Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sturza, Marie Tihanyi: Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau. Leipzig, 1905

Bild:
<< vorherige Seite

freien Entwickelung unserer Persönlichkeit den geringsten Spielraum zu lassen. - Nun weiß ich aber, daß die amerikanische Erziehungsmethode, das gerade Gegenteil der unserigen, sich auch hier, wenigstens bei uns, nach und nach Bahn bricht. Die jungen Mädchen werden nicht mehr den Blicken verhüllt wie Odalisken. Sie besuchen sich ohne Zwang, schreiben sich, empfangen einander, ohne daß sich eine aufreizende Aufsicht zwischen sie schöbe, mit der Anmaßung, ihr Urteil umzustimmen, ihre Neigung zu lenken. Glaube mir, wenn man mich noch so gut bewachte, so könnte ich, ich bin gewiß, meine Wächterin täuschen, wenn ich wollte! Die jungen Frauen sind ihre mächtigen Helferinnen bei dieser Emanzipation, die Gott sei Dank, immer mehr an Boden gewinnt. Man fängt an, sie anders zu betrachten als ein Spielzeug, als Gänschen, die von der Wiege bis zum Grabe im Käfig gehalten werden müssen. Und sie gewinnen dem Leben einen neuen, individuellen Reiz ab, der ihren Geist erweitert."

"Und sie verderbt macht!" rief Frau von Ellissen entsetzt aus. "Stella, wenn dich dein Vater hörte!"

"Verderbt macht!" erwiderte Stella verächtlich. "Was ist denn verderbt? Was ist es nicht? Du wärst wohl in Verlegenheit, mir das zu sagen. Es

freien Entwickelung unserer Persönlichkeit den geringsten Spielraum zu lassen. – Nun weiß ich aber, daß die amerikanische Erziehungsmethode, das gerade Gegenteil der unserigen, sich auch hier, wenigstens bei uns, nach und nach Bahn bricht. Die jungen Mädchen werden nicht mehr den Blicken verhüllt wie Odalisken. Sie besuchen sich ohne Zwang, schreiben sich, empfangen einander, ohne daß sich eine aufreizende Aufsicht zwischen sie schöbe, mit der Anmaßung, ihr Urteil umzustimmen, ihre Neigung zu lenken. Glaube mir, wenn man mich noch so gut bewachte, so könnte ich, ich bin gewiß, meine Wächterin täuschen, wenn ich wollte! Die jungen Frauen sind ihre mächtigen Helferinnen bei dieser Emanzipation, die Gott sei Dank, immer mehr an Boden gewinnt. Man fängt an, sie anders zu betrachten als ein Spielzeug, als Gänschen, die von der Wiege bis zum Grabe im Käfig gehalten werden müssen. Und sie gewinnen dem Leben einen neuen, individuellen Reiz ab, der ihren Geist erweitert.“

„Und sie verderbt macht!“ rief Frau von Ellissen entsetzt aus. „Stella, wenn dich dein Vater hörte!“

„Verderbt macht!“ erwiderte Stella verächtlich. „Was ist denn verderbt? Was ist es nicht? Du wärst wohl in Verlegenheit, mir das zu sagen. Es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0074" n="73"/>
freien Entwickelung unserer Persönlichkeit den geringsten Spielraum zu lassen. &#x2013; Nun weiß ich aber, daß die amerikanische Erziehungsmethode, das gerade Gegenteil der unserigen, sich auch hier, wenigstens bei uns, nach und nach Bahn bricht. Die jungen Mädchen werden nicht mehr den Blicken verhüllt wie Odalisken. Sie besuchen sich ohne Zwang, schreiben sich, empfangen einander, ohne daß sich eine aufreizende Aufsicht zwischen sie schöbe, mit der Anmaßung, ihr Urteil umzustimmen, ihre Neigung zu lenken. Glaube mir, wenn man mich noch so gut bewachte, so könnte ich, ich bin gewiß, meine Wächterin täuschen, wenn ich wollte! Die jungen Frauen sind ihre mächtigen Helferinnen bei dieser Emanzipation, die Gott sei Dank, immer mehr an Boden gewinnt. Man fängt an, sie anders zu betrachten als ein Spielzeug, als Gänschen, die von der Wiege bis zum Grabe im Käfig gehalten werden müssen. Und sie gewinnen dem Leben einen neuen, individuellen Reiz ab, der ihren Geist erweitert.&#x201C;</p>
        <p>&#x201E;Und sie verderbt macht!&#x201C; rief Frau von Ellissen entsetzt aus. &#x201E;Stella, wenn dich dein Vater hörte!&#x201C;</p>
        <p>&#x201E;Verderbt macht!&#x201C; erwiderte Stella verächtlich. &#x201E;Was ist denn verderbt? Was ist es nicht? Du wärst wohl in Verlegenheit, mir das zu sagen. Es
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0074] freien Entwickelung unserer Persönlichkeit den geringsten Spielraum zu lassen. – Nun weiß ich aber, daß die amerikanische Erziehungsmethode, das gerade Gegenteil der unserigen, sich auch hier, wenigstens bei uns, nach und nach Bahn bricht. Die jungen Mädchen werden nicht mehr den Blicken verhüllt wie Odalisken. Sie besuchen sich ohne Zwang, schreiben sich, empfangen einander, ohne daß sich eine aufreizende Aufsicht zwischen sie schöbe, mit der Anmaßung, ihr Urteil umzustimmen, ihre Neigung zu lenken. Glaube mir, wenn man mich noch so gut bewachte, so könnte ich, ich bin gewiß, meine Wächterin täuschen, wenn ich wollte! Die jungen Frauen sind ihre mächtigen Helferinnen bei dieser Emanzipation, die Gott sei Dank, immer mehr an Boden gewinnt. Man fängt an, sie anders zu betrachten als ein Spielzeug, als Gänschen, die von der Wiege bis zum Grabe im Käfig gehalten werden müssen. Und sie gewinnen dem Leben einen neuen, individuellen Reiz ab, der ihren Geist erweitert.“ „Und sie verderbt macht!“ rief Frau von Ellissen entsetzt aus. „Stella, wenn dich dein Vater hörte!“ „Verderbt macht!“ erwiderte Stella verächtlich. „Was ist denn verderbt? Was ist es nicht? Du wärst wohl in Verlegenheit, mir das zu sagen. Es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-29T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-29T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-29T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sturza_geluebde_1905
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sturza_geluebde_1905/74
Zitationshilfe: Sturza, Marie Tihanyi: Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau. Leipzig, 1905, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturza_geluebde_1905/74>, abgerufen am 25.11.2024.