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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Bew
die Rede bemächtige. Das erste geschieht durch
überführende Beweise. Hiebey kommt es auf zwey
Hauptstüke an, nämlich auf die Erfindung oder
Ausforschung der Beweisgründe, und auf die rich-
tige Anwendung und Ausführung derselben. Einige
alte Lehrer der Redner haben jeden dieser beyden
Punkte in besondern Abhandlungen ausgeführt.
Die Wissenschaft der Erfindung und Erforschung
der Beweisgründe wurd Topica genennt, und die,
welche die Ausführung derselben lehrt, bekam den
Ramen Dialectica. Von der erstern wird in dem
Artikel Beweisgründe gehandelt, und von der an-
dern in dem Art. Beweisarten. Aristoteles und
Cicero haben über beyde gründlich geschrieben, und
die stoische Schule, wie Cicero sagt, hat sich allein
in der zweyten hervorgethan.

Hier bleibet übrig von dem zu sprechen, was
der Redner überhaupt, bey den Beweisen zu be-
denken hat. Zu jedem Beweis werden zwey Eigen-
schaften erfodert, Wahrheit oder doch Wahrschein-
lichkeit, und Deutlichkeit oder wenigstens große
Klarheit.

Die Wahrheit der Sache hängt zwar nicht von
dem Redner ab, sie muß in der Sache selbst lie-
gen, aber bey ihm steht es sie zu erforschen und an-
dern fühlbar zu machen. So lange der Redner
die Wahrheit der Sache, die er behaupten will, nicht
selbst einsieht, so ist es vergeblich den Beweis zu un-
ternehmen; und wenn er so gar vom Gegentheil
überzeuget ist, so muß er sich dieses nicht einfallen
lassen. Wenn also der Redner sich in vorkommen-
den Fällen nicht bloßstellen will, so muß er über-
haupt bey Erlernung der Kunst und in seinen Be-
mühungen in derselben vollkommener zu werden,
sich eine große Gründlichkeit angewöhnen, und sich
vor aller Spizfindigkeit, der falschen Gründlichkeit
kleiner Geister, mit äußerster Sorgfalt hüten.

Zu dem Ende muß er sich in gründlichen Wis-
senschaften fleißig üben, damit er sich ein scharfes
Nachdenken angewöhne und aus seinem eigenen
Gefühl wisse, was wahre Ueberzeugung sey. Hier-
nächst befleiße er sich auch überhaupt durch bestän-
diges Nachdenken die Gründlichkeit des Geschmaks
zu bekommen, wodurch in jeder Sache das Große
und Wichtige von dem kleinen und unerheblichen
richtig unterschieden wird. Er gewöhne sich jede
Vorstellung auf die Waage der gesunden Vernunft
zu legen, um zu sehen, ob sie ein merkliches Gewicht
[Spaltenumbruch]

Bew
habe. Das was würklich wichtig ist, halte er allein
werth überdacht, und dem Gedächtniß anvertraut
zu werden; alles andre lasse er fahren.

Am allermeisten hüte er sich für Spizfinndigkeit,
wodurch irgend ein Schein für das Ansehen einer
Sache erzwungen wird, dessen Nichtigkeit eher durch
die gesunde Vernunft zu fühlen, als durch den Ver-
stand deutlich aus einander zu setzen ist. Es ist
beßer, daß man die Sachen, die nicht einen über-
wiegenden, sehr fühlbaren Grad der Wahrheit ha-
ben, für unausgemacht halte, wenn man sich
gleich darin betröge, als daß man von leichtem
Geiste regiert, alles scheinbare annehme, aus Furcht
sich etwas gutes entgehen zu lassen.

Unumgänglich nothwendig ist es, um ein gründ-
licher Redner zu seyn, daß man keine falsche Sache
zu beweisen übernehme, auch keine zu deren Erhär-
tung man nicht offenbare Gründe vor sich sieht.
Denn in diesem Fällen muß man Beweise erzwin-
gen oder erschleichen. Erkennt man die Sache mit
überlegender Vernunft für wahr, so wird man
durch genugsames Nachdenken allemal auch einen
richtigen Beweis dafür finden.

