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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 144.
seienden beschränkt werden, und seine ganze weitere Ent-
wicklung allen Bedingungen des endlichen Daseins unter-
worfen gewesen sein: aber diess Zugeständniss kann den
Riss, der durch jene Behauptung in die ganze wissen-
schaftliche Weltansicht gemacht ist, nicht heilen, und am
wenigsten können vage Analogieen etwas helfen, wie die:
so gut es noch jezt möglich sei, dass Materie sich balle
und im unendlichen Raum zu rotiren beginne, müsse die
Wissenschaft auch einräumen, es gebe eine Erscheinung
im Gebiet des geistigen Lebens, die wir eben so nur als
reinen Anfang einer höheren geistigen Lebensentwicklung
erklären können 5).

Zumal man durch diese Vergleichung an das erinnert
wird, was Braniss besonders geltend gemacht hat, dass es
den Gesetzen aller Entwicklung zuwider wäre, den An-
fangspunkt einer Reihe als ein Grösstes zu denken, und
also hier in Christo, dem Stifter des Gesammtlebens, das
die Kräftigung des Gottesbewusstseins zum Zwecke hat,
die Kräftigkeit desselben als schlechthinige vorzustellen,
was doch nur das unendliche Ziel der Entfaltung des von
ihm gestifteten Gesammtlebens ist. Zwar giebt auch Schleier-
macher
in gewissem Sinn eine Perfektibilität des Christen-
thums zu: aber nicht über das Wesen Christi hinaus, son-
dern nur über seine Erscheinung. D. h., die Bedingtheit
und Unvollkommenheit der Verhältnisse Christi, der Spra-
che, in welcher er sich ausdrückte, der Nationalität, inner-
halb deren er stand, habe auch sein Denken und Thun
afficirt, aber nur die Aussenseite: der innere Kern des-
selben sei dennoch wahrhaft urbildlich gewesen, und wenn
nun die Christenheit in ihrer Fortentwicklung in Lehre
und Leben immer mehr jene temporellen und nationalen
Schranken niederwerfe, in welchen Jesu Thun und Reden
sich bewegte: so sei diess kein Hinausgehen über Christum,

5) Im 2ten Sendschreiben.

Schluſsabhandlung. §. 144.
seienden beschränkt werden, und seine ganze weitere Ent-
wicklung allen Bedingungen des endlichen Daseins unter-
worfen gewesen sein: aber dieſs Zugeständniſs kann den
Riſs, der durch jene Behauptung in die ganze wissen-
schaftliche Weltansicht gemacht ist, nicht heilen, und am
wenigsten können vage Analogieen etwas helfen, wie die:
so gut es noch jezt möglich sei, daſs Materie sich balle
und im unendlichen Raum zu rotiren beginne, müsse die
Wissenschaft auch einräumen, es gebe eine Erscheinung
im Gebiet des geistigen Lebens, die wir eben so nur als
reinen Anfang einer höheren geistigen Lebensentwicklung
erklären können 5).

Zumal man durch diese Vergleichung an das erinnert
wird, was Braniss besonders geltend gemacht hat, daſs es
den Gesetzen aller Entwicklung zuwider wäre, den An-
fangspunkt einer Reihe als ein Gröſstes zu denken, und
also hier in Christo, dem Stifter des Gesammtlebens, das
die Kräftigung des Gottesbewuſstseins zum Zwecke hat,
die Kräftigkeit desselben als schlechthinige vorzustellen,
was doch nur das unendliche Ziel der Entfaltung des von
ihm gestifteten Gesammtlebens ist. Zwar giebt auch Schleier-
macher
in gewissem Sinn eine Perfektibilität des Christen-
thums zu: aber nicht über das Wesen Christi hinaus, son-
dern nur über seine Erscheinung. D. h., die Bedingtheit
und Unvollkommenheit der Verhältnisse Christi, der Spra-
che, in welcher er sich ausdrückte, der Nationalität, inner-
halb deren er stand, habe auch sein Denken und Thun
afficirt, aber nur die Aussenseite: der innere Kern des-
selben sei dennoch wahrhaft urbildlich gewesen, und wenn
nun die Christenheit in ihrer Fortentwicklung in Lehre
und Leben immer mehr jene temporellen und nationalen
Schranken niederwerfe, in welchen Jesu Thun und Reden
sich bewegte: so sei dieſs kein Hinausgehen über Christum,

5) Im 2ten Sendschreiben.
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[716/0735] Schluſsabhandlung. §. 144. seienden beschränkt werden, und seine ganze weitere Ent- wicklung allen Bedingungen des endlichen Daseins unter- worfen gewesen sein: aber dieſs Zugeständniſs kann den Riſs, der durch jene Behauptung in die ganze wissen- schaftliche Weltansicht gemacht ist, nicht heilen, und am wenigsten können vage Analogieen etwas helfen, wie die: so gut es noch jezt möglich sei, daſs Materie sich balle und im unendlichen Raum zu rotiren beginne, müsse die Wissenschaft auch einräumen, es gebe eine Erscheinung im Gebiet des geistigen Lebens, die wir eben so nur als reinen Anfang einer höheren geistigen Lebensentwicklung erklären können 5). Zumal man durch diese Vergleichung an das erinnert wird, was Braniss besonders geltend gemacht hat, daſs es den Gesetzen aller Entwicklung zuwider wäre, den An- fangspunkt einer Reihe als ein Gröſstes zu denken, und also hier in Christo, dem Stifter des Gesammtlebens, das die Kräftigung des Gottesbewuſstseins zum Zwecke hat, die Kräftigkeit desselben als schlechthinige vorzustellen, was doch nur das unendliche Ziel der Entfaltung des von ihm gestifteten Gesammtlebens ist. Zwar giebt auch Schleier- macher in gewissem Sinn eine Perfektibilität des Christen- thums zu: aber nicht über das Wesen Christi hinaus, son- dern nur über seine Erscheinung. D. h., die Bedingtheit und Unvollkommenheit der Verhältnisse Christi, der Spra- che, in welcher er sich ausdrückte, der Nationalität, inner- halb deren er stand, habe auch sein Denken und Thun afficirt, aber nur die Aussenseite: der innere Kern des- selben sei dennoch wahrhaft urbildlich gewesen, und wenn nun die Christenheit in ihrer Fortentwicklung in Lehre und Leben immer mehr jene temporellen und nationalen Schranken niederwerfe, in welchen Jesu Thun und Reden sich bewegte: so sei dieſs kein Hinausgehen über Christum, 5) Im 2ten Sendschreiben.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 716. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/735>, abgerufen am 23.11.2024.