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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ber
keine wichtigen Geschäfte mehr hatte, in seinem Müs-
siggang zu belustigen. Oeffentliche Reden über
wichtige Staatsangelegenheiten hatten nicht mehr
statt; sie wurden aber in den Schulen der Redner
der Jugend, die kein Gefühl der Freyheit und nicht
die geringste Kenntniß der Politik hatte, zur Ue-
bung in der Wolredenheit aufgegeben.

Da indessen alle Kunstgriffe der Redner, alle
Farben der Beredsamkeit, welche die goldne Zeit
der Freyheit hervor gebracht hatte, übrig geblieben
waren, die Seele aber, nämlich die großen und
wichtigen Angelegenheiten, worüber geredt werden
sollte, fehlten; so entstund die zierliche, der Phan-
tasie schmeichelnde Beredsamkeit der neuen Grie-
chen, die sich nur in den Schulen Athens erhalten,
und nachher von da nach Rom ausgebreitet hatte.
Die Kraft des Genies, welche die alten Römer
angewendet hatten, die wichtigsten Angelegenheiten
in ihrem wahren Lichte vorzustellen, dem ganzen Volke
Empfindungen einzuflößen, oder bey ihm Entschlies-
sungen hervor zu bringen, wurde nun angewendet,
den Reden von erdichtetem Jnhalt Zierlichkeit,
Annehmlichkeit und Wolklang zu geben. Die Leh-
rer der Beredsamkeit, die ehedem die jungen Red-
ner in der Staatskunst und in der Wissenschaft, sich
der Gemüther zu bemächtigen, unterrichtet hatten,
wurden Grammatiker, und lehrten schöne Redens-
arten, angenehme Bilder, und witzige Einfälle in
die Rede zu bringen. Jn ihren Schulen wurde
nichts mehr von Staatsinteresse, von der Regie-
rungskunst, sondern von Tropen und Figuren der
Rede gesprochen. Homer wurde nicht mehr als
ein Lehrer der Heerführer und Regenten, sondern
als ein Grammatiker angesehen: man suchte in der
Jlias alle möglichen Figuren der Rede, und fand
bisweilen acht bis zehen verschiedene Figuren in ei-
ner einzigen Redensart. Kurz, die Beredsamkeit
entartete in den Schulen der Rhetoren gerade so,
wie lange hernach die Philosophie unter den Hän-
den der Scholastiker, in einen bloßen Wortkram.
Nur hier und da waren noch einzele gesün-
dere Köpfe, welche die Ueberbleibsel der wahren
Kunst zu reden auf philosophische Materien anwen-
deten.

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Ber

Dieses Schiksal hat die Beredsamkeit unter dem
Volke gehabt, dem die Natur vor allen andern
Völkern alle, zu den Künsten nothwendige, Talente in
reichem Maaße zugetheilt hatte.

Auf eine ganz ähnliche Weise ist die Beredsam-
keit auch in Rom aufgekeimt, zur vollen Reife er-
wachsen, und wieder verwelkt. Die ersten Redner
des römischen Volks hatten keinen Lehrmeister, als
ihren guten und scharfen Verstand, von dem Eifer
für das allgemeine Beste begleitet. Die kurze Rede
des Tiberius Gracchus, die Plutarchus aufbehal-
ten hat, (*) ist ein Meisterstük einer starken natür-(*) S.
Plut. in den
Graechen.

lichen Beredsamkeit. Lange hatten die römischen
Redner keinen andern Lehrer dieser Kunst, als die
Natur. Als sie nachher mit den Griechen bekannt
wurden, lernten sie von ihnen, die Beredsamkeit
als eine Kunst zu studiren und zu üben. Man
lernte sie, wie in Athen, um dadurch einen Ein-
fluß auf die Entschließungen des Senats und des
Volks zu haben, oder wichtigen Rechtssachen, deren
Entscheidung oft vom ganzen Volke abhieng, eine
günstige Wendung zu geben. Das Ansehen und
die Macht, die man sich in Rom durch die Bered-
samkeit geben konnte, brachte diese Kunst in große
Achtung. Man sah Redner entstehen, die sich ne-
ben dem Perikles und Demosthenes hätten zeigen
können. Zu dem höchsten Flor kam sie ebenfalls
in dem Zeitpunkt, da die Freyheit gegen die Un-
terdrükung der Republik kämpfte. Eben die erha-
benen Bestrebungen, die der atheniensische Redner
anwendete, den Fall der griechischen Freyheit aufzu-
halten, wendete auch Cicero an, Rom denselbigen
Dienst zu thun. Der Untergang der Freyheit be-
würkte in Rom, gerade wie in Griechenland, die-
selbe Ausartung der Beredsamkeit, nur mit dem
Unterschied, daß die Römer, deren Genie weniger
zu Spitzfündigkeit geneigt war, sich niemals bis zu
den unendlichen Kleinigkeiten der Rhetorik herun-
ter gelassen, an welche sich die spätern griechi-
schen Rhetoren hielten.