Diesen Geschmak der Gründlichkeit muß man
durch fleißiges Lesen der vorzüglich gründlichen Re-
den der besten griechischen und römischen Redner
und Philosophen erhöhen. Fürnehmlich müssen die
besten Reden des Demostehnes und Cicero vielfäl-
tig gelesen werden.

Zu der Gründlichkeit in dem Beweisen muß auch
die Deutlichkeit hinzukommen. Zwar nicht die
philosophische Deutlichkeit, die jede Vorstellung bis
auf die einfachen Begriffe zergliedert, sondern die
ästhetische Deutlichkeit, die bey dem klaren Gefühl
der Sachen stehen bleibt. Der Redner bleibet in
einzeln Begriffen bey der anschauenden Erkenntnis
stehen, sucht aber denselben einen hohen Grad der
Klarheit und Lebhaftigkeit zu geben. (S. Ueberzeu-
gung.) Diese Fertigkeit deutlich zu seyn, bekommt
man nicht ohne große Bemühung und lange Uebung.
Die meisten Menschen haben aus einer angebohr-
nen Trägheit des Geistes sich angewöhnt, mit klaren
und dabey verworrenen Begriffen und Vorstellun-
gen zufrieden zu seyn. Diese unglükliche Trägheit
muß der gute Redner schlechterdings überwunden
haben. Er muß niemal zufrieden seyn, bis er je-
der Vorstellung, die seinen Geist zu beschäftigen
würdig genug ist, den höchsten Grad der Deutlich-

keit,

[Spaltenumbruch]

Bew
die Rede bemaͤchtige. Das erſte geſchieht durch
uͤberfuͤhrende Beweiſe. Hiebey kommt es auf zwey
Hauptſtuͤke an, naͤmlich auf die Erfindung oder
Ausforſchung der Beweisgruͤnde, und auf die rich-
tige Anwendung und Ausfuͤhrung derſelben. Einige
alte Lehrer der Redner haben jeden dieſer beyden
Punkte in beſondern Abhandlungen ausgefuͤhrt.
Die Wiſſenſchaft der Erfindung und Erforſchung
der Beweisgruͤnde wurd Topica genennt, und die,
welche die Ausfuͤhrung derſelben lehrt, bekam den
Ramen Dialectica. Von der erſtern wird in dem
Artikel Beweisgruͤnde gehandelt, und von der an-
dern in dem Art. Beweisarten. Ariſtoteles und
Cicero haben uͤber beyde gruͤndlich geſchrieben, und
die ſtoiſche Schule, wie Cicero ſagt, hat ſich allein
in der zweyten hervorgethan.

Hier bleibet uͤbrig von dem zu ſprechen, was
der Redner uͤberhaupt, bey den Beweiſen zu be-
denken hat. Zu jedem Beweis werden zwey Eigen-
ſchaften erfodert, Wahrheit oder doch Wahrſchein-
lichkeit, und Deutlichkeit oder wenigſtens große
Klarheit.

Die Wahrheit der Sache haͤngt zwar nicht von
dem Redner ab, ſie muß in der Sache ſelbſt lie-
gen, aber bey ihm ſteht es ſie zu erforſchen und an-
dern fuͤhlbar zu machen. So lange der Redner
die Wahrheit der Sache, die er behaupten will, nicht
ſelbſt einſieht, ſo iſt es vergeblich den Beweis zu un-
ternehmen; und wenn er ſo gar vom Gegentheil
uͤberzeuget iſt, ſo muß er ſich dieſes nicht einfallen
laſſen. Wenn alſo der Redner ſich in vorkommen-
den Faͤllen nicht bloßſtellen will, ſo muß er uͤber-
haupt bey Erlernung der Kunſt und in ſeinen Be-
muͤhungen in derſelben vollkommener zu werden,
ſich eine große Gruͤndlichkeit angewoͤhnen, und ſich
vor aller Spizfindigkeit, der falſchen Gruͤndlichkeit
kleiner Geiſter, mit aͤußerſter Sorgfalt huͤten.

