man hier Wasserfälle von vielerley Gestalten, darun- ter einige von unvergleichlicher Schönheit sind, zu se- hen bekommt.
Von Bellinzona aus ist das Thal ein paar Stunden Weges noch an tausend Schritte breit, und hebt sich nur ganz sanft. Der Ticino hat da ein ziemlich breites Bett und krystallklares Wasser. Das Thal bestehet aus schönem Wiesen- und Ackerland, und überall trifft man schöne Kastanien-Wallnuß- und Obstbäume an. Hier und da siehet man an den An- höhen kleine Dörfer, auch viele einzelne Kirchen und Capellen. Die Berge, zwischen denen man einge- schlossen ist, sind sehr steil, werden allmählig, je wei- ter man ins Thal herauf kommt, höher, und sind hier meist noch durchaus mit Kastanien bewachsen. Von dem gemeinen Nadelholze, das einen etwas käl- tern Himmelsstrich verlangt, ist hier noch nichts zu se- hen. An einem Orte, etwa eine Stunde über Bel- linzona, mußte ich eine ganze Weilestille halten, weil ich mich an dem Berge, an dessen Fusse der Weg hin gieng, nicht satt sehen konnte. Diesen hatte die Natur selbst in mannichfaltige hohe und breite Terrassen abgetheilt. Je- de Terrasse war ein besonderer Felsen, als wenn er durch Kunst nach Lineal und Winkelmaaß wäre behauen worden. Aber nur die senkrecht heruntergehenden Seiten waren kahl. Der obere Theil, die Terrasse, oder Platteforme, war mit dem schönsten Rasen belegt, den zerstreute Kastanienbäume beschatteten. Jede dieser vielfältigen Terrassen schien ihre eigene Annehmlichkeit zu haben. Der herrliche Morgen und die reine Bergluft, die den Sonnenschein heller, und die Farbe des Himmels et- was dunkeler oder blauer macht, trugen auch das Jhrige
bey,
Tagebuch von der Ruͤckreiſe
man hier Waſſerfaͤlle von vielerley Geſtalten, darun- ter einige von unvergleichlicher Schoͤnheit ſind, zu ſe- hen bekommt.
Von Bellinzona aus iſt das Thal ein paar Stunden Weges noch an tauſend Schritte breit, und hebt ſich nur ganz ſanft. Der Ticino hat da ein ziemlich breites Bett und kryſtallklares Waſſer. Das Thal beſtehet aus ſchoͤnem Wieſen- und Ackerland, und uͤberall trifft man ſchoͤne Kaſtanien-Wallnuß- und Obſtbaͤume an. Hier und da ſiehet man an den An- hoͤhen kleine Doͤrfer, auch viele einzelne Kirchen und Capellen. Die Berge, zwiſchen denen man einge- ſchloſſen iſt, ſind ſehr ſteil, werden allmaͤhlig, je wei- ter man ins Thal herauf kommt, hoͤher, und ſind hier meiſt noch durchaus mit Kaſtanien bewachſen. Von dem gemeinen Nadelholze, das einen etwas kaͤl- tern Himmelsſtrich verlangt, iſt hier noch nichts zu ſe- hen. An einem Orte, etwa eine Stunde uͤber Bel- linzona, mußte ich eine ganze Weileſtille halten, weil ich mich an dem Berge, an deſſen Fuſſe der Weg hin gieng, nicht ſatt ſehen konnte. Dieſen hatte die Natur ſelbſt in mannichfaltige hohe und breite Terraſſen abgetheilt. Je- de Terraſſe war ein beſonderer Felſen, als wenn er durch Kunſt nach Lineal und Winkelmaaß waͤre behauen worden. Aber nur die ſenkrecht heruntergehenden Seiten waren kahl. Der obere Theil, die Terraſſe, oder Platteforme, war mit dem ſchoͤnſten Raſen belegt, den zerſtreute Kaſtanienbaͤume beſchatteten. Jede dieſer vielfaͤltigen Terraſſen ſchien ihre eigene Annehmlichkeit zu haben. Der herrliche Morgen und die reine Bergluft, die den Sonnenſchein heller, und die Farbe des Himmels et- was dunkeler oder blauer macht, trugen auch das Jhrige
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Tagebuch von der Ruͤckreiſe
man hier Waſſerfaͤlle von vielerley Geſtalten, darun-
ter einige von unvergleichlicher Schoͤnheit ſind, zu ſe-
hen bekommt.
Von Bellinzona aus iſt das Thal ein paar
Stunden Weges noch an tauſend Schritte breit, und
hebt ſich nur ganz ſanft. Der Ticino hat da ein
ziemlich breites Bett und kryſtallklares Waſſer. Das
Thal beſtehet aus ſchoͤnem Wieſen- und Ackerland, und
uͤberall trifft man ſchoͤne Kaſtanien-Wallnuß- und
Obſtbaͤume an. Hier und da ſiehet man an den An-
hoͤhen kleine Doͤrfer, auch viele einzelne Kirchen und
Capellen. Die Berge, zwiſchen denen man einge-
ſchloſſen iſt, ſind ſehr ſteil, werden allmaͤhlig, je wei-
ter man ins Thal herauf kommt, hoͤher, und ſind
hier meiſt noch durchaus mit Kaſtanien bewachſen.
Von dem gemeinen Nadelholze, das einen etwas kaͤl-
tern Himmelsſtrich verlangt, iſt hier noch nichts zu ſe-
hen. An einem Orte, etwa eine Stunde uͤber Bel-
linzona, mußte ich eine ganze Weileſtille halten, weil ich
mich an dem Berge, an deſſen Fuſſe der Weg hin gieng,
nicht ſatt ſehen konnte. Dieſen hatte die Natur ſelbſt in
mannichfaltige hohe und breite Terraſſen abgetheilt. Je-
de Terraſſe war ein beſonderer Felſen, als wenn er durch
Kunſt nach Lineal und Winkelmaaß waͤre behauen worden.
Aber nur die ſenkrecht heruntergehenden Seiten waren
kahl. Der obere Theil, die Terraſſe, oder Platteforme,
war mit dem ſchoͤnſten Raſen belegt, den zerſtreute
Kaſtanienbaͤume beſchatteten. Jede dieſer vielfaͤltigen
Terraſſen ſchien ihre eigene Annehmlichkeit zu haben.
Der herrliche Morgen und die reine Bergluft, die den
Sonnenſchein heller, und die Farbe des Himmels et-
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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/376>, abgerufen am 22.11.2024.
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