Mit Cicero starb das Große dieser Kunst; aber
wie sich in einem todten Leichnam die Wärme noch
eine Zeitlang hält, so hielt sich auch etwas von dem
scheinbaren Leben derselben nach dieses großen Man-
nes Tode. (+) Ob gleich die politische Beredsamkeit

mit
(+) [Spaltenumbruch] Der Jesult Strada weudet ein Gleichniß, dessen sich
Plutarchus bedient hatte, um den Verfall der griechischen
[Spaltenumbruch] Monarchie nach Aleranders Tode abzubilden, scharffinnig
auf den Verfall der Beredsamkeit nach Ciceros Tode an.
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Ber
keine wichtigen Geſchaͤfte mehr hatte, in ſeinem Muͤſ-
ſiggang zu beluſtigen. Oeffentliche Reden uͤber
wichtige Staatsangelegenheiten hatten nicht mehr
ſtatt; ſie wurden aber in den Schulen der Redner
der Jugend, die kein Gefuͤhl der Freyheit und nicht
die geringſte Kenntniß der Politik hatte, zur Ue-
bung in der Wolredenheit aufgegeben.

Da indeſſen alle Kunſtgriffe der Redner, alle
Farben der Beredſamkeit, welche die goldne Zeit
der Freyheit hervor gebracht hatte, uͤbrig geblieben
waren, die Seele aber, naͤmlich die großen und
wichtigen Angelegenheiten, woruͤber geredt werden
ſollte, fehlten; ſo entſtund die zierliche, der Phan-
taſie ſchmeichelnde Beredſamkeit der neuen Grie-
chen, die ſich nur in den Schulen Athens erhalten,
und nachher von da nach Rom ausgebreitet hatte.
Die Kraft des Genies, welche die alten Roͤmer
angewendet hatten, die wichtigſten Angelegenheiten
in ihrem wahren Lichte vorzuſtellen, dem ganzen Volke
Empfindungen einzufloͤßen, oder bey ihm Entſchlieſ-
ſungen hervor zu bringen, wurde nun angewendet,
den Reden von erdichtetem Jnhalt Zierlichkeit,
Annehmlichkeit und Wolklang zu geben. Die Leh-
rer der Beredſamkeit, die ehedem die jungen Red-
ner in der Staatskunſt und in der Wiſſenſchaft, ſich
der Gemuͤther zu bemaͤchtigen, unterrichtet hatten,
wurden Grammatiker, und lehrten ſchoͤne Redens-
arten, angenehme Bilder, und witzige Einfaͤlle in
die Rede zu bringen. Jn ihren Schulen wurde
nichts mehr von Staatsintereſſe, von der Regie-
rungskunſt, ſondern von Tropen und Figuren der
Rede geſprochen. Homer wurde nicht mehr als
ein Lehrer der Heerfuͤhrer und Regenten, ſondern
als ein Grammatiker angeſehen: man ſuchte in der
Jlias alle moͤglichen Figuren der Rede, und fand
bisweilen acht bis zehen verſchiedene Figuren in ei-
ner einzigen Redensart. Kurz, die Beredſamkeit
entartete in den Schulen der Rhetoren gerade ſo,
wie lange hernach die Philoſophie unter den Haͤn-
den der Scholaſtiker, in einen bloßen Wortkram.
Nur hier und da waren noch einzele geſuͤn-
dere Koͤpfe, welche die Ueberbleibſel der wahren
Kunſt zu reden auf philoſophiſche Materien anwen-
deten.

[Spaltenumbruch]
Ber

Dieſes Schikſal hat die Beredſamkeit unter dem
Volke gehabt, dem die Natur vor allen andern
Voͤlkern alle, zu den Kuͤnſten nothwendige, Talente in
reichem Maaße zugetheilt hatte.

