Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Beschreibung einiger Merckwüdigkeiten, Welche er in einer Ao. 1742. gemachten Berg-Reise durch einige Oerter der Schweitz beobachtet hat. Zürich, 1742.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorbericht.
Ewigkeit lange rathen/ ohne auf die wahre Beschaffenheit der
Sache zu kommen: Wenn er sich aber die Mühe nähme/ der Na-
tur in ihren Würckungen nachzugehen/ und zu beobachten/ durch
was für Wege sie geht/ ehe die Pflanze vollkommen gemacht ist/
so würde er die wahren Ursachen entdecken/ woher eine jede Pflanze
kömmt. Er würde nemlich sehen/ daß eine jede zur Zeitigung
gekommene Pflanze ihren Saamen fallen läßt/ er würde sehen/
daß dieser Saame/ wenn er in feuchte Erde kömmt/ erst auf-
schwillt/ hernach sich öffnet und kleine Wurzeln und Blätter von
sich stößt/ er würde sehen/ wie diese Wurzeln und Blätter durch
den eindringenden Nahrungs-Saft immer mehr und mehr entwi-
kelt werden/ u. s. f. So würde er in kurzer Zeit Sachen erfahren/
die er sonst niemalen würde ergründet haben. Wenn er nun in
seiner Beobachtung der Natur noch weiter gienge/ so würde er
auch die fehrnern Ursachen des Wachsthums der Pflanzen wahr-
nehmen.

Diese Beobachtung der Natur/ da man ihr in allen ihren
Würckungen nachgehet/ ist der einzige sichere Weg/ uns zu einer
wahren Erkänntniß derselben zu führen/ alle übrige sind falsch
und betrüglich. Denn wenn wir uns oft einbilden/ eine Sache
auf das genaueste durch Vernunft Schlüsse entdeckt zu haben, so
kömmt auf einmal etwas an den Tag/ das unser schönes Ge-
bäude über einen Hauffen wirfft. Es ist auch gar leichte zu be-
greiffen/ daß unser Verstand unendlich zu klein ist/ durch Ver-
nunft-Schlüsse zu finden/ wie die allergeringste Würckung der
Natur hervor gebracht wird/ wenn wir es nicht würcklich von
der Natur selbst gelernt haben. Denn da dem grossen Schöpfer
aller Dinge unendliche Wege möglich gewesen/ etwas hervorzu-
bringen/ und er aus diesen unendlichen Wegen allemal den besten
gewählt hat/ so wäre es sehr verwegen/ wenn sich ein Mensch
vermessen wollte/ aus sich selbst darauf zu fallen.

Wer demnach den Namen eines Naturforschers verdienen
will/ der muß auch die Natur zu seiner einzigen Lehrerin anneh-
men/ und seinem Verstand nichts zutrauen. Er muß sich niema-

len

Vorbericht.
Ewigkeit lange rathen/ ohne auf die wahre Beſchaffenheit der
Sache zu kommen: Wenn er ſich aber die Muͤhe naͤhme/ der Na-
tur in ihren Wuͤrckungen nachzugehen/ und zu beobachten/ durch
was fuͤr Wege ſie geht/ ehe die Pflanze vollkommen gemacht iſt/
ſo wuͤrde er die wahren Urſachen entdecken/ woher eine jede Pflanze
koͤmmt. Er wuͤrde nemlich ſehen/ daß eine jede zur Zeitigung
gekommene Pflanze ihren Saamen fallen laͤßt/ er wuͤrde ſehen/
daß dieſer Saame/ wenn er in feuchte Erde koͤmmt/ erſt auf-
ſchwillt/ hernach ſich oͤffnet und kleine Wurzeln und Blaͤtter von
ſich ſtoͤßt/ er wuͤrde ſehen/ wie dieſe Wurzeln und Blaͤtter durch
den eindringenden Nahrungs-Saft immer mehr und mehr entwi-
kelt werden/ u. ſ. f. So wuͤrde er in kurzer Zeit Sachen erfahren/
die er ſonſt niemalen wuͤrde ergruͤndet haben. Wenn er nun in
ſeiner Beobachtung der Natur noch weiter gienge/ ſo wuͤrde er
auch die fehrnern Urſachen des Wachsthums der Pflanzen wahr-
nehmen.

