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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Aus
permittitur Decemviris, ut vendant quibuscunque
in locis videatur. O! perturbatam rationem, o!
libidinem refrenandam, o! consilia dissoluta atque
perdita. Cic. II. de L. Agr.

Ganz andre Würkung thut es, wenn die Aus-
rufung der Vorstellung der Sache vorher geht. Sie
bereitet den Zuhörer zu einem sehr lebhaften Aus-
druk, und reizet seine Vorstellungskraft, genau auf
das, was kommen soll, Achtung zu geben. Er-
folget aber alsdenn nicht etwas ganz wichtiges, so
wird die Rede frostig.

Ausschweiffung.
(Schöne Künste.)

Eine kurze Unterbrechung der eigentlichen Folge
der Begriffe durch Einführung fremder Vorstellun-
gen, welche der Hauptsache nur mittelbar nützlich
sind. Die Alten betrachteten die Ausschweiffung,
welche bey den griechischen Grammatikern #
#, genennt wird, nur, als einen rhetorischen
Kunstgriff. Quintilian sagt deshalb, sie sey die
Einmischung fremder, aber der Hauptsache nützli-
cher Vorstellungen. Alienae rei, sed ad utilitatem
causae pertinentis, extra ordinem excurrens tra-
ctatio.
Dahin rechnet er den Kunstgriff, da
der Redner mitten in der Hauptsache etwas ein-
mischt, das der Sache zwar fremd ist, aber den
Richter auf eine vortheilhafte Weise für die Haupt-
sache einnimmt.

Allein die Ausschweiffung erstrekt sich weiter, und
wird auch von Dichtern und andern Künstlern ge-
braucht. So hat Milton im Anfang des IV. B.
eine Ausschweiffung angebracht, da er uns von
seinem Jnhalt auf sein verlohrnes Gesichte bringt.

Jede Ausschweiffung unterbricht den Zusam-
menhang der Hauptvorstellungen, und muß dem-
nach mit großer Behutsamkeit angebracht werden,
wenn sie nicht nur der Hauptsache nicht schaden,
sondern Vortheil bringen soll. Sie thut die beste
Würkung, wenn man vermuthen kann, daß durch
das, was zur Hauptsache gehört, die Vorstellung,
die man hat erweken wollen, ganz oder größten-
theils bewürkt ist. Alsdenn muß man ihr
etwas Zeit lassen, ihre völlige Kraft zu erhalten.
Wenn man in diesem Fall nichts mehr zu sagen hat,
so kann man durch eine Ausschweiffung den Leser
oder Zuhörer in der guten Verfassung, darin man
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Aus
ihn gesetzt hat, unterhalten, und ihr den letzten
Nachdruk geben.

So wie die Ueberzeugung nicht allemal aus der
Kraft der Beweise entsteht, sondern ofte von einem
vortheilhaften Einfluß des Herzens auf die Vorstel-
lungskraft; so kann eine geschikte Ausschweiffung,
wodurch das Herz an der rechten Sehne gerühret
wird, den Vorstellungen einen großen Nachdruk
geben.

Jn scherzhaften Werken, die blos das Ergötzen
zur Absicht haben, kann man am leichtesten aus-
schweiffen. La Fontaine hat seinen Fabeln und sei-
nen Histörchen die größte Annehmlichkeit durch ar-
tige Ausschweiffungen gegeben. Jn Werken von
ernsthafterm Jnhalt können die Ausschweiffungen
bisweilen auch als Ruhepunkte angesehen werden,
in denen die Aufmerksamkeit etwas ausruhet, um
nicht ganz ermüdet zu werden.

Bisweilen gehört die Ausschweiffung, als ein
charakterisirender Zug, nothwendig zur Sache.
Wenn man einen einfältigen gemeinen Menschen in
einer Erzählung redend einführt, und ihm Aus-
schweiffungen in den Mund leget, so dienen sie un-
gemein zur lebhaften Schilderung desselben. Denn
solchen Leuten sind die Ausschweiffungen ganz na-
türlich.

