Kräfte schwächen und den Gift zu sich nehmen, der ihnen den Tod, obschon nicht so gleich, verursachet.
Wenn man aber auch nur diejenigen allein be- trachtet, die sich selbst vorsetzlich und wissentlich ge- waltsam um das Leben gebracht, so muß einem die grosse Anzahl Schrecken und Nachdencken verursa- chen. In 10 Jahren sind ihrer 501, das macht jährlich 50. Dieses veranlasset mich zur Untersu- chung der Meinung, ob die Engelländer vor an- dern zum Selbstmord geneiget? Wenn ich setze, daß die Zahl der Einwohner in Berlin zu der in London ist wie 1 zu 7, welches nicht viel wird ge- fehlet seyn, so müsten hier in Berlin, wenn anders diese Unmenschlichkeit hier so herrschete, jährlich sie- ben dergleichen unglückselige Creaturen gefunden werden, welches doch, wofür die göttliche Gnade zu preisen, der Erfahrung nicht gemäß ist. Es ist nicht zu leugnen, es finden sich hier zuweilen der- gleichen Feinde ihrer selbst, aber es gehen oft Jahre hin, darinnen man nichts höret. Und eben das will ich auch wohl von andern volckreichen Städten Teutschlandes zum voraus mit ziemlicher Gewiß- heit behaupten. Findet sich nun aber dieses an an- dern Orten Engellands eben so? und ist dieser Mord- Geist der gantzen Nation gemein und eigen? Mich dünckt, daß solches nicht vermuthlich, und daß daher solcher alleine bey denen Einwohnern in der Stadt London sich in solchem Grad befinde. Die Ursach des häuffigen Mordes wird mehrentheils in dem melancholischen Temperament der Engelländer ge- suchet. Allein das ist lange nicht genug. Die En- gelländer sind dabey vernünftige Leute, und wissen sich auch die Grillen zu vertreiben. Es muß also
wohl
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und ihrer Verhaͤltniß.
Kraͤfte ſchwaͤchen und den Gift zu ſich nehmen, der ihnen den Tod, obſchon nicht ſo gleich, verurſachet.
Wenn man aber auch nur diejenigen allein be- trachtet, die ſich ſelbſt vorſetzlich und wiſſentlich ge- waltſam um das Leben gebracht, ſo muß einem die groſſe Anzahl Schrecken und Nachdencken verurſa- chen. In 10 Jahren ſind ihrer 501, das macht jaͤhrlich 50. Dieſes veranlaſſet mich zur Unterſu- chung der Meinung, ob die Engellaͤnder vor an- dern zum Selbſtmord geneiget? Wenn ich ſetze, daß die Zahl der Einwohner in Berlin zu der in London iſt wie 1 zu 7, welches nicht viel wird ge- fehlet ſeyn, ſo muͤſten hier in Berlin, wenn anders dieſe Unmenſchlichkeit hier ſo herrſchete, jaͤhrlich ſie- ben dergleichen ungluͤckſelige Creaturen gefunden werden, welches doch, wofuͤr die goͤttliche Gnade zu preiſen, der Erfahrung nicht gemaͤß iſt. Es iſt nicht zu leugnen, es finden ſich hier zuweilen der- gleichen Feinde ihrer ſelbſt, aber es gehen oft Jahre hin, darinnen man nichts hoͤret. Und eben das will ich auch wohl von andern volckreichen Staͤdten Teutſchlandes zum voraus mit ziemlicher Gewiß- heit behaupten. Findet ſich nun aber dieſes an an- dern Orten Engellands eben ſo? und iſt dieſer Mord- Geiſt der gantzen Nation gemein und eigen? Mich duͤnckt, daß ſolches nicht vermuthlich, und daß daher ſolcher alleine bey denen Einwohnern in der Stadt London ſich in ſolchem Grad befinde. Die Urſach des haͤuffigen Mordes wird mehrentheils in dem melancholiſchen Temperament der Engellaͤnder ge- ſuchet. Allein das iſt lange nicht genug. Die En- gellaͤnder ſind dabey vernuͤnftige Leute, und wiſſen ſich auch die Grillen zu vertreiben. Es muß alſo
wohl
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und ihrer Verhaͤltniß.
Kraͤfte ſchwaͤchen und den Gift zu ſich nehmen, der
ihnen den Tod, obſchon nicht ſo gleich, verurſachet.
Wenn man aber auch nur diejenigen allein be-
trachtet, die ſich ſelbſt vorſetzlich und wiſſentlich ge-
waltſam um das Leben gebracht, ſo muß einem die
groſſe Anzahl Schrecken und Nachdencken verurſa-
chen. In 10 Jahren ſind ihrer 501, das macht
jaͤhrlich 50. Dieſes veranlaſſet mich zur Unterſu-
chung der Meinung, ob die Engellaͤnder vor an-
dern zum Selbſtmord geneiget? Wenn ich ſetze,
daß die Zahl der Einwohner in Berlin zu der in
London iſt wie 1 zu 7, welches nicht viel wird ge-
fehlet ſeyn, ſo muͤſten hier in Berlin, wenn anders
dieſe Unmenſchlichkeit hier ſo herrſchete, jaͤhrlich ſie-
ben dergleichen ungluͤckſelige Creaturen gefunden
werden, welches doch, wofuͤr die goͤttliche Gnade
zu preiſen, der Erfahrung nicht gemaͤß iſt. Es iſt
nicht zu leugnen, es finden ſich hier zuweilen der-
gleichen Feinde ihrer ſelbſt, aber es gehen oft Jahre
hin, darinnen man nichts hoͤret. Und eben das
will ich auch wohl von andern volckreichen Staͤdten
Teutſchlandes zum voraus mit ziemlicher Gewiß-
heit behaupten. Findet ſich nun aber dieſes an an-
dern Orten Engellands eben ſo? und iſt dieſer Mord-
Geiſt der gantzen Nation gemein und eigen? Mich
duͤnckt, daß ſolches nicht vermuthlich, und daß daher
ſolcher alleine bey denen Einwohnern in der Stadt
London ſich in ſolchem Grad befinde. Die Urſach
des haͤuffigen Mordes wird mehrentheils in dem
melancholiſchen Temperament der Engellaͤnder ge-
ſuchet. Allein das iſt lange nicht genug. Die En-
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Süssmilch, Johann Peter: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben. Berlin, 1741, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/suessmilch_ordnung_1741/345>, abgerufen am 23.11.2024.
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