheit oder Wahr- ſcheinlichkeit einer Sache erkennt wird; er muß dieſe Gruͤnde ſo zu behandeln und ſo vorzutragen wiſſen, daß ſie ihre voͤllige Wuͤrkung thun; dieſes iſt eigentlich das vornehmſte in der Kunſt zu be- weiſen. (†) Die Beweisgruͤnde hat der Redner mit dem Philoſohen und mit dem gemeinen Mann ge- mein; aber ihre Behandlung, die Art ſich ihrer zu bedienen, iſt ihm eigen. Dadurch kann er ſich als einen großen Redner zeigen, daß er ſo gruͤndlich als der Weltweiſe, obgleich nicht ſo abſtrakt und nicht ſo genau methodiſch; ſo einfach, als der gemeine Mann, aber nicht ſo nachlaͤßig und ſo wankend in ſeinen Beweiſen iſt. Zu dieſer redneriſchen Behandlung der Beweiſe gehoͤren verſchiedene Dinge; die Form des Bewei- ſes an ſich ſelbſt; die Ausziehrung und Ausfuͤh- rung; der Ton und Vortrag deſſelben. Hier iſt von dem erſten Punkt, naͤmlich der Form des Be- weiſes die Rede. Die Beweisarten ſind fuͤr den Redner dieſelben, die der Philoſoph braucht; alle Arten der Vernunft- ſchluͤße nach ihren mannigfaltigen Formen und Ge- ſtalten. Jede Rede, oder ein Theil derſelben, darin der Beweis einer Sache ausgefuͤhrt wird, muß ſich in einen Vernunftſchluß aufloͤſen laſſen, der, wenn der Redner gruͤndlich geweſen iſt, ſo wol in der Materie, als in der Form ſeine voͤllige Rich- tigkeit habe. Nun giebt es, wie bekannt, ungemein viel Arten ſolcher Vernunftſchluͤſſe, deren jeder ſeine eigene Form und Geſtalt hat. Der Redner muß diejenige zu waͤhlen wiſſen, die der beſondern Be- ſchaffenheit ſeiner Materie am gemaͤßeſten und zu- gleich fuͤr ſeine Zuhoͤrer die einleuchtendſte iſt. Der Philoſoph ſieht in der Wahl der Beweisart auf Kuͤrze und Deutlichkeit, der Redner aber auf Klar- heit und Sinnlichkeit. Alſo iſt der Grundriß einer jeden Abhandlung der beweiſenden Rede, oder eines Haupttheils deſ- ſelben allemal ein Vernunftſchluß von drey oder von zwey Saͤtzen. Dieſen zu erfinden iſt die erſte Arbeit des Redners. Wenn Cicero gegen den Cecilius beweiſen will, daß er und nicht dieſer zum An- (†) Eſt prudentiæ pæne mediocris, quid dicendum ſit videre; alterum eſt in quo oratoris vis illa divina virtusque cernitur, ea quæ dicenda ſunt copioſe, ornate, varieque poſſe dicere. Cic.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/172>, abgerufen am 24.04.2024.