Eben so natürlich ist die Ausschweiffung einem
Menschen, der von einer einzigen Vorstellung
stark gerührt, sich derselben ganz überläßt, und
dadurch in eine Art von Träumerey geräth, worin
keine enge Verbindungen mehr statt haben. Dies
ist ofte der Fall der Odendichter. Die plötzlichen
Ausweichungen auf sehr entfernte Gegenstände sind
eine Art der Ausschweiffung, welche der Ode ganz
eigen ist.

Jn Werken, wo die Vorstellungen sehr gedrängt
sind, wie im Trauerspiel, haben die Ausschweiffun-
gen schweerlich statt. Es ist verdrüßlich, wenn man
bey interessanten Scenen, wo man in beständiger
Erwartung des folgenden ist, durch Ausschweiffun-
gen in der Folge seiner Vorstellungen immer unter-
brochen wird.

Außenseite.
(Baukunst.)

Eine der Hauptseiten eines Gebäudes, die man
von außen übersieht. Ein vierekigtes ganz frey-
stehendes Gebäude hat also vier Außenseiten. Die

vornehm-
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Aus
permittitur Decemviris, ut vendant quibuscunque
in locis videatur. O! perturbatam rationem, o!
libidinem refrenandam, o! conſilia diſſoluta atque
perdita. Cic. II. de L. Agr.

Ganz andre Wuͤrkung thut es, wenn die Aus-
rufung der Vorſtellung der Sache vorher geht. Sie
bereitet den Zuhoͤrer zu einem ſehr lebhaften Aus-
druk, und reizet ſeine Vorſtellungskraft, genau auf
das, was kommen ſoll, Achtung zu geben. Er-
folget aber alsdenn nicht etwas ganz wichtiges, ſo
wird die Rede froſtig.

Ausſchweiffung.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Eine kurze Unterbrechung der eigentlichen Folge
der Begriffe durch Einfuͤhrung fremder Vorſtellun-
gen, welche der Hauptſache nur mittelbar nuͤtzlich
ſind. Die Alten betrachteten die Ausſchweiffung,
welche bey den griechiſchen Grammatikern #
#, genennt wird, nur, als einen rhetoriſchen
Kunſtgriff. Quintilian ſagt deshalb, ſie ſey die
Einmiſchung fremder, aber der Hauptſache nuͤtzli-
cher Vorſtellungen. Alienae rei, ſed ad utilitatem
cauſae pertinentis, extra ordinem excurrens tra-
ctatio.
Dahin rechnet er den Kunſtgriff, da
der Redner mitten in der Hauptſache etwas ein-
miſcht, das der Sache zwar fremd iſt, aber den
Richter auf eine vortheilhafte Weiſe fuͤr die Haupt-
ſache einnimmt.

Allein die Ausſchweiffung erſtrekt ſich weiter, und
wird auch von Dichtern und andern Kuͤnſtlern ge-
braucht. So hat Milton im Anfang des IV. B.
eine Ausſchweiffung angebracht, da er uns von
ſeinem Jnhalt auf ſein verlohrnes Geſichte bringt.

Jede Ausſchweiffung unterbricht den Zuſam-
menhang der Hauptvorſtellungen, und muß dem-
nach mit großer Behutſamkeit angebracht werden,
wenn ſie nicht nur der Hauptſache nicht ſchaden,
ſondern Vortheil bringen ſoll. Sie thut die beſte
Wuͤrkung, wenn man vermuthen kann, daß durch
das, was zur Hauptſache gehoͤrt, die Vorſtellung,
die man hat erweken wollen, ganz oder groͤßten-
theils bewuͤrkt iſt. Alsdenn muß man ihr
etwas Zeit laſſen, ihre voͤllige Kraft zu erhalten.
Wenn man in dieſem Fall nichts mehr zu ſagen hat,
ſo kann man durch eine Ausſchweiffung den Leſer
oder Zuhoͤrer in der guten Verfaſſung, darin man
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Aus
ihn geſetzt hat, unterhalten, und ihr den letzten
Nachdruk geben.

So wie die Ueberzeugung nicht allemal aus der
Kraft der Beweiſe entſteht, ſondern ofte von einem
vortheilhaften Einfluß des Herzens auf die Vorſtel-
lungskraft; ſo kann eine geſchikte Ausſchweiffung,
wodurch das Herz an der rechten Sehne geruͤhret
wird, den Vorſtellungen einen großen Nachdruk
geben.