Dieſe Beobachtung der Natur/ da man ihr in allen ihren
Wuͤrckungen nachgehet/ iſt der einzige ſichere Weg/ uns zu einer
wahren Erkaͤnntniß derſelben zu fuͤhren/ alle uͤbrige ſind falſch
und betruͤglich. Denn wenn wir uns oft einbilden/ eine Sache
auf das genaueſte durch Vernunft Schluͤſſe entdeckt zu haben, ſo
koͤmmt auf einmal etwas an den Tag/ das unſer ſchoͤnes Ge-
baͤude uͤber einen Hauffen wirfft. Es iſt auch gar leichte zu be-
greiffen/ daß unſer Verſtand unendlich zu klein iſt/ durch Ver-
nunft-Schluͤſſe zu finden/ wie die allergeringſte Wuͤrckung der
Natur hervor gebracht wird/ wenn wir es nicht wuͤrcklich von
der Natur ſelbſt gelernt haben. Denn da dem groſſen Schoͤpfer
aller Dinge unendliche Wege moͤglich geweſen/ etwas hervorzu-
bringen/ und er aus dieſen unendlichen Wegen allemal den beſten
gewaͤhlt hat/ ſo waͤre es ſehr verwegen/ wenn ſich ein Menſch
vermeſſen wollte/ aus ſich ſelbſt darauf zu fallen.

Wer demnach den Namen eines Naturforſchers verdienen
will/ der muß auch die Natur zu ſeiner einzigen Lehrerin anneh-
men/ und ſeinem Verſtand nichts zutrauen. Er muß ſich niema-

