ist dann auch das aptesthai nicht von untersuchender Be- rührung zu verstehen, sondern, wie sonst immer in sol- chen Erzählungen, von heilender.
Für seine natürliche Erklärung dieses Vorgangs beruft sich Paulus auf den Kanon, dass überall in einer Erzäh- lung das Gewöhnliche und Ordentliche vorausgesezt wer- den müsse, wo nicht das Gegentheil ausdrücklich angege- ben sei 2), ein Kanon, welcher an der der ganzen rationa- listischen Auslegung eigenthümlichen Zweideutigkeit leidet, was für uns, und was für die auszulegenden Schriftsteller gewöhnlich und ordentlich ist, nicht zu unterscheiden. Allerdings, wenn ich einen Gibbon vor mir habe, so darf ich in seinen Erzählungen, sofern er nicht ausdrücklich das Gegentheil anmerkt, nur natürliche Ursachen und Vor- gänge voraussetzen, weil von der Bildung eines solchen Schriftstellers aus das Übernatürliche höchstens als selten- ste Ausnahme denkbar ist: schon anders verhält sich diess bei einem Herodot, in dessen Vorstellungsweise das Ein- greifen höherer Mächte keineswegs ungewöhnlich und aus- ser der Ordnung ist, und vollends in einer auf jüdischem Boden gewachsenen Anekdotenreihe, deren Zweck ist, ein Individuum als höchsten Propheten, als mit Gott innigst verbundenen Menschen darzustellen, versteht sich das Über- natürliche so sehr von selbst, dass jener rationalistische Kanon sich dahin umkehrt: wo in solchen Erzählungen auf Erfolge Gewicht gelegt ist, welche, als natürliche be- trachtet, keine Wichtigkeit haben würden, da müssten übernatürliche Ursachen ausdrücklich ausgeschlossen sein, wenn nicht, dass solche im Spiele gewesen, als Ansicht des Erzählers vorausgesezt werden sollte. In der vorlie- genden Geschichte ist überdiess das Ausserordentliche des Hergangs dadurch hinlänglich angedeutet, dass es heisst, auf Jesu Wort habe den Kranken der Aussaz alsbald ver-
2) a. a. O. S. 705 u. sonst.
Neuntes Kapitel. §. 90.
ist dann auch das ἅπτεσϑαι nicht von untersuchender Be- rührung zu verstehen, sondern, wie sonst immer in sol- chen Erzählungen, von heilender.
Für seine natürliche Erklärung dieses Vorgangs beruft sich Paulus auf den Kanon, daſs überall in einer Erzäh- lung das Gewöhnliche und Ordentliche vorausgesezt wer- den müsse, wo nicht das Gegentheil ausdrücklich angege- ben sei 2), ein Kanon, welcher an der der ganzen rationa- listischen Auslegung eigenthümlichen Zweideutigkeit leidet, was für uns, und was für die auszulegenden Schriftsteller gewöhnlich und ordentlich ist, nicht zu unterscheiden. Allerdings, wenn ich einen Gibbon vor mir habe, so darf ich in seinen Erzählungen, sofern er nicht ausdrücklich das Gegentheil anmerkt, nur natürliche Ursachen und Vor- gänge voraussetzen, weil von der Bildung eines solchen Schriftstellers aus das Übernatürliche höchstens als selten- ste Ausnahme denkbar ist: schon anders verhält sich dieſs bei einem Herodot, in dessen Vorstellungsweise das Ein- greifen höherer Mächte keineswegs ungewöhnlich und aus- ser der Ordnung ist, und vollends in einer auf jüdischem Boden gewachsenen Anekdotenreihe, deren Zweck ist, ein Individuum als höchsten Propheten, als mit Gott innigst verbundenen Menschen darzustellen, versteht sich das Über- natürliche so sehr von selbst, daſs jener rationalistische Kanon sich dahin umkehrt: wo in solchen Erzählungen auf Erfolge Gewicht gelegt ist, welche, als natürliche be- trachtet, keine Wichtigkeit haben würden, da müſsten übernatürliche Ursachen ausdrücklich ausgeschlossen sein, wenn nicht, daſs solche im Spiele gewesen, als Ansicht des Erzählers vorausgesezt werden sollte. In der vorlie- genden Geschichte ist überdieſs das Ausserordentliche des Hergangs dadurch hinlänglich angedeutet, daſs es heiſst, auf Jesu Wort habe den Kranken der Aussaz alsbald ver-
2) a. a. O. S. 705 u. sonst.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0074"n="55"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Neuntes Kapitel</hi>. §. 90.</fw><lb/>
ist dann auch das ἅπτεσϑαι nicht von untersuchender Be-<lb/>
rührung zu verstehen, sondern, wie sonst immer in sol-<lb/>