Auf eine ganz aͤhnliche Weiſe iſt die Beredſam-
keit auch in Rom aufgekeimt, zur vollen Reife er-
wachſen, und wieder verwelkt. Die erſten Redner
des roͤmiſchen Volks hatten keinen Lehrmeiſter, als
ihren guten und ſcharfen Verſtand, von dem Eifer
fuͤr das allgemeine Beſte begleitet. Die kurze Rede
des Tiberius Gracchus, die Plutarchus aufbehal-
ten hat, (*) iſt ein Meiſterſtuͤk einer ſtarken natuͤr-(*) S.
Plut. in den
Graechen.

lichen Beredſamkeit. Lange hatten die roͤmiſchen
Redner keinen andern Lehrer dieſer Kunſt, als die
Natur. Als ſie nachher mit den Griechen bekannt
wurden, lernten ſie von ihnen, die Beredſamkeit
als eine Kunſt zu ſtudiren und zu uͤben. Man
lernte ſie, wie in Athen, um dadurch einen Ein-
fluß auf die Entſchließungen des Senats und des
Volks zu haben, oder wichtigen Rechtsſachen, deren
Entſcheidung oft vom ganzen Volke abhieng, eine
guͤnſtige Wendung zu geben. Das Anſehen und
die Macht, die man ſich in Rom durch die Bered-
ſamkeit geben konnte, brachte dieſe Kunſt in große
Achtung. Man ſah Redner entſtehen, die ſich ne-
ben dem Perikles und Demoſthenes haͤtten zeigen
koͤnnen. Zu dem hoͤchſten Flor kam ſie ebenfalls
in dem Zeitpunkt, da die Freyheit gegen die Un-
terdruͤkung der Republik kaͤmpfte. Eben die erha-
benen Beſtrebungen, die der athenienſiſche Redner
anwendete, den Fall der griechiſchen Freyheit aufzu-
halten, wendete auch Cicero an, Rom denſelbigen
Dienſt zu thun. Der Untergang der Freyheit be-
wuͤrkte in Rom, gerade wie in Griechenland, die-
ſelbe Ausartung der Beredſamkeit, nur mit dem
Unterſchied, daß die Roͤmer, deren Genie weniger
zu Spitzfuͤndigkeit geneigt war, ſich niemals bis zu
den unendlichen Kleinigkeiten der Rhetorik herun-
ter gelaſſen, an welche ſich die ſpaͤtern griechi-
ſchen Rhetoren hielten.

Mit Cicero ſtarb das Große dieſer Kunſt; aber
wie ſich in einem todten Leichnam die Waͤrme noch
eine Zeitlang haͤlt, ſo hielt ſich auch etwas von dem
ſcheinbaren Leben derſelben nach dieſes großen Man-
nes Tode. (†) Ob gleich die politiſche Beredſamkeit

