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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 91.
Nahm nun die urchristliche Gemeinde, wie sie aus den
Juden hervorgegangen war, Jesum für das messianische
Subjekt, so musste sie die Tendenz haben, ihm auch alle
messianischen Prädikate, und so auch das in Rede stehen-
de, zuzuschreiben.

Die dem Markus eigenthümliche Erzählung von einer
Blindenheilung bei Bethsaida (8, 22 ff.) ist, neben der
gleichfalls nur bei ihm zu findenden von der Heilung ei-
nes schwerredenden Tauben (7, 32 ff.), welche wir dess-
wegen hier mitberücksichtigen, die Lieblingserzählung aller
rationalistischen Ausleger. Wären uns doch, rufen sie aus,
auch sonst bei den evangelischen Heilungsgeschichten wie
hier die erklärenden Nebenumstände aufbehalten, so wür-
de, dass Jesus nicht durch blosse Machtsprüche heilte, hi-
storisch zu erweisen, und für tiefer Forschende sogar
die natürlichen Mittel seiner Heilungen zu entdecken sein 12)!
So ist, vorzüglich aus Veranlassung dieser Erzählungen,
welchen sich dann aber auch einzelne Züge aus andern
Theilen des zweiten Evangeliums anschliessen, Markus in
neuester Zeit auch von solchen, die sonst dieser Ausle-
gungsweise nicht eben geneigt sind, als Patron der natür-
lichen Erklärung dargestellt worden 13).

Was nun unsre beiden Heilungen betrifft, so ist den
rationalistischen Auslegern schon das eine gute Vorbedeu-
tung, dass Jesus beide Kranke vom Volke weg besonders
nimmt, aus keinem andern Grunde, wie sie glauben, als
um ihren Zustand ärztlich zu untersuchen, und zu sehen,

hieraus, was man in jener Zeit auch ausserhalb Palästina's
von einem Manne erwartete, welcher, wie Tacitus sich hier
über Vespasian ausdrückt, einen favor e coelis und eine in-
clinatio numinum genoss.
12) So ungefähr Paulus, ex. Handb. 2, S. 312. 391.
13) de Wette, Beitrag zur Charakteristik des Evangelisten Mar-
kus, in Ullmann's und Umbreit's Studien 1, 4, 789 ff. Vgl.
Röster, Immanuel, S. 72.

Neuntes Kapitel. §. 91.
Nahm nun die urchristliche Gemeinde, wie sie aus den
Juden hervorgegangen war, Jesum für das messianische
Subjekt, so muſste sie die Tendenz haben, ihm auch alle
messianischen Prädikate, und so auch das in Rede stehen-
de, zuzuschreiben.

Die dem Markus eigenthümliche Erzählung von einer
Blindenheilung bei Bethsaida (8, 22 ff.) ist, neben der
gleichfalls nur bei ihm zu findenden von der Heilung ei-
nes schwerredenden Tauben (7, 32 ff.), welche wir deſs-
wegen hier mitberücksichtigen, die Lieblingserzählung aller
rationalistischen Ausleger. Wären uns doch, rufen sie aus,
auch sonst bei den evangelischen Heilungsgeschichten wie
hier die erklärenden Nebenumstände aufbehalten, so wür-
de, daſs Jesus nicht durch bloſse Machtsprüche heilte, hi-
storisch zu erweisen, und für tiefer Forschende sogar
die natürlichen Mittel seiner Heilungen zu entdecken sein 12)!
So ist, vorzüglich aus Veranlassung dieser Erzählungen,
welchen sich dann aber auch einzelne Züge aus andern
Theilen des zweiten Evangeliums anschlieſsen, Markus in
neuester Zeit auch von solchen, die sonst dieser Ausle-
gungsweise nicht eben geneigt sind, als Patron der natür-
lichen Erklärung dargestellt worden 13).

Was nun unsre beiden Heilungen betrifft, so ist den
rationalistischen Auslegern schon das eine gute Vorbedeu-
tung, daſs Jesus beide Kranke vom Volke weg besonders
nimmt, aus keinem andern Grunde, wie sie glauben, als
um ihren Zustand ärztlich zu untersuchen, und zu sehen,

hieraus, was man in jener Zeit auch ausserhalb Palästina's
von einem Manne erwartete, welcher, wie Tacitus sich hier
über Vespasian ausdrückt, einen favor e coelis und eine in-
clinatio numinum genoss.
12) So ungefähr Paulus, ex. Handb. 2, S. 312. 391.
13) de Wette, Beitrag zur Charakteristik des Evangelisten Mar-
kus, in Ullmann's und Umbreit's Studien 1, 4, 789 ff. Vgl.
Röster, Immanuel, S. 72.
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[69/0088] Neuntes Kapitel. §. 91. Nahm nun die urchristliche Gemeinde, wie sie aus den Juden hervorgegangen war, Jesum für das messianische Subjekt, so muſste sie die Tendenz haben, ihm auch alle messianischen Prädikate, und so auch das in Rede stehen- de, zuzuschreiben. Die dem Markus eigenthümliche Erzählung von einer Blindenheilung bei Bethsaida (8, 22 ff.) ist, neben der gleichfalls nur bei ihm zu findenden von der Heilung ei- nes schwerredenden Tauben (7, 32 ff.), welche wir deſs- wegen hier mitberücksichtigen, die Lieblingserzählung aller rationalistischen Ausleger. Wären uns doch, rufen sie aus, auch sonst bei den evangelischen Heilungsgeschichten wie hier die erklärenden Nebenumstände aufbehalten, so wür- de, daſs Jesus nicht durch bloſse Machtsprüche heilte, hi- storisch zu erweisen, und für tiefer Forschende sogar die natürlichen Mittel seiner Heilungen zu entdecken sein 12)! So ist, vorzüglich aus Veranlassung dieser Erzählungen, welchen sich dann aber auch einzelne Züge aus andern Theilen des zweiten Evangeliums anschlieſsen, Markus in neuester Zeit auch von solchen, die sonst dieser Ausle- gungsweise nicht eben geneigt sind, als Patron der natür- lichen Erklärung dargestellt worden 13). Was nun unsre beiden Heilungen betrifft, so ist den rationalistischen Auslegern schon das eine gute Vorbedeu- tung, daſs Jesus beide Kranke vom Volke weg besonders nimmt, aus keinem andern Grunde, wie sie glauben, als um ihren Zustand ärztlich zu untersuchen, und zu sehen, 11) 12) So ungefähr Paulus, ex. Handb. 2, S. 312. 391. 13) de Wette, Beitrag zur Charakteristik des Evangelisten Mar- kus, in Ullmann's und Umbreit's Studien 1, 4, 789 ff. Vgl. Röster, Immanuel, S. 72. 11) hieraus, was man in jener Zeit auch ausserhalb Palästina's von einem Manne erwartete, welcher, wie Tacitus sich hier über Vespasian ausdrückt, einen favor e coelis und eine in- clinatio numinum genoss.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/88>, abgerufen am 09.05.2024.