chen Erzählungen, von heilender.</p><lb/><p>Für seine natürliche Erklärung dieses Vorgangs beruft<lb/>
sich <hirendition="#k">Paulus</hi> auf den Kanon, daſs überall in einer Erzäh-<lb/>
lung das Gewöhnliche und Ordentliche vorausgesezt wer-<lb/>
den müsse, wo nicht das Gegentheil ausdrücklich angege-<lb/>
ben sei <noteplace="foot"n="2)">a. a. O. S. 705 u. sonst.</note>, ein Kanon, welcher an der der ganzen rationa-<lb/>
listischen Auslegung eigenthümlichen Zweideutigkeit leidet,<lb/>
was für uns, und was für die auszulegenden Schriftsteller<lb/>
gewöhnlich und ordentlich ist, nicht zu unterscheiden.<lb/>
Allerdings, wenn ich einen <hirendition="#k">Gibbon</hi> vor mir habe, so darf<lb/>
ich in seinen Erzählungen, sofern er nicht ausdrücklich<lb/>
das Gegentheil anmerkt, nur natürliche Ursachen und Vor-<lb/>
gänge voraussetzen, weil von der Bildung eines solchen<lb/>
Schriftstellers aus das Übernatürliche höchstens als selten-<lb/>
ste Ausnahme denkbar ist: schon anders verhält sich dieſs<lb/>
bei einem Herodot, in dessen Vorstellungsweise das Ein-<lb/>
greifen höherer Mächte keineswegs ungewöhnlich und aus-<lb/>
ser der Ordnung ist, und vollends in einer auf jüdischem<lb/>
Boden gewachsenen Anekdotenreihe, deren Zweck ist, ein<lb/>
Individuum als höchsten Propheten, als mit Gott innigst<lb/>
verbundenen Menschen darzustellen, versteht sich das Über-<lb/>
natürliche so sehr von selbst, daſs jener rationalistische<lb/>
Kanon sich dahin umkehrt: wo in solchen Erzählungen<lb/>
auf Erfolge Gewicht gelegt ist, welche, als natürliche be-<lb/>
trachtet, keine Wichtigkeit haben würden, da müſsten<lb/>
übernatürliche Ursachen ausdrücklich ausgeschlossen sein,<lb/>
wenn nicht, daſs solche im Spiele gewesen, als Ansicht<lb/>
des Erzählers vorausgesezt werden sollte. In der vorlie-<lb/>
genden Geschichte ist überdieſs das Ausserordentliche des<lb/>
Hergangs dadurch hinlänglich angedeutet, daſs es heiſst,<lb/>
auf Jesu Wort habe den Kranken der Aussaz alsbald ver-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[55/0074]
Neuntes Kapitel. §. 90.
ist dann auch das ἅπτεσϑαι nicht von untersuchender Be-
rührung zu verstehen, sondern, wie sonst immer in sol-
chen Erzählungen, von heilender.
Für seine natürliche Erklärung dieses Vorgangs beruft
sich Paulus auf den Kanon, daſs überall in einer Erzäh-
lung das Gewöhnliche und Ordentliche vorausgesezt wer-
den müsse, wo nicht das Gegentheil ausdrücklich angege-
ben sei 2), ein Kanon, welcher an der der ganzen rationa-
listischen Auslegung eigenthümlichen Zweideutigkeit leidet,
was für uns, und was für die auszulegenden Schriftsteller
gewöhnlich und ordentlich ist, nicht zu unterscheiden.
Allerdings, wenn ich einen Gibbon vor mir habe, so darf
ich in seinen Erzählungen, sofern er nicht ausdrücklich
das Gegentheil anmerkt, nur natürliche Ursachen und Vor-
gänge voraussetzen, weil von der Bildung eines solchen
Schriftstellers aus das Übernatürliche höchstens als selten-
ste Ausnahme denkbar ist: schon anders verhält sich dieſs
bei einem Herodot, in dessen Vorstellungsweise das Ein-
greifen höherer Mächte keineswegs ungewöhnlich und aus-
ser der Ordnung ist, und vollends in einer auf jüdischem
Boden gewachsenen Anekdotenreihe, deren Zweck ist, ein
Individuum als höchsten Propheten, als mit Gott innigst
verbundenen Menschen darzustellen, versteht sich das Über-
natürliche so sehr von selbst, daſs jener rationalistische
Kanon sich dahin umkehrt: wo in solchen Erzählungen
auf Erfolge Gewicht gelegt ist, welche, als natürliche be-
trachtet, keine Wichtigkeit haben würden, da müſsten
übernatürliche Ursachen ausdrücklich ausgeschlossen sein,
wenn nicht, daſs solche im Spiele gewesen, als Ansicht
des Erzählers vorausgesezt werden sollte. In der vorlie-
genden Geschichte ist überdieſs das Ausserordentliche des
Hergangs dadurch hinlänglich angedeutet, daſs es heiſst,
auf Jesu Wort habe den Kranken der Aussaz alsbald ver-
2) a. a. O. S. 705 u. sonst.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/74>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.