Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.Fünf und zwanzigste Betrachtung. jeder Tropfen Blutes zeugt wider euch, und verurtheilt euchwegen eurer Missethaten. Hier solltet ihr an der Stelle eures unschuldigen Jesu stehen: hier solltet ihr alle Schande, allen Fluch und alle Strafen tragen: bluten solltet ihr, und in eurem Blute sterben. Aber hier steht er, der Bürge eurer Sünden! Ihr alle, die ihr vorüber geht, schauet doch und sehet, ward
Fünf und zwanzigſte Betrachtung. jeder Tropfen Blutes zeugt wider euch, und verurtheilt euchwegen eurer Miſſethaten. Hier ſolltet ihr an der Stelle eures unſchuldigen Jeſu ſtehen: hier ſolltet ihr alle Schande, allen Fluch und alle Strafen tragen: bluten ſolltet ihr, und in eurem Blute ſterben. Aber hier ſteht er, der Bürge eurer Sünden! Ihr alle, die ihr vorüber geht, ſchauet doch und ſehet, ward
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0134" n="112"/><fw place="top" type="header">Fünf und zwanzigſte Betrachtung.</fw><lb/> jeder Tropfen Blutes zeugt wider euch, und verurtheilt euch<lb/> wegen eurer Miſſethaten. Hier ſolltet ihr an der Stelle<lb/> eures unſchuldigen Jeſu ſtehen: hier ſolltet ihr alle<lb/> Schande, allen Fluch und alle Strafen tragen: bluten<lb/> ſolltet ihr, und in eurem Blute ſterben.</p><lb/> <p>Aber hier ſteht er, der Bürge eurer Sünden!<lb/> Seine wohlthätigen Hände ſind an eine Schandſäule ge-<lb/> feſſelt, die ſchon ſo oft mit dem ſchuldigen Blute der Miſ-<lb/> ſethäter beſprengt worden iſt. Hier, wo die verruchteſten<lb/> Mörder und Räuber die Strafe ihrer Miſſethaten litten,<lb/> hier muß der Allerunſchuldigſte den Frevel der Sünder er-<lb/> dulden. Mit unmenſchlicher Wuth werden ihm ſeine Klei-<lb/> der abgeriſſen, die das einzige Eigenthum waren, welches<lb/> er auf der Welt beſaß. Rohe Kriegsknechte, die es ge-<lb/> wohnt waren, Menſchenblut ohne Rührung flieſſen zu ſe-<lb/> hen, und Klagen ohne Mitleiden anzubören, ſchwingen<lb/> ihre grauſame Geiſſel über ſeinen Leib. Jeder Schlag<lb/> öfnet neue Blutquellen; und die Riemen graben mit ihren<lb/> Spitzen gleichſam Furchen auf ſeinen Rücken und auf ſeine<lb/> Bruſt. Es iſt nichts geſundes mehr an ſeinem Leibe, und<lb/> nun kann man alle ſeine Gebeine zählen.</p><lb/> <p>Ihr alle, die ihr vorüber geht, ſchauet doch und ſehet,<lb/> ob wohl ein Schmerz iſt, wie ſein Schmerz! Und ach!<lb/> wenn ihr ſeinen zerfleiſchten wunden Leib ſehet, ſo ſehet ihr<lb/> nur einen, vielleicht nur den geringſten Theil ſeines Lei-<lb/> dens. Wie mag ſein Herz bey jedem Schlage gebebt ha-<lb/> ben, und ſein Geiſt zerriſſen worden ſeyn; wie viele Seuf-<lb/> zer mußte er in ſeiner Bruſt erſticken, da er während die-<lb/> ſer unmenſchlichen Mißhandlung kein Wort redete! Und<lb/> er konnte ſchweigen. Jede Wunde, jeder Tropfen Blu-<lb/> tes redete laut genug und jeder Zug ſeines Antlitzes ent-<lb/> deckte den tiefen, tiefen Schmerz, der ſeine ganze Seele<lb/> eingenommen hatte. Denn auch unter dieſen Schlägen<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ward</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [112/0134]
Fünf und zwanzigſte Betrachtung.
jeder Tropfen Blutes zeugt wider euch, und verurtheilt euch
wegen eurer Miſſethaten. Hier ſolltet ihr an der Stelle
eures unſchuldigen Jeſu ſtehen: hier ſolltet ihr alle
Schande, allen Fluch und alle Strafen tragen: bluten
ſolltet ihr, und in eurem Blute ſterben.
Aber hier ſteht er, der Bürge eurer Sünden!
Seine wohlthätigen Hände ſind an eine Schandſäule ge-
feſſelt, die ſchon ſo oft mit dem ſchuldigen Blute der Miſ-
ſethäter beſprengt worden iſt. Hier, wo die verruchteſten
Mörder und Räuber die Strafe ihrer Miſſethaten litten,
hier muß der Allerunſchuldigſte den Frevel der Sünder er-
dulden. Mit unmenſchlicher Wuth werden ihm ſeine Klei-
der abgeriſſen, die das einzige Eigenthum waren, welches
er auf der Welt beſaß. Rohe Kriegsknechte, die es ge-
wohnt waren, Menſchenblut ohne Rührung flieſſen zu ſe-
hen, und Klagen ohne Mitleiden anzubören, ſchwingen
ihre grauſame Geiſſel über ſeinen Leib. Jeder Schlag
öfnet neue Blutquellen; und die Riemen graben mit ihren
Spitzen gleichſam Furchen auf ſeinen Rücken und auf ſeine
Bruſt. Es iſt nichts geſundes mehr an ſeinem Leibe, und
nun kann man alle ſeine Gebeine zählen.
Ihr alle, die ihr vorüber geht, ſchauet doch und ſehet,
ob wohl ein Schmerz iſt, wie ſein Schmerz! Und ach!
wenn ihr ſeinen zerfleiſchten wunden Leib ſehet, ſo ſehet ihr
nur einen, vielleicht nur den geringſten Theil ſeines Lei-
dens. Wie mag ſein Herz bey jedem Schlage gebebt ha-
ben, und ſein Geiſt zerriſſen worden ſeyn; wie viele Seuf-
zer mußte er in ſeiner Bruſt erſticken, da er während die-
ſer unmenſchlichen Mißhandlung kein Wort redete! Und
er konnte ſchweigen. Jede Wunde, jeder Tropfen Blu-
tes redete laut genug und jeder Zug ſeines Antlitzes ent-
deckte den tiefen, tiefen Schmerz, der ſeine ganze Seele
eingenommen hatte. Denn auch unter dieſen Schlägen
ward
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |