den wurde, noch ein Wunder. Er konnte durch einen Blick den gefallnen Petrus zur Busse erwecken. Er be- weiset am Kreuz, daß es in seiner Macht stehe, Sünder zu begnadigen. Und als er die unterste Stufe seiner Er- niedrigung erreichte, als er wirklich den Tod litte, wie herrlich wurde er, als der Sohn Gottes verkläret! Die Sonne wird verfinstert, die Erde bebet, die Gräber öff- nen sich: und alles vereinigte sich, die Majestät des Ster- benden zu offenbaren.
Welche tröstliche Aussichten bieten sich mir nun- mehr dar! Ich sehe, daß die Gottheit die leidende mensch- liche Natur unterstützt hat, daß sie fähig war, die versöh- nende Leiden zu ertragen. Ich sehe, daß die Leiden mei- nes Mittlers eine unendliche Gültigkeit haben. Nun erhält erst das Leiden und Sterben Jesu seinen Werth, wodurch es über alle Leiden eines Märtyrers unendlich erhaben ist. Sollte mein Jesus blos deswegen so mannichfaltige Leiden und einen so schmachvollen Tod ausgestanden haben, damit ich an ihm ein Vorbild sähe, wie ich mich in meinem Lei- den und in meinem Tod zu verhalten hätte: so kann ich nicht begreifen, zu welchem Ende gerade der Sohn Gottes dazu ausersehen worden wäre. Und wozu würde mir das erhabenste Muster der Tugend nützen, wenn ich nicht zu- gleich Kraft erhielte, demselben nachzuahmen? Nein, ich bin es überzeugt, daß der Werth der Leiden Jesu unend- lich erhabner ist. Ich sehe in der Person des leidenden Jesu nicht allein den Märtyrer, sondern auch den Stifter und Helden der Religion, und in jedem der Schritte, die er auf der Bahn der Leiden thut, nicht allein ein Muster, sondern auch ein Opfer für die sündigen Menschen. Kurz, ich finde in der Leidensgeschichte Jesu zugleich meine Glau- bens- und Sittenlehre, in der Person des Leidenden mei- nen Erretter, und in meinem Erretter meinen Gott. Der
Tod
Sturms Leidensgeschichte F
Gottheit des leidenden Jeſu.
den wurde, noch ein Wunder. Er konnte durch einen Blick den gefallnen Petrus zur Buſſe erwecken. Er be- weiſet am Kreuz, daß es in ſeiner Macht ſtehe, Sünder zu begnadigen. Und als er die unterſte Stufe ſeiner Er- niedrigung erreichte, als er wirklich den Tod litte, wie herrlich wurde er, als der Sohn Gottes verkläret! Die Sonne wird verfinſtert, die Erde bebet, die Gräber öff- nen ſich: und alles vereinigte ſich, die Majeſtät des Ster- benden zu offenbaren.
Welche tröſtliche Ausſichten bieten ſich mir nun- mehr dar! Ich ſehe, daß die Gottheit die leidende menſch- liche Natur unterſtützt hat, daß ſie fähig war, die verſöh- nende Leiden zu ertragen. Ich ſehe, daß die Leiden mei- nes Mittlers eine unendliche Gültigkeit haben. Nun erhält erſt das Leiden und Sterben Jeſu ſeinen Werth, wodurch es über alle Leiden eines Märtyrers unendlich erhaben iſt. Sollte mein Jeſus blos deswegen ſo mannichfaltige Leiden und einen ſo ſchmachvollen Tod ausgeſtanden haben, damit ich an ihm ein Vorbild ſähe, wie ich mich in meinem Lei- den und in meinem Tod zu verhalten hätte: ſo kann ich nicht begreifen, zu welchem Ende gerade der Sohn Gottes dazu auserſehen worden wäre. Und wozu würde mir das erhabenſte Muſter der Tugend nützen, wenn ich nicht zu- gleich Kraft erhielte, demſelben nachzuahmen? Nein, ich bin es überzeugt, daß der Werth der Leiden Jeſu unend- lich erhabner iſt. Ich ſehe in der Perſon des leidenden Jeſu nicht allein den Märtyrer, ſondern auch den Stifter und Helden der Religion, und in jedem der Schritte, die er auf der Bahn der Leiden thut, nicht allein ein Muſter, ſondern auch ein Opfer für die ſündigen Menſchen. Kurz, ich finde in der Leidensgeſchichte Jeſu zugleich meine Glau- bens- und Sittenlehre, in der Perſon des Leidenden mei- nen Erretter, und in meinem Erretter meinen Gott. Der
Tod
Sturms Leidensgeſchichte F
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Gottheit des leidenden Jeſu.
den wurde, noch ein Wunder. Er konnte durch einen
Blick den gefallnen Petrus zur Buſſe erwecken. Er be-
weiſet am Kreuz, daß es in ſeiner Macht ſtehe, Sünder
zu begnadigen. Und als er die unterſte Stufe ſeiner Er-
niedrigung erreichte, als er wirklich den Tod litte, wie
herrlich wurde er, als der Sohn Gottes verkläret! Die
Sonne wird verfinſtert, die Erde bebet, die Gräber öff-
nen ſich: und alles vereinigte ſich, die Majeſtät des Ster-
benden zu offenbaren.
Welche tröſtliche Ausſichten bieten ſich mir nun-
mehr dar! Ich ſehe, daß die Gottheit die leidende menſch-
liche Natur unterſtützt hat, daß ſie fähig war, die verſöh-
nende Leiden zu ertragen. Ich ſehe, daß die Leiden mei-
nes Mittlers eine unendliche Gültigkeit haben. Nun erhält
erſt das Leiden und Sterben Jeſu ſeinen Werth, wodurch
es über alle Leiden eines Märtyrers unendlich erhaben iſt.
Sollte mein Jeſus blos deswegen ſo mannichfaltige Leiden
und einen ſo ſchmachvollen Tod ausgeſtanden haben, damit
ich an ihm ein Vorbild ſähe, wie ich mich in meinem Lei-
den und in meinem Tod zu verhalten hätte: ſo kann ich
nicht begreifen, zu welchem Ende gerade der Sohn Gottes
dazu auserſehen worden wäre. Und wozu würde mir das
erhabenſte Muſter der Tugend nützen, wenn ich nicht zu-
gleich Kraft erhielte, demſelben nachzuahmen? Nein, ich
bin es überzeugt, daß der Werth der Leiden Jeſu unend-
lich erhabner iſt. Ich ſehe in der Perſon des leidenden
Jeſu nicht allein den Märtyrer, ſondern auch den Stifter
und Helden der Religion, und in jedem der Schritte, die
er auf der Bahn der Leiden thut, nicht allein ein Muſter,
ſondern auch ein Opfer für die ſündigen Menſchen. Kurz,
ich finde in der Leidensgeſchichte Jeſu zugleich meine Glau-
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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/103>, abgerufen am 01.07.2024.
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