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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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ist dann auch das aptesthai nicht von untersuchender Be-
rührung zu verstehen, sondern, wie sonst immer in sol-
chen Erzählungen, von heilender.

Für seine natürliche Erklärung dieses Vorgangs beruft
sich Paulus auf den Kanon, dass überall in einer Erzäh-
lung das Gewöhnliche und Ordentliche vorausgesezt wer-
den müsse, wo nicht das Gegentheil ausdrücklich angege-
ben sei 2), ein Kanon, welcher an der der ganzen rationa-
listischen Auslegung eigenthümlichen Zweideutigkeit leidet,
was für uns, und was für die auszulegenden Schriftsteller
gewöhnlich und ordentlich ist, nicht zu unterscheiden.
Allerdings, wenn ich einen Gibbon vor mir habe, so darf
ich in seinen Erzählungen, sofern er nicht ausdrücklich
das Gegentheil anmerkt, nur natürliche Ursachen und Vor-
gänge voraussetzen, weil von der Bildung eines solchen
Schriftstellers aus das Übernatürliche höchstens als selten-
ste Ausnahme denkbar ist: schon anders verhält sich diess
bei einem Herodot, in dessen Vorstellungsweise das Ein-
greifen höherer Mächte keineswegs ungewöhnlich und aus-
ser der Ordnung ist, und vollends in einer auf jüdischem
Boden gewachsenen Anekdotenreihe, deren Zweck ist, ein
Individuum als höchsten Propheten, als mit Gott innigst
verbundenen Menschen darzustellen, versteht sich das Über-
natürliche so sehr von selbst, dass jener rationalistische
Kanon sich dahin umkehrt: wo in solchen Erzählungen
auf Erfolge Gewicht gelegt ist, welche, als natürliche be-
trachtet, keine Wichtigkeit haben würden, da müssten
übernatürliche Ursachen ausdrücklich ausgeschlossen sein,
wenn nicht, dass solche im Spiele gewesen, als Ansicht
des Erzählers vorausgesezt werden sollte. In der vorlie-
genden Geschichte ist überdiess das Ausserordentliche des
Hergangs dadurch hinlänglich angedeutet, dass es heisst,
auf Jesu Wort habe den Kranken der Aussaz alsbald ver-

2) a. a. O. S. 705 u. sonst.

Neuntes Kapitel. §. 90.
ist dann auch das ἅπτεσϑαι nicht von untersuchender Be-
rührung zu verstehen, sondern, wie sonst immer in sol-
chen Erzählungen, von heilender.

Für seine natürliche Erklärung dieses Vorgangs beruft
sich Paulus auf den Kanon, daſs überall in einer Erzäh-
lung das Gewöhnliche und Ordentliche vorausgesezt wer-
den müsse, wo nicht das Gegentheil ausdrücklich angege-
ben sei 2), ein Kanon, welcher an der der ganzen rationa-
listischen Auslegung eigenthümlichen Zweideutigkeit leidet,
was für uns, und was für die auszulegenden Schriftsteller
gewöhnlich und ordentlich ist, nicht zu unterscheiden.
Allerdings, wenn ich einen Gibbon vor mir habe, so darf
ich in seinen Erzählungen, sofern er nicht ausdrücklich
das Gegentheil anmerkt, nur natürliche Ursachen und Vor-
gänge voraussetzen, weil von der Bildung eines solchen
Schriftstellers aus das Übernatürliche höchstens als selten-
ste Ausnahme denkbar ist: schon anders verhält sich dieſs
bei einem Herodot, in dessen Vorstellungsweise das Ein-
greifen höherer Mächte keineswegs ungewöhnlich und aus-
ser der Ordnung ist, und vollends in einer auf jüdischem
Boden gewachsenen Anekdotenreihe, deren Zweck ist, ein
Individuum als höchsten Propheten, als mit Gott innigst
verbundenen Menschen darzustellen, versteht sich das Über-
natürliche so sehr von selbst, daſs jener rationalistische
Kanon sich dahin umkehrt: wo in solchen Erzählungen
auf Erfolge Gewicht gelegt ist, welche, als natürliche be-
trachtet, keine Wichtigkeit haben würden, da müſsten
übernatürliche Ursachen ausdrücklich ausgeschlossen sein,
wenn nicht, daſs solche im Spiele gewesen, als Ansicht
des Erzählers vorausgesezt werden sollte. In der vorlie-
genden Geschichte ist überdieſs das Ausserordentliche des
Hergangs dadurch hinlänglich angedeutet, daſs es heiſst,
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2) a. a. O. S. 705 u. sonst.
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[55/0074] Neuntes Kapitel. §. 90. ist dann auch das ἅπτεσϑαι nicht von untersuchender Be- rührung zu verstehen, sondern, wie sonst immer in sol- chen Erzählungen, von heilender. Für seine natürliche Erklärung dieses Vorgangs beruft sich Paulus auf den Kanon, daſs überall in einer Erzäh- lung das Gewöhnliche und Ordentliche vorausgesezt wer- den müsse, wo nicht das Gegentheil ausdrücklich angege- ben sei 2), ein Kanon, welcher an der der ganzen rationa- listischen Auslegung eigenthümlichen Zweideutigkeit leidet, was für uns, und was für die auszulegenden Schriftsteller gewöhnlich und ordentlich ist, nicht zu unterscheiden. Allerdings, wenn ich einen Gibbon vor mir habe, so darf ich in seinen Erzählungen, sofern er nicht ausdrücklich das Gegentheil anmerkt, nur natürliche Ursachen und Vor- gänge voraussetzen, weil von der Bildung eines solchen Schriftstellers aus das Übernatürliche höchstens als selten- ste Ausnahme denkbar ist: schon anders verhält sich dieſs bei einem Herodot, in dessen Vorstellungsweise das Ein- greifen höherer Mächte keineswegs ungewöhnlich und aus- ser der Ordnung ist, und vollends in einer auf jüdischem Boden gewachsenen Anekdotenreihe, deren Zweck ist, ein Individuum als höchsten Propheten, als mit Gott innigst verbundenen Menschen darzustellen, versteht sich das Über- natürliche so sehr von selbst, daſs jener rationalistische Kanon sich dahin umkehrt: wo in solchen Erzählungen auf Erfolge Gewicht gelegt ist, welche, als natürliche be- trachtet, keine Wichtigkeit haben würden, da müſsten übernatürliche Ursachen ausdrücklich ausgeschlossen sein, wenn nicht, daſs solche im Spiele gewesen, als Ansicht des Erzählers vorausgesezt werden sollte. In der vorlie- genden Geschichte ist überdieſs das Ausserordentliche des Hergangs dadurch hinlänglich angedeutet, daſs es heiſst, auf Jesu Wort habe den Kranken der Aussaz alsbald ver- 2) a. a. O. S. 705 u. sonst.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/74>, abgerufen am 22.11.2024.