Jn ſcherzhaften Werken, die blos das Ergoͤtzen
zur Abſicht haben, kann man am leichteſten aus-
ſchweiffen. La Fontaine hat ſeinen Fabeln und ſei-
nen Hiſtoͤrchen die groͤßte Annehmlichkeit durch ar-
tige Ausſchweiffungen gegeben. Jn Werken von
ernſthafterm Jnhalt koͤnnen die Ausſchweiffungen
bisweilen auch als Ruhepunkte angeſehen werden,
in denen die Aufmerkſamkeit etwas ausruhet, um
nicht ganz ermuͤdet zu werden.

Bisweilen gehoͤrt die Ausſchweiffung, als ein
charakteriſirender Zug, nothwendig zur Sache.
Wenn man einen einfaͤltigen gemeinen Menſchen in
einer Erzaͤhlung redend einfuͤhrt, und ihm Aus-
ſchweiffungen in den Mund leget, ſo dienen ſie un-
gemein zur lebhaften Schilderung deſſelben. Denn
ſolchen Leuten ſind die Ausſchweiffungen ganz na-
tuͤrlich.

Eben ſo natuͤrlich iſt die Ausſchweiffung einem
Menſchen, der von einer einzigen Vorſtellung
ſtark geruͤhrt, ſich derſelben ganz uͤberlaͤßt, und
dadurch in eine Art von Traͤumerey geraͤth, worin
keine enge Verbindungen mehr ſtatt haben. Dies
iſt ofte der Fall der Odendichter. Die ploͤtzlichen
Ausweichungen auf ſehr entfernte Gegenſtaͤnde ſind
eine Art der Ausſchweiffung, welche der Ode ganz
eigen iſt.

Jn Werken, wo die Vorſtellungen ſehr gedraͤngt
ſind, wie im Trauerſpiel, haben die Ausſchweiffun-
gen ſchweerlich ſtatt. Es iſt verdruͤßlich, wenn man
bey intereſſanten Scenen, wo man in beſtaͤndiger
Erwartung des folgenden iſt, durch Ausſchweiffun-
gen in der Folge ſeiner Vorſtellungen immer unter-
brochen wird.

Außenſeite.
(Baukunſt.)

Eine der Hauptſeiten eines Gebaͤudes, die man
von außen uͤberſieht. Ein vierekigtes ganz frey-
ſtehendes Gebaͤude hat alſo vier Außenſeiten. Die

