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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.

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Tagebuch von einer nach Nizza
von nicht geringem Stande, und die übrigens nach
ihrer Art eine gute Erziehung gehabt haben, starke
Beweise hievon anführen. Die äußerlichen Reli-
gionsgebräuche ordentlich mitzumachen, dienet ihnen
statt Kenntniß und Frömmigkeit. Man sieht den
Menschen durchgehends bey ihren gottesdienstlichen Ue-
bungen an, daß sie nichts dabey denken. Jhre Pro-
ceßionen und die Umzüge der verschiedenen Brüder-
schaften, die man Büßende (Penitenti) nennt,
geschehen mit solcher Achtlosigkeit und mit solchem
Leichtsinn, daß sie mir äußerst anstößig waren. Hät-
te ich nicht gewußt, was es seyn sollte, so hätte ich es
beynahe für Fastnachtslustbarkeiten gehalten. Und
doch sind dieses Dinge, die sie selbst für höchstwichtig
ausgeben.

Gelehrte und philosophische Kenntnisse, selbst
blos historische über den allgemeinen Zustand der Welt,
Bemühungen den Geist aufzuklären, oder den Ge-
schmack zu erhöhen, sind hier gar seltene Dinge; und
Bücher sind hier sehr schwer zu bekommen. Jch bin
in dem vornehmsten der hiesigen zwey Buchläden ge-
wesen, habe aber außer den Gebet- und Litaneybü-
chern kein anderes darin gesehen, als Wörterbü-
cher der Sprachen. Es ist nur ein einziger Edelmann
in Nizza, der eine Bibliothek besitzt, in welcher man
die Werke der berühmtesten Schriftsteller, sowohl in
Wissenschaften als in Werken des Geschmacks, antrifft.
Eine andre mit guter Wahl gesammelte kleine Samm-
lung von Büchern habe ich bey einem sehr geschickten
Advocaten angetroffen. Jch will auch nicht verschwei-
gen, daß ich ein paar Frauen, die eine vom ersten
Stande, und die andre vom zweyten Range, gese-

hen

Tagebuch von einer nach Nizza
von nicht geringem Stande, und die uͤbrigens nach
ihrer Art eine gute Erziehung gehabt haben, ſtarke
Beweiſe hievon anfuͤhren. Die aͤußerlichen Reli-
gionsgebraͤuche ordentlich mitzumachen, dienet ihnen
ſtatt Kenntniß und Froͤmmigkeit. Man ſieht den
Menſchen durchgehends bey ihren gottesdienſtlichen Ue-
bungen an, daß ſie nichts dabey denken. Jhre Pro-
ceßionen und die Umzuͤge der verſchiedenen Bruͤder-
ſchaften, die man Buͤßende (Penitenti) nennt,
geſchehen mit ſolcher Achtloſigkeit und mit ſolchem
Leichtſinn, daß ſie mir aͤußerſt anſtoͤßig waren. Haͤt-
te ich nicht gewußt, was es ſeyn ſollte, ſo haͤtte ich es
beynahe fuͤr Faſtnachtsluſtbarkeiten gehalten. Und
doch ſind dieſes Dinge, die ſie ſelbſt fuͤr hoͤchſtwichtig
ausgeben.

Gelehrte und philoſophiſche Kenntniſſe, ſelbſt
blos hiſtoriſche uͤber den allgemeinen Zuſtand der Welt,
Bemuͤhungen den Geiſt aufzuklaͤren, oder den Ge-
ſchmack zu erhoͤhen, ſind hier gar ſeltene Dinge; und
Buͤcher ſind hier ſehr ſchwer zu bekommen. Jch bin
in dem vornehmſten der hieſigen zwey Buchlaͤden ge-
weſen, habe aber außer den Gebet- und Litaneybuͤ-
chern kein anderes darin geſehen, als Woͤrterbuͤ-
cher der Sprachen. Es iſt nur ein einziger Edelmann
in Nizza, der eine Bibliothek beſitzt, in welcher man
die Werke der beruͤhmteſten Schriftſteller, ſowohl in
Wiſſenſchaften als in Werken des Geſchmacks, antrifft.
Eine andre mit guter Wahl geſammelte kleine Samm-
lung von Buͤchern habe ich bey einem ſehr geſchickten
Advocaten angetroffen. Jch will auch nicht verſchwei-
gen, daß ich ein paar Frauen, die eine vom erſten
Stande, und die andre vom zweyten Range, geſe-

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[196/0216] Tagebuch von einer nach Nizza von nicht geringem Stande, und die uͤbrigens nach ihrer Art eine gute Erziehung gehabt haben, ſtarke Beweiſe hievon anfuͤhren. Die aͤußerlichen Reli- gionsgebraͤuche ordentlich mitzumachen, dienet ihnen ſtatt Kenntniß und Froͤmmigkeit. Man ſieht den Menſchen durchgehends bey ihren gottesdienſtlichen Ue- bungen an, daß ſie nichts dabey denken. Jhre Pro- ceßionen und die Umzuͤge der verſchiedenen Bruͤder- ſchaften, die man Buͤßende (Penitenti) nennt, geſchehen mit ſolcher Achtloſigkeit und mit ſolchem Leichtſinn, daß ſie mir aͤußerſt anſtoͤßig waren. Haͤt- te ich nicht gewußt, was es ſeyn ſollte, ſo haͤtte ich es beynahe fuͤr Faſtnachtsluſtbarkeiten gehalten. Und doch ſind dieſes Dinge, die ſie ſelbſt fuͤr hoͤchſtwichtig ausgeben. Gelehrte und philoſophiſche Kenntniſſe, ſelbſt blos hiſtoriſche uͤber den allgemeinen Zuſtand der Welt, Bemuͤhungen den Geiſt aufzuklaͤren, oder den Ge- ſchmack zu erhoͤhen, ſind hier gar ſeltene Dinge; und Buͤcher ſind hier ſehr ſchwer zu bekommen. Jch bin in dem vornehmſten der hieſigen zwey Buchlaͤden ge- weſen, habe aber außer den Gebet- und Litaneybuͤ- chern kein anderes darin geſehen, als Woͤrterbuͤ- cher der Sprachen. Es iſt nur ein einziger Edelmann in Nizza, der eine Bibliothek beſitzt, in welcher man die Werke der beruͤhmteſten Schriftſteller, ſowohl in Wiſſenſchaften als in Werken des Geſchmacks, antrifft. Eine andre mit guter Wahl geſammelte kleine Samm- lung von Buͤchern habe ich bey einem ſehr geſchickten Advocaten angetroffen. Jch will auch nicht verſchwei- gen, daß ich ein paar Frauen, die eine vom erſten Stande, und die andre vom zweyten Range, geſe- hen

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/216>, abgerufen am 22.11.2024.