Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Bal Ballet von den Werken der schönen Künste aus-schließen. Man kann verschiedenes zur Beantwortung die- Hiernächst giebt es Empfindungen und Leiden- Es ist gar nicht zu leugnen, daß unsre heutigen Bal spiel überhaupt, und einzeln Veranstaltungen dessel-ben eine wichtigere Wendung geben können. Jnzwischen könnten die Schauspiele, als bloße Die Versuche müßten von dem, was das leich- Aber besondre Handlungen in dem Ballet vor- oder (+) Valer. Max. L. II. c. 10. Haec postquam domestici Scipioni retulerunt, fores reserari eosque intromitti jussit: qui postes ianuae tamquam aliquam religiosissimam aram, sanctumque templum venerati, cupide Scipionis dextram apprehenderunt; ac diu deosculati, positis ante vestibulum [Spaltenumbruch] donis, quae Deorum immortalium numini consecrari solent, laeti, quod Scipionem vidisse contigisset, ad lares rever- tunt. -- -- Hostis iram admiratione sui placavit; Specta- culo praesentiae suae, latronum gestientes oculos obstupe- secit. Q 2
[Spaltenumbruch] Bal Ballet von den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte aus-ſchließen. Man kann verſchiedenes zur Beantwortung die- Hiernaͤchſt giebt es Empfindungen und Leiden- Es iſt gar nicht zu leugnen, daß unſre heutigen Bal ſpiel uͤberhaupt, und einzeln Veranſtaltungen deſſel-ben eine wichtigere Wendung geben koͤnnen. Jnzwiſchen koͤnnten die Schauſpiele, als bloße Die Verſuche muͤßten von dem, was das leich- Aber beſondre Handlungen in dem Ballet vor- oder (†) Valer. Max. L. II. c. 10. Haec poſtquam domeſtici Scipioni retulerunt, fores reſerari eosque intromitti juſſit: qui poſtes ianuae tamquam aliquam religioſiſſimam aram, ſanctumque templum venerati, cupide Scipionis dextram apprehenderunt; ac diu deoſculati, poſitis ante veſtibulum [Spaltenumbruch] donis, quae Deorum immortalium numini conſecrari ſolent, laeti, quod Scipionem vidiſſe contigiſſet, ad lares rever- tunt. — — Hoſtis iram admiratione ſui placavit; Specta- culo praeſentiae ſuae, latronum geſtientes oculos obſtupe- ſecit. Q 2
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Aber freylich<lb/> gehoͤrt etwas ganz anders dazu, als kuͤnſtliche<lb/> Spruͤnge und manierliche Schritte.</p><lb/> <p>Es iſt gar nicht zu leugnen, daß unſre heutigen<lb/> Sitten, die alle oͤffentliche Feyerlichkeiten, als wuͤrk-<lb/> liche buͤrgerliche Handlungen, aufgehoben haben,<lb/> dergleichen Vorſtellungen bey nahe unmoͤglich ma-<lb/> chen. Die heutigen Schauſpiele haben nicht die<lb/> geringſte Beziehung auf oͤffentliche Nationalſitten.<lb/> Doch hebt dieſes die Hoffnung nicht ganz auf, daß<lb/> Maͤnner von außerordentlichem Genie nicht ſollten,<lb/> wenigſtens bey gewiſſen Gelegenheiten, dem Schau-<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Bal</hi></fw><lb/> ſpiel uͤberhaupt, und einzeln Veranſtaltungen deſſel-<lb/> ben eine wichtigere Wendung geben koͤnnen.</p><lb/> <p>Jnzwiſchen koͤnnten die Schauſpiele, als bloße<lb/> Privatanſtalten betrachtet, ſo wie ſie gegenwaͤrtig<lb/> ſind, durch wuͤrklich gute Ballete dennoch merklich<lb/> gewinnen, wenn dieſe in eine wahre Verbindung<lb/> mit der Hauptvorſtellung gebracht wuͤrden. Der<lb/> Taͤnzer hat gerade das in ſeiner Gewalt, wodurch<lb/> die Leidenſchaften ſich am kraͤftigſten aͤußern. Wenn<lb/> er nach geendigtem Drama, oder zwiſchen den Auf-<lb/> zuͤgen, die Eindruͤke, die alsdenn die ſtaͤrkſten ſeyn<lb/> muͤſſen, durch die Mittel, die er hat, unterhaͤlt, und<lb/> den Gegenſtand, der nun den Geiſt oder das Herz<lb/> beſchaͤfftiget, in neuen Geſichtspunkten zeiget, ſo<lb/> kann er ſehr viel zur Wuͤrkung des Stuͤkes beytra-<lb/> gen. Jn ſo fern alſo die Schauſpiele uͤberhaupt<lb/> wichtig ſeyn koͤnnen, kann es auch das Ballet ſeyn.