Sturza, Marie Tihanyi: Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau. Leipzig, 1905Man hat mir schon gütigst zugestanden, daß ich nicht nur Hoffnungen errege, sondern die Gewißheit eines großen Talentes hätte, das sich bald offenbaren werde. Da wähnte ich mich dem Ziele nahe und mehr und mehr streckte ich meine Arme nach Ihnen aus. Doch in dem Maße, als ich vorschreite, ziehen Sie sich zurück und weichen meinem täglich heftiger werdenden Verlangen aus." "Weil ich alt werde, lieber Freund," sagte Frau von Ellissen sanft. "Der Unterschied der Jahre zwischen uns bleibt immer gleich; er ist heute nicht größer, als vor zwei Jahren." "Ich war kaum achtundzwanzig, mein lieber Fred, und Sie zweiundzwanzig. Die Leiden Ihrer Kindheit hatten Ihre Jugend vor der Zeit ernst gemacht, während ich mädchenhaft jung geblieben war in der Sorglosigkeit meines friedlichen Lebens, das unter dem fast väterlichen Schutze meines seither verstorbenen Gatten gleichsam im Schlummer lag. - Aber Sorgen bringen rasch den Ernst: die Tochter meines Mannes war zu erziehen, ihre Interessen zu vertreten. Das Gefühl der Kindlichkeit, das in mir lebte, schwand, die Jahre haben ihr Werk vollbracht - Man hat mir schon gütigst zugestanden, daß ich nicht nur Hoffnungen errege, sondern die Gewißheit eines großen Talentes hätte, das sich bald offenbaren werde. Da wähnte ich mich dem Ziele nahe und mehr und mehr streckte ich meine Arme nach Ihnen aus. Doch in dem Maße, als ich vorschreite, ziehen Sie sich zurück und weichen meinem täglich heftiger werdenden Verlangen aus.“ „Weil ich alt werde, lieber Freund,“ sagte Frau von Ellissen sanft. „Der Unterschied der Jahre zwischen uns bleibt immer gleich; er ist heute nicht größer, als vor zwei Jahren.“ »Ich war kaum achtundzwanzig, mein lieber Fred, und Sie zweiundzwanzig. Die Leiden Ihrer Kindheit hatten Ihre Jugend vor der Zeit ernst gemacht, während ich mädchenhaft jung geblieben war in der Sorglosigkeit meines friedlichen Lebens, das unter dem fast väterlichen Schutze meines seither verstorbenen Gatten gleichsam im Schlummer lag. – Aber Sorgen bringen rasch den Ernst: die Tochter meines Mannes war zu erziehen, ihre Interessen zu vertreten. Das Gefühl der Kindlichkeit, das in mir lebte, schwand, die Jahre haben ihr Werk vollbracht – <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0022" n="21"/> Man hat mir schon gütigst zugestanden, daß ich nicht nur Hoffnungen errege, sondern die Gewißheit eines großen Talentes hätte, das sich bald offenbaren werde. Da wähnte ich mich dem Ziele nahe und mehr und mehr streckte ich meine Arme nach Ihnen aus. Doch in dem Maße, als ich vorschreite, ziehen Sie sich zurück und weichen meinem täglich heftiger werdenden Verlangen aus.“</p> <p>„Weil ich alt werde, lieber Freund,“ sagte Frau von Ellissen sanft.</p> <p>„Der Unterschied der Jahre zwischen uns bleibt immer gleich; er ist heute nicht größer, als vor zwei Jahren.“</p> <p>»Ich war kaum achtundzwanzig, mein lieber Fred, und Sie zweiundzwanzig. Die Leiden Ihrer Kindheit hatten Ihre Jugend vor der Zeit ernst gemacht, während ich mädchenhaft jung geblieben war in der Sorglosigkeit meines friedlichen Lebens, das unter dem fast väterlichen Schutze meines seither verstorbenen Gatten gleichsam im Schlummer lag. – Aber Sorgen bringen rasch den Ernst: die Tochter meines Mannes war zu erziehen, ihre Interessen zu vertreten. Das Gefühl der Kindlichkeit, das in mir lebte, schwand, die Jahre haben ihr Werk vollbracht – </p> </div> </body> </text> </TEI> [21/0022]
Man hat mir schon gütigst zugestanden, daß ich nicht nur Hoffnungen errege, sondern die Gewißheit eines großen Talentes hätte, das sich bald offenbaren werde. Da wähnte ich mich dem Ziele nahe und mehr und mehr streckte ich meine Arme nach Ihnen aus. Doch in dem Maße, als ich vorschreite, ziehen Sie sich zurück und weichen meinem täglich heftiger werdenden Verlangen aus.“
„Weil ich alt werde, lieber Freund,“ sagte Frau von Ellissen sanft.
„Der Unterschied der Jahre zwischen uns bleibt immer gleich; er ist heute nicht größer, als vor zwei Jahren.“
»Ich war kaum achtundzwanzig, mein lieber Fred, und Sie zweiundzwanzig. Die Leiden Ihrer Kindheit hatten Ihre Jugend vor der Zeit ernst gemacht, während ich mädchenhaft jung geblieben war in der Sorglosigkeit meines friedlichen Lebens, das unter dem fast väterlichen Schutze meines seither verstorbenen Gatten gleichsam im Schlummer lag. – Aber Sorgen bringen rasch den Ernst: die Tochter meines Mannes war zu erziehen, ihre Interessen zu vertreten. Das Gefühl der Kindlichkeit, das in mir lebte, schwand, die Jahre haben ihr Werk vollbracht –
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/sturza_geluebde_1905 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/sturza_geluebde_1905/22 |
Zitationshilfe: | Sturza, Marie Tihanyi: Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau. Leipzig, 1905, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturza_geluebde_1905/22>, abgerufen am 16.07.2024. |