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P 2
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[115/0127] Aus Aus permittitur Decemviris, ut vendant quibuscunque in locis videatur. O! perturbatam rationem, o! libidinem refrenandam, o! conſilia diſſoluta atque perdita. Cic. II. de L. Agr. Ganz andre Wuͤrkung thut es, wenn die Aus- rufung der Vorſtellung der Sache vorher geht. Sie bereitet den Zuhoͤrer zu einem ſehr lebhaften Aus- druk, und reizet ſeine Vorſtellungskraft, genau auf das, was kommen ſoll, Achtung zu geben. Er- folget aber alsdenn nicht etwas ganz wichtiges, ſo wird die Rede froſtig. Ausſchweiffung. (Schoͤne Kuͤnſte.) Eine kurze Unterbrechung der eigentlichen Folge der Begriffe durch Einfuͤhrung fremder Vorſtellun- gen, welche der Hauptſache nur mittelbar nuͤtzlich ſind. Die Alten betrachteten die Ausſchweiffung, welche bey den griechiſchen Grammatikern # #, genennt wird, nur, als einen rhetoriſchen Kunſtgriff. Quintilian ſagt deshalb, ſie ſey die Einmiſchung fremder, aber der Hauptſache nuͤtzli- cher Vorſtellungen. Alienae rei, ſed ad utilitatem cauſae pertinentis, extra ordinem excurrens tra- ctatio. Dahin rechnet er den Kunſtgriff, da der Redner mitten in der Hauptſache etwas ein- miſcht, das der Sache zwar fremd iſt, aber den Richter auf eine vortheilhafte Weiſe fuͤr die Haupt- ſache einnimmt. Allein die Ausſchweiffung erſtrekt ſich weiter, und wird auch von Dichtern und andern Kuͤnſtlern ge- braucht. So hat Milton im Anfang des IV. B. eine Ausſchweiffung angebracht, da er uns von ſeinem Jnhalt auf ſein verlohrnes Geſichte bringt. Jede Ausſchweiffung unterbricht den Zuſam- menhang der Hauptvorſtellungen, und muß dem- nach mit großer Behutſamkeit angebracht werden, wenn ſie nicht nur der Hauptſache nicht ſchaden, ſondern Vortheil bringen ſoll. Sie thut die beſte Wuͤrkung, wenn man vermuthen kann, daß durch das, was zur Hauptſache gehoͤrt, die Vorſtellung, die man hat erweken wollen, ganz oder groͤßten- theils bewuͤrkt iſt. Alsdenn muß man ihr etwas Zeit laſſen, ihre voͤllige Kraft zu erhalten. Wenn man in dieſem Fall nichts mehr zu ſagen hat, ſo kann man durch eine Ausſchweiffung den Leſer oder Zuhoͤrer in der guten Verfaſſung, darin man ihn geſetzt hat, unterhalten, und ihr den letzten Nachdruk geben. So wie die Ueberzeugung nicht allemal aus der Kraft der Beweiſe entſteht, ſondern ofte von einem vortheilhaften Einfluß des Herzens auf die Vorſtel- lungskraft; ſo kann eine geſchikte Ausſchweiffung, wodurch das Herz an der rechten Sehne geruͤhret wird, den Vorſtellungen einen großen Nachdruk geben. Jn ſcherzhaften Werken, die blos das Ergoͤtzen zur Abſicht haben, kann man am leichteſten aus- ſchweiffen. La Fontaine hat ſeinen Fabeln und ſei- nen Hiſtoͤrchen die groͤßte Annehmlichkeit durch ar- tige Ausſchweiffungen gegeben. Jn Werken von ernſthafterm Jnhalt koͤnnen die Ausſchweiffungen bisweilen auch als Ruhepunkte angeſehen werden, in denen die Aufmerkſamkeit etwas ausruhet, um nicht ganz ermuͤdet zu werden. Bisweilen gehoͤrt die Ausſchweiffung, als ein charakteriſirender Zug, nothwendig zur Sache. Wenn man einen einfaͤltigen gemeinen Menſchen in einer Erzaͤhlung redend einfuͤhrt, und ihm Aus- ſchweiffungen in den Mund leget, ſo dienen ſie un- gemein zur lebhaften Schilderung deſſelben. Denn ſolchen Leuten ſind die Ausſchweiffungen ganz na- tuͤrlich. Eben ſo natuͤrlich iſt die Ausſchweiffung einem Menſchen, der von einer einzigen Vorſtellung ſtark geruͤhrt, ſich derſelben ganz uͤberlaͤßt, und dadurch in eine Art von Traͤumerey geraͤth, worin keine enge Verbindungen mehr ſtatt haben. Dies iſt ofte der Fall der Odendichter. Die ploͤtzlichen Ausweichungen auf ſehr entfernte Gegenſtaͤnde ſind eine Art der Ausſchweiffung, welche der Ode ganz eigen iſt. Jn Werken, wo die Vorſtellungen ſehr gedraͤngt ſind, wie im Trauerſpiel, haben die Ausſchweiffun- gen ſchweerlich ſtatt. Es iſt verdruͤßlich, wenn man bey intereſſanten Scenen, wo man in beſtaͤndiger Erwartung des folgenden iſt, durch Ausſchweiffun- gen in der Folge ſeiner Vorſtellungen immer unter- brochen wird. Außenſeite. (Baukunſt.) Eine der Hauptſeiten eines Gebaͤudes, die man von außen uͤberſieht. Ein vierekigtes ganz frey- ſtehendes Gebaͤude hat alſo vier Außenſeiten. Die vornehm- P 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/127>, abgerufen am 24.11.2024.