<lb/> Aber freylich muͤßte es eine andre Form bekom-<lb/> men, als es gegenwaͤrtig hat. Dieſe zu erfinden<lb/> iſt keine geringe Sache.</p><lb/> <p>Die Verſuche muͤßten von dem, was das leich-<lb/> teſte iſt, anfangen. Das ſittliche ſcheinet leichter,<lb/> als das leidenſchaftliche zu ſeyn. Ballete, die<lb/> blos einen allgemeinen ſittlichen Charakter haben,<lb/> die Froͤhlichkeit, oder Ernſthaftigkeit, oder lieblichen<lb/> Anſtand der Sitten ausdruͤken, ohne eine beſondre<lb/> Handlung vorzuſtellen, ſind das leichteſte. Wenn<lb/> man uns nach einem intereſſanten Drama, je<lb/> nachdem es einen luſtigen, oder froͤhlichen, oder<lb/> traurigen Ausgang gehabt hat, in einem Tanze<lb/> dieſe Empfindungen uͤberhaupt, nach dem beſondern<lb/> Gepraͤge der Sitten des Volkes, bey dem die Hand-<lb/> lung geſchehen iſt, vorſtellt, ſo thut ein ſolcher<lb/> Tanz ſeine gute Wuͤrkung.</p><lb/> <p>Aber beſondre Handlungen in dem Ballet vor-<lb/> zuſtellen iſt hoͤchſt ſchweer, weil es gar zu leicht<lb/> ins abgeſchmakte faͤllt. Es ſoll nicht die Handlung<lb/> ſelbſt, ſondern gleichſam eine Allegorie derſelben<lb/> ſeyn. Hat der Balletmeiſter eine beſtimmte Hand-<lb/> lung gewaͤhlt, ſo muß er, wie der Mahler, die vor-<lb/> zuͤglichen Augenblike derſelben zuerſt aufſuchen.<lb/> So viel deren in der Handlung ſind, ſo viel Abſaͤtze<lb/> <fw place="bottom" type="sig">Q 2</fw><fw place="bottom" type="catch">oder</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [123/0135]
Bal
Bal
Ballet von den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte aus-
ſchließen.
Man kann verſchiedenes zur Beantwortung die-
ſer Zweifel anfuͤhren. Vors erſte giebt es ſehr
intereſſante Handlungen, die ſich zum eigentlichen
Drama nicht ſchiken, weil es ihnen an der Groͤße
oder Ausdehnung fehlt. Valerius Maximus er-
zaͤhlt eine Anekdote von dem aͤltern Scipio, dem
Afrikaner, der in ſeinem Landhauſe von Straßen-
raͤubern beſucht worden, die man nicht ohne den
Wunſch leſen kann, die Hoheit dieſes großen Man-
nes, und die, ſelbſt Raͤubern, dadurch erwekte Ehr-
furcht, in Minen, Gebehrden und Bewegung vor-
geſtellt zu ſehen. (†) Dieſe Handlung ſchikt ſich
nicht fuͤr das Drama; aber zum Ballet haͤtte ſie
gerade die rechte Groͤße. Die Geſchichte enthaͤlt
ſehr viel Handlungen dieſer Art.
Hiernaͤchſt giebt es Empfindungen und Leiden-
ſchaften, deren Aeußerungen eben nicht nothwen-
dig in einer großen Handlung brauchen vorgeſtellt
zu werden, wo ſo viel Nebendinge die Aufmerk-
ſamkeit zu ſehr zerſtreuen; die man beſſer empfin-
det, wenn alles, was geſchieht, ſich ganz allein und
unmittelbar darauf bezieht. Wer wuͤrde nicht
gern einen Helden in dem Augenblik ſehen, da er
von einem Siege, wodurch er ein Volk gerettet, un-
ter ſeine Buͤrger zuruͤk koͤmmt, nnd von dieſen mit
der Freude, dem Dank und der Ehrfurcht, die er
verdient, empfangen wird? dergleichen Vorſtellun-
gen koͤnnen auf keine beßre Weiſe, als durch den
Schauſpieltanz, nachgeahmt werden. Aber freylich
gehoͤrt etwas ganz anders dazu, als kuͤnſtliche
Spruͤnge und manierliche Schritte.