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(†) [Spaltenumbruch] Der Jeſult Strada weudet ein Gleichniß, deſſen ſich
Plutarchus bedient hatte, um den Verfall der griechiſchen
[Spaltenumbruch] Monarchie nach Aleranders Tode abzubilden, ſcharffinnig
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[151/0163] Ber Ber keine wichtigen Geſchaͤfte mehr hatte, in ſeinem Muͤſ- ſiggang zu beluſtigen. Oeffentliche Reden uͤber wichtige Staatsangelegenheiten hatten nicht mehr ſtatt; ſie wurden aber in den Schulen der Redner der Jugend, die kein Gefuͤhl der Freyheit und nicht die geringſte Kenntniß der Politik hatte, zur Ue- bung in der Wolredenheit aufgegeben. Da indeſſen alle Kunſtgriffe der Redner, alle Farben der Beredſamkeit, welche die goldne Zeit der Freyheit hervor gebracht hatte, uͤbrig geblieben waren, die Seele aber, naͤmlich die großen und wichtigen Angelegenheiten, woruͤber geredt werden ſollte, fehlten; ſo entſtund die zierliche, der Phan- taſie ſchmeichelnde Beredſamkeit der neuen Grie- chen, die ſich nur in den Schulen Athens erhalten, und nachher von da nach Rom ausgebreitet hatte. Die Kraft des Genies, welche die alten Roͤmer angewendet hatten, die wichtigſten Angelegenheiten in ihrem wahren Lichte vorzuſtellen, dem ganzen Volke Empfindungen einzufloͤßen, oder bey ihm Entſchlieſ- ſungen hervor zu bringen, wurde nun angewendet, den Reden von erdichtetem Jnhalt Zierlichkeit, Annehmlichkeit und Wolklang zu geben. Die Leh- rer der Beredſamkeit, die ehedem die jungen Red- ner in der Staatskunſt und in der Wiſſenſchaft, ſich der Gemuͤther zu bemaͤchtigen, unterrichtet hatten, wurden Grammatiker, und lehrten ſchoͤne Redens- arten, angenehme Bilder, und witzige Einfaͤlle in die Rede zu bringen. Jn ihren Schulen wurde nichts mehr von Staatsintereſſe, von der Regie- rungskunſt, ſondern von Tropen und Figuren der Rede geſprochen. Homer wurde nicht mehr als ein Lehrer der Heerfuͤhrer und Regenten, ſondern als ein Grammatiker angeſehen: man ſuchte in der Jlias alle moͤglichen Figuren der Rede, und fand bisweilen acht bis zehen verſchiedene Figuren in ei- ner einzigen Redensart. Kurz, die Beredſamkeit entartete in den Schulen der Rhetoren gerade ſo, wie lange hernach die Philoſophie unter den Haͤn- den der Scholaſtiker, in einen bloßen Wortkram. Nur hier und da waren noch einzele geſuͤn- dere Koͤpfe, welche die Ueberbleibſel der wahren Kunſt zu reden auf philoſophiſche Materien anwen- deten. Dieſes Schikſal hat die Beredſamkeit unter dem Volke gehabt, dem die Natur vor allen andern Voͤlkern alle, zu den Kuͤnſten nothwendige, Talente in reichem Maaße zugetheilt hatte. Auf eine ganz aͤhnliche Weiſe iſt die Beredſam- keit auch in Rom aufgekeimt, zur vollen Reife er- wachſen, und wieder verwelkt. Die erſten Redner des roͤmiſchen Volks hatten keinen Lehrmeiſter, als ihren guten und ſcharfen Verſtand, von dem Eifer fuͤr das allgemeine Beſte begleitet. Die kurze Rede des Tiberius Gracchus, die Plutarchus aufbehal- ten hat, (*) iſt ein Meiſterſtuͤk einer ſtarken natuͤr- lichen Beredſamkeit. Lange hatten die roͤmiſchen Redner keinen andern Lehrer dieſer Kunſt, als die Natur. Als ſie nachher mit den Griechen bekannt wurden, lernten ſie von ihnen, die Beredſamkeit als eine Kunſt zu ſtudiren und zu uͤben. Man lernte ſie, wie in Athen, um dadurch einen Ein- fluß auf die Entſchließungen des Senats und des Volks zu haben, oder wichtigen Rechtsſachen, deren Entſcheidung oft vom ganzen Volke abhieng, eine guͤnſtige Wendung zu geben. Das Anſehen und die Macht, die man ſich in Rom durch die Bered- ſamkeit geben konnte, brachte dieſe Kunſt in große Achtung. Man ſah Redner entſtehen, die ſich ne- ben dem Perikles und Demoſthenes haͤtten zeigen koͤnnen. Zu dem hoͤchſten Flor kam ſie ebenfalls in dem Zeitpunkt, da die Freyheit gegen die Un- terdruͤkung der Republik kaͤmpfte. Eben die erha- benen Beſtrebungen, die der athenienſiſche Redner anwendete, den Fall der griechiſchen Freyheit aufzu- halten, wendete auch Cicero an, Rom denſelbigen Dienſt zu thun. Der Untergang der Freyheit be- wuͤrkte in Rom, gerade wie in Griechenland, die- ſelbe Ausartung der Beredſamkeit, nur mit dem Unterſchied, daß die Roͤmer, deren Genie weniger zu Spitzfuͤndigkeit geneigt war, ſich niemals bis zu den unendlichen Kleinigkeiten der Rhetorik herun- ter gelaſſen, an welche ſich die ſpaͤtern griechi- ſchen Rhetoren hielten. (*) S. Plut. in den Graechen. Mit Cicero ſtarb das Große dieſer Kunſt; aber wie ſich in einem todten Leichnam die Waͤrme noch eine Zeitlang haͤlt, ſo hielt ſich auch etwas von dem ſcheinbaren Leben derſelben nach dieſes großen Man- nes Tode. (†) Ob gleich die politiſche Beredſamkeit mit (†) Der Jeſult Strada weudet ein Gleichniß, deſſen ſich Plutarchus bedient hatte, um den Verfall der griechiſchen Monarchie nach Aleranders Tode abzubilden, ſcharffinnig auf den Verfall der Beredſamkeit nach Ciceros Tode an. Vt

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/163>, abgerufen am 29.03.2024.