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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Vier und dreyßigste Betrachtung.
und Unschuld selbst war, so sehr beschimpft, als ein Vor-
wurf des Fluchs, als ein Scheusal an ein schimpfliches
Holz genagelt wurde, und ihn dennoch nicht davon erretten
konnte! Wenn sie ihn gar blutend und verwundet sahe, und
doch weder seine Wunden verbinden, noch sein Blut stil-
len konnte; wenn sie ihn an dem Rande des Todes sahe,
ohne daß sie vermögend war, ihm seine brechenden Augen
zuzudrücken. Welch ein Schmerz muß dieses fromme Herz
der Mutter Jesu erfüllt haben!

Jedoch vor allen diesen theuren Personen müsse der
Gekreuzigte meine ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Sein Schmerz bey dem Anblicke seiner Geliebten war um
so viel heftiger, je stärker seine Liebe gegen sie war. Die
frommen Seelen, die um sein Kreuz stunden, hatten nur
ein Leiden zu überwinden: aber er hatte in dem Augenblicke
mit tausend Widerwärtigkeiten zu kämpfen. Und dennoch,
wie unaussprechlich groß ist seine Liebe! Dennoch nimmt
er sich der leidenden Freunde an, und vergißt über der Be-
mühung sie zu trösten, seine eigenen Leiden. Nicht von
ohngefähr warf er seinen Blick auf seine Mutter, sondern
es geschah mit gutem Vorbedacht. Er suchte sie mit
seinen Augen, er entdeckte sie mitten unter dem Haufen des
Volks. Er gab ihr zu erkennen, daß er ihre Treue be-
merkt, daß er dadurch gerührt wäre und ihr Mitleiden mit
Mitleiden vergelten wollte! Doch seine Zärtlichkeit er-
zeigte ihr mehr als Mitleiden. Er sorgte auch für ihre Si-
cherheit und Wohlfahrt, und übergab sie der Sorge ei-
nes Jüngers, welcher aus Liebe zu seinem Meister bereit
war, alle Unbequemlichkeiten mit Freuden zu übernehmen.

Hier sehe ich an Jesu den grossen Vortheil, welchen
uns ein tugendhaftes Leben selbst im Tode verspricht. Wenn
Sterbende bey dem Anblicke des nahen Todes in Verwir-
tung und Bestürzung gerathen; wenn sie kaum fähig

sind,

Vier und dreyßigſte Betrachtung.
und Unſchuld ſelbſt war, ſo ſehr beſchimpft, als ein Vor-
wurf des Fluchs, als ein Scheuſal an ein ſchimpfliches
Holz genagelt wurde, und ihn dennoch nicht davon erretten
konnte! Wenn ſie ihn gar blutend und verwundet ſahe, und
doch weder ſeine Wunden verbinden, noch ſein Blut ſtil-
len konnte; wenn ſie ihn an dem Rande des Todes ſahe,
ohne daß ſie vermögend war, ihm ſeine brechenden Augen
zuzudrücken. Welch ein Schmerz muß dieſes fromme Herz
der Mutter Jeſu erfüllt haben!

Jedoch vor allen dieſen theuren Perſonen müſſe der
Gekreuzigte meine ganze Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen.
Sein Schmerz bey dem Anblicke ſeiner Geliebten war um
ſo viel heftiger, je ſtärker ſeine Liebe gegen ſie war. Die
frommen Seelen, die um ſein Kreuz ſtunden, hatten nur
ein Leiden zu überwinden: aber er hatte in dem Augenblicke
mit tauſend Widerwärtigkeiten zu kämpfen. Und dennoch,
wie unausſprechlich groß iſt ſeine Liebe! Dennoch nimmt
er ſich der leidenden Freunde an, und vergißt über der Be-
mühung ſie zu tröſten, ſeine eigenen Leiden. Nicht von
ohngefähr warf er ſeinen Blick auf ſeine Mutter, ſondern
es geſchah mit gutem Vorbedacht. Er ſuchte ſie mit
ſeinen Augen, er entdeckte ſie mitten unter dem Haufen des
Volks. Er gab ihr zu erkennen, daß er ihre Treue be-
merkt, daß er dadurch gerührt wäre und ihr Mitleiden mit
Mitleiden vergelten wollte! Doch ſeine Zärtlichkeit er-
zeigte ihr mehr als Mitleiden. Er ſorgte auch für ihre Si-
cherheit und Wohlfahrt, und übergab ſie der Sorge ei-
nes Jüngers, welcher aus Liebe zu ſeinem Meiſter bereit
war, alle Unbequemlichkeiten mit Freuden zu übernehmen.

Hier ſehe ich an Jeſu den groſſen Vortheil, welchen
uns ein tugendhaftes Leben ſelbſt im Tode verſpricht. Wenn
Sterbende bey dem Anblicke des nahen Todes in Verwir-
tung und Beſtürzung gerathen; wenn ſie kaum fähig

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[154/0176] Vier und dreyßigſte Betrachtung. und Unſchuld ſelbſt war, ſo ſehr beſchimpft, als ein Vor- wurf des Fluchs, als ein Scheuſal an ein ſchimpfliches Holz genagelt wurde, und ihn dennoch nicht davon erretten konnte! Wenn ſie ihn gar blutend und verwundet ſahe, und doch weder ſeine Wunden verbinden, noch ſein Blut ſtil- len konnte; wenn ſie ihn an dem Rande des Todes ſahe, ohne daß ſie vermögend war, ihm ſeine brechenden Augen zuzudrücken. Welch ein Schmerz muß dieſes fromme Herz der Mutter Jeſu erfüllt haben! Jedoch vor allen dieſen theuren Perſonen müſſe der Gekreuzigte meine ganze Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen. Sein Schmerz bey dem Anblicke ſeiner Geliebten war um ſo viel heftiger, je ſtärker ſeine Liebe gegen ſie war. Die frommen Seelen, die um ſein Kreuz ſtunden, hatten nur ein Leiden zu überwinden: aber er hatte in dem Augenblicke mit tauſend Widerwärtigkeiten zu kämpfen. Und dennoch, wie unausſprechlich groß iſt ſeine Liebe! Dennoch nimmt er ſich der leidenden Freunde an, und vergißt über der Be- mühung ſie zu tröſten, ſeine eigenen Leiden. Nicht von ohngefähr warf er ſeinen Blick auf ſeine Mutter, ſondern es geſchah mit gutem Vorbedacht. Er ſuchte ſie mit ſeinen Augen, er entdeckte ſie mitten unter dem Haufen des Volks. Er gab ihr zu erkennen, daß er ihre Treue be- merkt, daß er dadurch gerührt wäre und ihr Mitleiden mit Mitleiden vergelten wollte! Doch ſeine Zärtlichkeit er- zeigte ihr mehr als Mitleiden. Er ſorgte auch für ihre Si- cherheit und Wohlfahrt, und übergab ſie der Sorge ei- nes Jüngers, welcher aus Liebe zu ſeinem Meiſter bereit war, alle Unbequemlichkeiten mit Freuden zu übernehmen. Hier ſehe ich an Jeſu den groſſen Vortheil, welchen uns ein tugendhaftes Leben ſelbſt im Tode verſpricht. Wenn Sterbende bey dem Anblicke des nahen Todes in Verwir- tung und Beſtürzung gerathen; wenn ſie kaum fähig ſind,

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/176>, abgerufen am 24.11.2024.