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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Von dem Leiden Jesu selbst.
den, und sein blutrünstiger Leib halb bedeckt mit dem Klei-
de, welches ihm die Soldaten angelegt hatten. Sehet!
rief Pilatus dem Volke zu: welch ein Mensch! Aber die
Hohenpriester und die Gerichtsdiener blieben bey diesem
Anblicke ungerührt. Sobald sie seiner ansichtig wurden,
schrien sie: ans Kreuz, ans Kreuz mit ihm! Dieses
aufrührische Betragen der Juden brachte den Pilatus aus
aller Fassung, und er sagte ihnen mit vieler Heftigkeit:
Wenn ihr denn die Hinrichtung dieses Menschen er-
zwingen wollt, so thut es selbst auf eure Verant-
wortung. Ich will nichts damit zu thun haben:
denn ich finde diesen Mann unschuldig.
Die Juden
erkannten nun, wie wenig Pilatus jetzt geneigt war, ih-
nen zu willfahren. Die Furcht, ihren ganzen Entwurf
vereitelt zu sehen, brachte sie so weit, daß sie sogar eine
Klage vor den heidnischen Richter brachten, die sie und
ihr Gesetz dem Spotte der Heiden blos stellte. Wir ha-
ben, sagten sie, eine Verordnung, und nach dersel-
ben hat er den Tod verwirket; denn er hat sich für
den Sohn Gottes ausgegeben, und dadurch Gott
gelästert.

Praktische Anmerkungen.

1. Der Fortgang in der Sünde beraubt uns endlich aller
menschlichen Empfindungen, und erniedriget uns zu den Thieren.

2. Es ist ein Veweis eines äuserst verderbten Herzens, wenn
man die leidende Unschuld ohne Mitleiden und Rührung betrach-
ten kann.

3. Der Anblick meines leidenden Jesu erinnere mich an die
Grösse meiner Sünden, und erwecke mich zur Reue und zum
ernsten Abscheu an allen Missethaten.

4. Zur Entzündung meiner Liebe, zur Erweckung der Ge-
duld unter allen Leiden, und zur Ueberwindung der Schrecken
des Todes, will ich oft und gläubig meinen Heiland betrachten.

5. Die,
R 5

Von dem Leiden Jeſu ſelbſt.
den, und ſein blutrünſtiger Leib halb bedeckt mit dem Klei-
de, welches ihm die Soldaten angelegt hatten. Sehet!
rief Pilatus dem Volke zu: welch ein Menſch! Aber die
Hohenprieſter und die Gerichtsdiener blieben bey dieſem
Anblicke ungerührt. Sobald ſie ſeiner anſichtig wurden,
ſchrien ſie: ans Kreuz, ans Kreuz mit ihm! Dieſes
aufrühriſche Betragen der Juden brachte den Pilatus aus
aller Faſſung, und er ſagte ihnen mit vieler Heftigkeit:
Wenn ihr denn die Hinrichtung dieſes Menſchen er-
zwingen wollt, ſo thut es ſelbſt auf eure Verant-
wortung. Ich will nichts damit zu thun haben:
denn ich finde dieſen Mann unſchuldig.
Die Juden
erkannten nun, wie wenig Pilatus jetzt geneigt war, ih-
nen zu willfahren. Die Furcht, ihren ganzen Entwurf
vereitelt zu ſehen, brachte ſie ſo weit, daß ſie ſogar eine
Klage vor den heidniſchen Richter brachten, die ſie und
ihr Geſetz dem Spotte der Heiden blos ſtellte. Wir ha-
ben, ſagten ſie, eine Verordnung, und nach derſel-
ben hat er den Tod verwirket; denn er hat ſich für
den Sohn Gottes ausgegeben, und dadurch Gott
geläſtert.

Praktiſche Anmerkungen.

1. Der Fortgang in der Sünde beraubt uns endlich aller
menſchlichen Empfindungen, und erniedriget uns zu den Thieren.

2. Es iſt ein Veweis eines äuſerſt verderbten Herzens, wenn
man die leidende Unſchuld ohne Mitleiden und Rührung betrach-
ten kann.

3. Der Anblick meines leidenden Jeſu erinnere mich an die
Gröſſe meiner Sünden, und erwecke mich zur Reue und zum
ernſten Abſcheu an allen Miſſethaten.

4. Zur Entzündung meiner Liebe, zur Erweckung der Ge-
duld unter allen Leiden, und zur Ueberwindung der Schrecken
des Todes, will ich oft und gläubig meinen Heiland betrachten.

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[265/0287] Von dem Leiden Jeſu ſelbſt. den, und ſein blutrünſtiger Leib halb bedeckt mit dem Klei- de, welches ihm die Soldaten angelegt hatten. Sehet! rief Pilatus dem Volke zu: welch ein Menſch! Aber die Hohenprieſter und die Gerichtsdiener blieben bey dieſem Anblicke ungerührt. Sobald ſie ſeiner anſichtig wurden, ſchrien ſie: ans Kreuz, ans Kreuz mit ihm! Dieſes aufrühriſche Betragen der Juden brachte den Pilatus aus aller Faſſung, und er ſagte ihnen mit vieler Heftigkeit: Wenn ihr denn die Hinrichtung dieſes Menſchen er- zwingen wollt, ſo thut es ſelbſt auf eure Verant- wortung. Ich will nichts damit zu thun haben: denn ich finde dieſen Mann unſchuldig. Die Juden erkannten nun, wie wenig Pilatus jetzt geneigt war, ih- nen zu willfahren. Die Furcht, ihren ganzen Entwurf vereitelt zu ſehen, brachte ſie ſo weit, daß ſie ſogar eine Klage vor den heidniſchen Richter brachten, die ſie und ihr Geſetz dem Spotte der Heiden blos ſtellte. Wir ha- ben, ſagten ſie, eine Verordnung, und nach derſel- ben hat er den Tod verwirket; denn er hat ſich für den Sohn Gottes ausgegeben, und dadurch Gott geläſtert. Praktiſche Anmerkungen. 1. Der Fortgang in der Sünde beraubt uns endlich aller menſchlichen Empfindungen, und erniedriget uns zu den Thieren. 2. Es iſt ein Veweis eines äuſerſt verderbten Herzens, wenn man die leidende Unſchuld ohne Mitleiden und Rührung betrach- ten kann. 3. Der Anblick meines leidenden Jeſu erinnere mich an die Gröſſe meiner Sünden, und erwecke mich zur Reue und zum ernſten Abſcheu an allen Miſſethaten. 4. Zur Entzündung meiner Liebe, zur Erweckung der Ge- duld unter allen Leiden, und zur Ueberwindung der Schrecken des Todes, will ich oft und gläubig meinen Heiland betrachten. 5. Die, R 5

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/287>, abgerufen am 01.07.2024.