nommen, ja noch geschärft, andrerseits aber doch noch das Wesentliche des positiv christlichen Gehaltes, der dem Rationalismus verloren gegangen war, festzuhalten versucht hat, und daher Vielen in der lezten Zeit der Retter aus der Enge des Supranaturalismus und der Leere des Ratio- nalismus geworden ist. Jene Vereinfachung des Glaubens bringt Schleiermacher dadurch zu Stande, dass er weder pro- testantisch von der Schriftlehre, noch auch katholisch von den Bestimmungen der Kirche ausgeht, da er auf beide Weise einen bestimmt entwickelten Inhalt bekommen würde, der, in früheren Jahrhunderten entstanden, mit der heuti- gen Wissenschaft sich nothwendig verwickeln müsste: son- dern er geht vom christlichen Bewusstsein, von der inneren Erfahrung aus, die jeder über das, was er am Christen- thum hat, in sich selber macht, und bekommt so einen Stoff, der als Gefühltes ein minder Bestimmtes ist, dem daher durch dialektische Entwicklung leichter eine Form gegeben werden kann, welche den Forderungen der Wis- senschaft genugthut.
Als Glied der christlichen Gemeinde -- diess ist der Ausgangspunkt der Schleiermacher'schen Christologie 2) -- bin ich mir der Aufhebung meiner Sündhaftigkeit und der Mittheilung schlechthiniger Vollkommenheit bewusst, d. h. ich fühle in dieser Gemeinschaft die Einflüsse eines sünd- losen und vollkommenen Princips auf mich. Diese Einflüsse können von der christlichen Gemeinschaft nicht in der Art ausgehen, dass die Wechselwirkung ihrer Mitglieder sie hervorbrächte; denn in jedem einzelnen [von diesen ist Sünde und Unvollkommenheit gesezt, und das Zusammen- wirken von Unreinen hat nie etwas Reines zum Resultat gehabt. Sondern der Einfluss eines solchen muss es sein, der einestheils jene Unsündlichkeit und Vollkommenheit als persönliche Eigenschaften besass, und anderntheils mit der
2) Glaubenslehre, 2, §§. 92--105.
Schluſsabhandlung. §. 144.
nommen, ja noch geschärft, andrerseits aber doch noch das Wesentliche des positiv christlichen Gehaltes, der dem Rationalismus verloren gegangen war, festzuhalten versucht hat, und daher Vielen in der lezten Zeit der Retter aus der Enge des Supranaturalismus und der Leere des Ratio- nalismus geworden ist. Jene Vereinfachung des Glaubens bringt Schleiermacher dadurch zu Stande, daſs er weder pro- testantisch von der Schriftlehre, noch auch katholisch von den Bestimmungen der Kirche ausgeht, da er auf beide Weise einen bestimmt entwickelten Inhalt bekommen würde, der, in früheren Jahrhunderten entstanden, mit der heuti- gen Wissenschaft sich nothwendig verwickeln müſste: son- dern er geht vom christlichen Bewuſstsein, von der inneren Erfahrung aus, die jeder über das, was er am Christen- thum hat, in sich selber macht, und bekommt so einen Stoff, der als Gefühltes ein minder Bestimmtes ist, dem daher durch dialektische Entwicklung leichter eine Form gegeben werden kann, welche den Forderungen der Wis- senschaft genugthut.
Als Glied der christlichen Gemeinde — dieſs ist der Ausgangspunkt der Schleiermacher'schen Christologie 2) — bin ich mir der Aufhebung meiner Sündhaftigkeit und der Mittheilung schlechthiniger Vollkommenheit bewuſst, d. h. ich fühle in dieser Gemeinschaft die Einflüsse eines sünd- losen und vollkommenen Princips auf mich. Diese Einflüsse können von der christlichen Gemeinschaft nicht in der Art ausgehen, daſs die Wechselwirkung ihrer Mitglieder sie hervorbrächte; denn in jedem einzelnen [von diesen ist Sünde und Unvollkommenheit gesezt, und das Zusammen- wirken von Unreinen hat nie etwas Reines zum Resultat gehabt. Sondern der Einfluſs eines solchen muſs es sein, der einestheils jene Unsündlichkeit und Vollkommenheit als persönliche Eigenschaften besaſs, und anderntheils mit der
2) Glaubenslehre, 2, §§. 92—105.
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Schluſsabhandlung. §. 144.
nommen, ja noch geschärft, andrerseits aber doch noch
das Wesentliche des positiv christlichen Gehaltes, der dem
Rationalismus verloren gegangen war, festzuhalten versucht
hat, und daher Vielen in der lezten Zeit der Retter aus
der Enge des Supranaturalismus und der Leere des Ratio-
nalismus geworden ist. Jene Vereinfachung des Glaubens
bringt Schleiermacher dadurch zu Stande, daſs er weder pro-
testantisch von der Schriftlehre, noch auch katholisch von
den Bestimmungen der Kirche ausgeht, da er auf beide
Weise einen bestimmt entwickelten Inhalt bekommen würde,
der, in früheren Jahrhunderten entstanden, mit der heuti-
gen Wissenschaft sich nothwendig verwickeln müſste: son-
dern er geht vom christlichen Bewuſstsein, von der inneren
Erfahrung aus, die jeder über das, was er am Christen-
thum hat, in sich selber macht, und bekommt so einen
Stoff, der als Gefühltes ein minder Bestimmtes ist, dem
daher durch dialektische Entwicklung leichter eine Form
gegeben werden kann, welche den Forderungen der Wis-
senschaft genugthut.
Als Glied der christlichen Gemeinde — dieſs ist der
Ausgangspunkt der Schleiermacher'schen Christologie 2) —
bin ich mir der Aufhebung meiner Sündhaftigkeit und der
Mittheilung schlechthiniger Vollkommenheit bewuſst, d. h.
ich fühle in dieser Gemeinschaft die Einflüsse eines sünd-
losen und vollkommenen Princips auf mich. Diese Einflüsse
können von der christlichen Gemeinschaft nicht in der Art
ausgehen, daſs die Wechselwirkung ihrer Mitglieder sie
hervorbrächte; denn in jedem einzelnen [von diesen ist
Sünde und Unvollkommenheit gesezt, und das Zusammen-
wirken von Unreinen hat nie etwas Reines zum Resultat
gehabt. Sondern der Einfluſs eines solchen muſs es sein,
der einestheils jene Unsündlichkeit und Vollkommenheit als
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 711. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/730>, abgerufen am 23.11.2024.
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