len
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="preface" n="1">
        <p><pb facs="#f0012" n="8"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Vorbericht.</hi></fw><lb/>
Ewigkeit lange rathen/ ohne auf die wahre Be&#x017F;chaffenheit der<lb/>
Sache zu kommen: Wenn er &#x017F;ich aber die Mu&#x0364;he na&#x0364;hme/ der Na-<lb/>
tur in ihren Wu&#x0364;rckungen nachzugehen/ und zu beobachten/ durch<lb/>
was fu&#x0364;r Wege &#x017F;ie geht/ ehe die Pflanze vollkommen gemacht i&#x017F;t/<lb/>
&#x017F;o wu&#x0364;rde er die wahren Ur&#x017F;achen entdecken/ woher eine jede Pflanze<lb/>
ko&#x0364;mmt. Er wu&#x0364;rde nemlich &#x017F;ehen/ daß eine jede zur Zeitigung<lb/>
gekommene Pflanze ihren Saamen fallen la&#x0364;ßt/ er wu&#x0364;rde &#x017F;ehen/<lb/>
daß die&#x017F;er Saame/ wenn er in feuchte Erde ko&#x0364;mmt/ er&#x017F;t auf-<lb/>
&#x017F;chwillt/ hernach &#x017F;ich o&#x0364;ffnet und kleine Wurzeln und Bla&#x0364;tter von<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;to&#x0364;ßt/ er wu&#x0364;rde &#x017F;ehen/ wie die&#x017F;e Wurzeln und Bla&#x0364;tter durch<lb/>
den eindringenden Nahrungs-Saft immer mehr und mehr entwi-<lb/>
kelt werden/ u. &#x017F;. f. So wu&#x0364;rde er in kurzer Zeit Sachen erfahren/<lb/>
die er &#x017F;on&#x017F;t niemalen wu&#x0364;rde ergru&#x0364;ndet haben. Wenn er nun in<lb/>
&#x017F;einer Beobachtung der Natur noch weiter gienge/ &#x017F;o wu&#x0364;rde er<lb/>
auch die fehrnern Ur&#x017F;achen des Wachsthums der Pflanzen wahr-<lb/>
nehmen.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e Beobachtung der Natur/ da man ihr in allen ihren<lb/>
Wu&#x0364;rckungen nachgehet/ i&#x017F;t der einzige &#x017F;ichere Weg/ uns zu einer<lb/>
wahren Erka&#x0364;nntniß der&#x017F;elben zu fu&#x0364;hren/ alle u&#x0364;brige &#x017F;ind fal&#x017F;ch<lb/>
und betru&#x0364;glich. Denn wenn wir uns oft einbilden/ eine Sache<lb/>
auf das genaue&#x017F;te durch Vernunft Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e entdeckt zu haben, &#x017F;o<lb/>
ko&#x0364;mmt auf einmal etwas an den Tag/ das un&#x017F;er &#x017F;cho&#x0364;nes Ge-<lb/>
ba&#x0364;ude u&#x0364;ber einen Hauffen wirfft. Es i&#x017F;t auch gar leichte zu be-<lb/>
greiffen/ daß un&#x017F;er Ver&#x017F;tand unendlich zu klein i&#x017F;t/ durch Ver-<lb/>
nunft-Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e zu finden/ wie die allergering&#x017F;te Wu&#x0364;rckung der<lb/>
Natur hervor gebracht wird/ wenn wir es nicht wu&#x0364;rcklich von<lb/>
der Natur &#x017F;elb&#x017F;t gelernt haben. Denn da dem gro&#x017F;&#x017F;en Scho&#x0364;pfer<lb/>
aller Dinge unendliche Wege mo&#x0364;glich gewe&#x017F;en/ etwas hervorzu-<lb/>
bringen/ und er aus die&#x017F;en unendlichen Wegen allemal den be&#x017F;ten<lb/>
gewa&#x0364;hlt hat/ &#x017F;o wa&#x0364;re es &#x017F;ehr verwegen/ wenn &#x017F;ich ein Men&#x017F;ch<lb/>
verme&#x017F;&#x017F;en wollte/ aus &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t darauf zu fallen.</p><lb/>
        <p>Wer demnach den Namen eines Naturfor&#x017F;chers verdienen<lb/>
will/ der muß auch die Natur zu &#x017F;einer einzigen Lehrerin anneh-<lb/>
men/ und &#x017F;einem Ver&#x017F;tand nichts zutrauen. Er muß &#x017F;ich niema-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">len</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0012] Vorbericht. Ewigkeit lange rathen/ ohne auf die wahre Beſchaffenheit der Sache zu kommen: Wenn er ſich aber die Muͤhe naͤhme/ der Na- tur in ihren Wuͤrckungen nachzugehen/ und zu beobachten/ durch was fuͤr Wege ſie geht/ ehe die Pflanze vollkommen gemacht iſt/ ſo wuͤrde er die wahren Urſachen entdecken/ woher eine jede Pflanze koͤmmt. Er wuͤrde nemlich ſehen/ daß eine jede zur Zeitigung gekommene Pflanze ihren Saamen fallen laͤßt/ er wuͤrde ſehen/ daß dieſer Saame/ wenn er in feuchte Erde koͤmmt/ erſt auf- ſchwillt/ hernach ſich oͤffnet und kleine Wurzeln und Blaͤtter von ſich ſtoͤßt/ er wuͤrde ſehen/ wie dieſe Wurzeln und Blaͤtter durch den eindringenden Nahrungs-Saft immer mehr und mehr entwi- kelt werden/ u. ſ. f. So wuͤrde er in kurzer Zeit Sachen erfahren/ die er ſonſt niemalen wuͤrde ergruͤndet haben. Wenn er nun in ſeiner Beobachtung der Natur noch weiter gienge/ ſo wuͤrde er auch die fehrnern Urſachen des Wachsthums der Pflanzen wahr- nehmen. Dieſe Beobachtung der Natur/ da man ihr in allen ihren Wuͤrckungen nachgehet/ iſt der einzige ſichere Weg/ uns zu einer wahren Erkaͤnntniß derſelben zu fuͤhren/ alle uͤbrige ſind falſch und betruͤglich. Denn wenn wir uns oft einbilden/ eine Sache auf das genaueſte durch Vernunft Schluͤſſe entdeckt zu haben, ſo koͤmmt auf einmal etwas an den Tag/ das unſer ſchoͤnes Ge- baͤude uͤber einen Hauffen wirfft. Es iſt auch gar leichte zu be- greiffen/ daß unſer Verſtand unendlich zu klein iſt/ durch Ver- nunft-Schluͤſſe zu finden/ wie die allergeringſte Wuͤrckung der Natur hervor gebracht wird/ wenn wir es nicht wuͤrcklich von der Natur ſelbſt gelernt haben. Denn da dem groſſen Schoͤpfer aller Dinge unendliche Wege moͤglich geweſen/ etwas hervorzu- bringen/ und er aus dieſen unendlichen Wegen allemal den beſten gewaͤhlt hat/ ſo waͤre es ſehr verwegen/ wenn ſich ein Menſch vermeſſen wollte/ aus ſich ſelbſt darauf zu fallen. Wer demnach den Namen eines Naturforſchers verdienen will/ der muß auch die Natur zu ſeiner einzigen Lehrerin anneh- men/ und ſeinem Verſtand nichts zutrauen. Er muß ſich niema- len

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1742
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1742/12
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Beschreibung einiger Merckwüdigkeiten, Welche er in einer Ao. 1742. gemachten Berg-Reise durch einige Oerter der Schweitz beobachtet hat. Zürich, 1742, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1742/12>, abgerufen am 20.04.2024.