Zu dem Ende muß er ſich in gruͤndlichen Wiſ-
ſenſchaften fleißig uͤben, damit er ſich ein ſcharfes
Nachdenken angewoͤhne und aus ſeinem eigenen
Gefuͤhl wiſſe, was wahre Ueberzeugung ſey. Hier-
naͤchſt befleiße er ſich auch uͤberhaupt durch beſtaͤn-
diges Nachdenken die Gruͤndlichkeit des Geſchmaks
zu bekommen, wodurch in jeder Sache das Große
und Wichtige von dem kleinen und unerheblichen
richtig unterſchieden wird. Er gewoͤhne ſich jede
Vorſtellung auf die Waage der geſunden Vernunft
zu legen, um zu ſehen, ob ſie ein merkliches Gewicht
[Spaltenumbruch]

Bew
habe. Das was wuͤrklich wichtig iſt, halte er allein
werth uͤberdacht, und dem Gedaͤchtniß anvertraut
zu werden; alles andre laſſe er fahren.

Am allermeiſten huͤte er ſich fuͤr Spizfinndigkeit,
wodurch irgend ein Schein fuͤr das Anſehen einer
Sache erzwungen wird, deſſen Nichtigkeit eher durch
die geſunde Vernunft zu fuͤhlen, als durch den Ver-
ſtand deutlich aus einander zu ſetzen iſt. Es iſt
beßer, daß man die Sachen, die nicht einen uͤber-
wiegenden, ſehr fuͤhlbaren Grad der Wahrheit ha-
ben, fuͤr unausgemacht halte, wenn man ſich
gleich darin betroͤge, als daß man von leichtem
Geiſte regiert, alles ſcheinbare annehme, aus Furcht
ſich etwas gutes entgehen zu laſſen.

Unumgaͤnglich nothwendig iſt es, um ein gruͤnd-
licher Redner zu ſeyn, daß man keine falſche Sache
zu beweiſen uͤbernehme, auch keine zu deren Erhaͤr-
tung man nicht offenbare Gruͤnde vor ſich ſieht.
Denn in dieſem Faͤllen muß man Beweiſe erzwin-
gen oder erſchleichen. Erkennt man die Sache mit
uͤberlegender Vernunft fuͤr wahr, ſo wird man
durch genugſames Nachdenken allemal auch einen
richtigen Beweis dafuͤr finden.

Dieſen Geſchmak der Gruͤndlichkeit muß man
durch fleißiges Leſen der vorzuͤglich gruͤndlichen Re-
den der beſten griechiſchen und roͤmiſchen Redner
und Philoſophen erhoͤhen. Fuͤrnehmlich muͤſſen die
beſten Reden des Demoſtehnes und Cicero vielfaͤl-
tig geleſen werden.

Zu der Gruͤndlichkeit in dem Beweiſen muß auch
die Deutlichkeit hinzukommen. Zwar nicht die
philoſophiſche Deutlichkeit, die jede Vorſtellung bis
auf die einfachen Begriffe zergliedert, ſondern die
aͤſthetiſche Deutlichkeit, die bey dem klaren Gefuͤhl
der Sachen ſtehen bleibt. Der Redner bleibet in
einzeln Begriffen bey der anſchauenden Erkenntnis
ſtehen, ſucht aber denſelben einen hohen Grad der
Klarheit und Lebhaftigkeit zu geben. (S. Ueberzeu-
gung.) Dieſe Fertigkeit deutlich zu ſeyn, bekommt
man nicht ohne große Bemuͤhung und lange Uebung.
Die meiſten Menſchen haben aus einer angebohr-
nen Traͤgheit des Geiſtes ſich angewoͤhnt, mit klaren
und dabey verworrenen Begriffen und Vorſtellun-
gen zufrieden zu ſeyn. Dieſe ungluͤkliche Traͤgheit
muß der gute Redner ſchlechterdings uͤberwunden
haben. Er muß niemal zufrieden ſeyn, bis er je-
der Vorſtellung, die ſeinen Geiſt zu beſchaͤftigen
wuͤrdig genug iſt, den hoͤchſten Grad der Deutlich-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/170>, abgerufen am 19.04.2024.