Es iſt gar nicht zu leugnen, daß unſre heutigen
Sitten, die alle oͤffentliche Feyerlichkeiten, als wuͤrk-
liche buͤrgerliche Handlungen, aufgehoben haben,
dergleichen Vorſtellungen bey nahe unmoͤglich ma-
chen. Die heutigen Schauſpiele haben nicht die
geringſte Beziehung auf oͤffentliche Nationalſitten.
Doch hebt dieſes die Hoffnung nicht ganz auf, daß
Maͤnner von außerordentlichem Genie nicht ſollten,
wenigſtens bey gewiſſen Gelegenheiten, dem Schau-
ſpiel uͤberhaupt, und einzeln Veranſtaltungen deſſel-
ben eine wichtigere Wendung geben koͤnnen.
Jnzwiſchen koͤnnten die Schauſpiele, als bloße
Privatanſtalten betrachtet, ſo wie ſie gegenwaͤrtig
ſind, durch wuͤrklich gute Ballete dennoch merklich
gewinnen, wenn dieſe in eine wahre Verbindung
mit der Hauptvorſtellung gebracht wuͤrden. Der
Taͤnzer hat gerade das in ſeiner Gewalt, wodurch
die Leidenſchaften ſich am kraͤftigſten aͤußern. Wenn
er nach geendigtem Drama, oder zwiſchen den Auf-
zuͤgen, die Eindruͤke, die alsdenn die ſtaͤrkſten ſeyn
muͤſſen, durch die Mittel, die er hat, unterhaͤlt, und
den Gegenſtand, der nun den Geiſt oder das Herz
beſchaͤfftiget, in neuen Geſichtspunkten zeiget, ſo
kann er ſehr viel zur Wuͤrkung des Stuͤkes beytra-
gen. Jn ſo fern alſo die Schauſpiele uͤberhaupt
wichtig ſeyn koͤnnen, kann es auch das Ballet ſeyn.
Aber freylich muͤßte es eine andre Form bekom-
men, als es gegenwaͤrtig hat. Dieſe zu erfinden
iſt keine geringe Sache.
Die Verſuche muͤßten von dem, was das leich-
teſte iſt, anfangen. Das ſittliche ſcheinet leichter,
als das leidenſchaftliche zu ſeyn. Ballete, die
blos einen allgemeinen ſittlichen Charakter haben,
die Froͤhlichkeit, oder Ernſthaftigkeit, oder lieblichen
Anſtand der Sitten ausdruͤken, ohne eine beſondre
Handlung vorzuſtellen, ſind das leichteſte. Wenn
man uns nach einem intereſſanten Drama, je
nachdem es einen luſtigen, oder froͤhlichen, oder
traurigen Ausgang gehabt hat, in einem Tanze
dieſe Empfindungen uͤberhaupt, nach dem beſondern
Gepraͤge der Sitten des Volkes, bey dem die Hand-
lung geſchehen iſt, vorſtellt, ſo thut ein ſolcher
Tanz ſeine gute Wuͤrkung.
Aber beſondre Handlungen in dem Ballet vor-
zuſtellen iſt hoͤchſt ſchweer, weil es gar zu leicht
ins abgeſchmakte faͤllt. Es ſoll nicht die Handlung
ſelbſt, ſondern gleichſam eine Allegorie derſelben
ſeyn. Hat der Balletmeiſter eine beſtimmte Hand-
lung gewaͤhlt, ſo muß er, wie der Mahler, die vor-
zuͤglichen Augenblike derſelben zuerſt aufſuchen.
So viel deren in der Handlung ſind, ſo viel Abſaͤtze
oder
(†) Valer. Max. L. II. c. 10. Haec poſtquam domeſtici
Scipioni retulerunt, fores reſerari eosque intromitti juſſit:
qui poſtes ianuae tamquam aliquam religioſiſſimam aram,
ſanctumque templum venerati, cupide Scipionis dextram
apprehenderunt; ac diu deoſculati, poſitis ante veſtibulum
donis, quae Deorum immortalium numini conſecrari ſolent,
laeti, quod Scipionem vidiſſe contigiſſet, ad lares rever-
tunt. — — Hoſtis iram admiratione ſui placavit; Specta-
culo praeſentiae ſuae, latronum geſtientes oculos obſtupe-
ſecit.
Q 2
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