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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Ein und dreyßigste Betrachtung.
Leiden ein Anstoß wider die göttliche Liebe und Gerechtig-
keit. Als ein Prophet hätte er, wenn er für die Wahr-
heit sterben sollte, so, wie die meisten unter den Propheten,
nach der jüdischen Gewohnheit gesteiniget werden müssen.
Hier aber fügt es die göttliche Vorsehung, daß er eine ganz
andere Todesart erduldete, die mit dem Leiden für die
Wahrheit keine Aehnlichkeit hatte. Er wird ans Kreuz
gehängt, und leidet die Strafe der Sklaven und Missethä-
ter. In dieser Todesart können die herrlichsten Schlüsse
der Weisheit Gottes entdeckt werden, die mir zur Befesti-
gung im Glauben dienen. Eines gewaltsamen Todes
mußte der Heiland schon deswegen sterben, weil er um eig-
ner Sünden willen keinen natürlichen Tod erwarten konn-
te, und die Hand Gotte oder der Menschen, zur Weg-
nehmung einer fremden Schuld, seine Tage verkürzen muß-
te. Daß er aber unter allen gewöhnlichen Todesarten ge-
rade den Kreuzestod litt, dieses geschah durch eine weise Ver-
anstaltung Gottes. Durch keine Art von Todesstrafen
konnte die Gewißheit, daß Jesus unter dem göttlichen Ge-
richte als ein leibeigner Knecht stund, besser erwiesen wer-
den, als durch die Kreuzigung, die den Knechten zuer-
kannt wurde. Es konnte auch die Strafe der Kreuzigung
besonders die Absicht haben, daß der Heiland auf keine ge-
zwungene, sondern freywillige Art starb, da er nicht eher
sterben durfte, als bis alles nach einer gewissen Ordnung
und bedächtigen Steigerung von ihm vollendet war. Ja,
da er in seinen letzten Stunden noch so manches zum Un-
terricht und zur Vollkommenheit seines Opfers leisten mu-
ste, so gab ihm die Zeit bey der Kreuzigung, die langsam
geschah, und wobey seine Seele ohne alle Benebelung in
dem allerfreyesten Gebrauche der Vernunft, wirken und
arbeiten konnte, hiezu die beste Gelegenheit. Als er her-
nach würklich starb, konnte es von ihm heissen, daß er

von

Ein und dreyßigſte Betrachtung.
Leiden ein Anſtoß wider die göttliche Liebe und Gerechtig-
keit. Als ein Prophet hätte er, wenn er für die Wahr-
heit ſterben ſollte, ſo, wie die meiſten unter den Propheten,
nach der jüdiſchen Gewohnheit geſteiniget werden müſſen.
Hier aber fügt es die göttliche Vorſehung, daß er eine ganz
andere Todesart erduldete, die mit dem Leiden für die
Wahrheit keine Aehnlichkeit hatte. Er wird ans Kreuz
gehängt, und leidet die Strafe der Sklaven und Miſſethä-
ter. In dieſer Todesart können die herrlichſten Schlüſſe
der Weisheit Gottes entdeckt werden, die mir zur Befeſti-
gung im Glauben dienen. Eines gewaltſamen Todes
mußte der Heiland ſchon deswegen ſterben, weil er um eig-
ner Sünden willen keinen natürlichen Tod erwarten konn-
te, und die Hand Gotte oder der Menſchen, zur Weg-
nehmung einer fremden Schuld, ſeine Tage verkürzen muß-
te. Daß er aber unter allen gewöhnlichen Todesarten ge-
rade den Kreuzestod litt, dieſes geſchah durch eine weiſe Ver-
anſtaltung Gottes. Durch keine Art von Todesſtrafen
konnte die Gewißheit, daß Jeſus unter dem göttlichen Ge-
richte als ein leibeigner Knecht ſtund, beſſer erwieſen wer-
den, als durch die Kreuzigung, die den Knechten zuer-
kannt wurde. Es konnte auch die Strafe der Kreuzigung
beſonders die Abſicht haben, daß der Heiland auf keine ge-
zwungene, ſondern freywillige Art ſtarb, da er nicht eher
ſterben durfte, als bis alles nach einer gewiſſen Ordnung
und bedächtigen Steigerung von ihm vollendet war. Ja,
da er in ſeinen letzten Stunden noch ſo manches zum Un-
terricht und zur Vollkommenheit ſeines Opfers leiſten mu-
ſte, ſo gab ihm die Zeit bey der Kreuzigung, die langſam
geſchah, und wobey ſeine Seele ohne alle Benebelung in
dem allerfreyeſten Gebrauche der Vernunft, wirken und
arbeiten konnte, hiezu die beſte Gelegenheit. Als er her-
nach würklich ſtarb, konnte es von ihm heiſſen, daß er

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[140/0162] Ein und dreyßigſte Betrachtung. Leiden ein Anſtoß wider die göttliche Liebe und Gerechtig- keit. Als ein Prophet hätte er, wenn er für die Wahr- heit ſterben ſollte, ſo, wie die meiſten unter den Propheten, nach der jüdiſchen Gewohnheit geſteiniget werden müſſen. Hier aber fügt es die göttliche Vorſehung, daß er eine ganz andere Todesart erduldete, die mit dem Leiden für die Wahrheit keine Aehnlichkeit hatte. Er wird ans Kreuz gehängt, und leidet die Strafe der Sklaven und Miſſethä- ter. In dieſer Todesart können die herrlichſten Schlüſſe der Weisheit Gottes entdeckt werden, die mir zur Befeſti- gung im Glauben dienen. Eines gewaltſamen Todes mußte der Heiland ſchon deswegen ſterben, weil er um eig- ner Sünden willen keinen natürlichen Tod erwarten konn- te, und die Hand Gotte oder der Menſchen, zur Weg- nehmung einer fremden Schuld, ſeine Tage verkürzen muß- te. Daß er aber unter allen gewöhnlichen Todesarten ge- rade den Kreuzestod litt, dieſes geſchah durch eine weiſe Ver- anſtaltung Gottes. Durch keine Art von Todesſtrafen konnte die Gewißheit, daß Jeſus unter dem göttlichen Ge- richte als ein leibeigner Knecht ſtund, beſſer erwieſen wer- den, als durch die Kreuzigung, die den Knechten zuer- kannt wurde. Es konnte auch die Strafe der Kreuzigung beſonders die Abſicht haben, daß der Heiland auf keine ge- zwungene, ſondern freywillige Art ſtarb, da er nicht eher ſterben durfte, als bis alles nach einer gewiſſen Ordnung und bedächtigen Steigerung von ihm vollendet war. Ja, da er in ſeinen letzten Stunden noch ſo manches zum Un- terricht und zur Vollkommenheit ſeines Opfers leiſten mu- ſte, ſo gab ihm die Zeit bey der Kreuzigung, die langſam geſchah, und wobey ſeine Seele ohne alle Benebelung in dem allerfreyeſten Gebrauche der Vernunft, wirken und arbeiten konnte, hiezu die beſte Gelegenheit. Als er her- nach würklich ſtarb, konnte es von ihm heiſſen, daß er von

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/162>, abgerufen am 22.11.2024.