desten Anspruch haben. Die zwei ersten Evangelien, und der Hauptgewährsmann in dieser Sache, der Apostel Pau- lus, erzählen uns von dergleichen Proben nichts, und es ist ganz natürlich, dass die Christophanieen, welche, so wie sie den Frauen und Aposteln wirklich vorgeschwebt hat- ten, mehr das visionäre Gepräge derjenigen gehabt haben mögen, welche Paulus auf dem Wege nach Damaskus hat- te, einmal in die Tradition aufgenommen, sich vermöge des apologetischen Bestrebens, alle Zweifel an der Realität der- selben abzuschneiden, immer mehr consolidirten, von stum- men Erscheinungen zu redenden, von geisterhaften zu es- senden, von sichtbaren zu handgreiflichen wurden.
Hier kehrt sich jedoch ein Unterschied heraus, wel- cher den Vorgang mit Paulus zur Erklärung jener frühe- ren Erscheinungen mit Einem Male unbrauchbar zu ma- chen scheint. Dem Apostel Paulus nämlich war die Vor- stellung, dass Jesus auferstanden und mehreren Personen erschienen sei, als Glaube der Sekte, die er verfolgte, ge- geben, er hatte sie nur noch in seine Überzeugung aufzu- nehmen, und durch die Phantasie bis zur eigenen Erfah- rung zu beleben: die älteren Jünger hingegen hatten le- diglich den Tod ihres Messias als Faktum vor sich, die Ansicht einer Auferstehung desselben konnten sie nir- gendsher nehmen, sondern mussten dieselbe, nach unserer Vorstellung von der Sache, erst produciren; eine Aufga- be, welche über alle Vergleichung hinaus schwieriger zu sein scheint, als die, welche sich später dem Apostel Pau- lus stellte. Um hierüber richtig urtheilen zu können, müs- sen wir uns noch genauer in die Lage und Stimmung der Jünger Jesu nach seinem Tode hineindenken. Er hatte während seines mehrjährigen Zusammenseins mit ihnen im- mer mehr und entschiedener den Eindruck des Messias auf sie gemacht: sein Tod aber, den sie mit ihren Mes- siasbegriffen nicht reimen konnten, hatte diesen Eindruck für den Augenblick wieder vernichtet. Wie sich nun, nach-
Dritter Abschnitt.
desten Anspruch haben. Die zwei ersten Evangelien, und der Hauptgewährsmann in dieser Sache, der Apostel Pau- lus, erzählen uns von dergleichen Proben nichts, und es ist ganz natürlich, daſs die Christophanieen, welche, so wie sie den Frauen und Aposteln wirklich vorgeschwebt hat- ten, mehr das visionäre Gepräge derjenigen gehabt haben mögen, welche Paulus auf dem Wege nach Damaskus hat- te, einmal in die Tradition aufgenommen, sich vermöge des apologetischen Bestrebens, alle Zweifel an der Realität der- selben abzuschneiden, immer mehr consolidirten, von stum- men Erscheinungen zu redenden, von geisterhaften zu es- senden, von sichtbaren zu handgreiflichen wurden.
Hier kehrt sich jedoch ein Unterschied heraus, wel- cher den Vorgang mit Paulus zur Erklärung jener frühe- ren Erscheinungen mit Einem Male unbrauchbar zu ma- chen scheint. Dem Apostel Paulus nämlich war die Vor- stellung, daſs Jesus auferstanden und mehreren Personen erschienen sei, als Glaube der Sekte, die er verfolgte, ge- geben, er hatte sie nur noch in seine Überzeugung aufzu- nehmen, und durch die Phantasie bis zur eigenen Erfah- rung zu beleben: die älteren Jünger hingegen hatten le- diglich den Tod ihres Messias als Faktum vor sich, die Ansicht einer Auferstehung desselben konnten sie nir- gendsher nehmen, sondern muſsten dieselbe, nach unserer Vorstellung von der Sache, erst produciren; eine Aufga- be, welche über alle Vergleichung hinaus schwieriger zu sein scheint, als die, welche sich später dem Apostel Pau- lus stellte. Um hierüber richtig urtheilen zu können, müs- sen wir uns noch genauer in die Lage und Stimmung der Jünger Jesu nach seinem Tode hineindenken. Er hatte während seines mehrjährigen Zusammenseins mit ihnen im- mer mehr und entschiedener den Eindruck des Messias auf sie gemacht: sein Tod aber, den sie mit ihren Mes- siasbegriffen nicht reimen konnten, hatte diesen Eindruck für den Augenblick wieder vernichtet. Wie sich nun, nach-
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Dritter Abschnitt.
desten Anspruch haben. Die zwei ersten Evangelien, und
der Hauptgewährsmann in dieser Sache, der Apostel Pau-
lus, erzählen uns von dergleichen Proben nichts, und es
ist ganz natürlich, daſs die Christophanieen, welche, so wie
sie den Frauen und Aposteln wirklich vorgeschwebt hat-
ten, mehr das visionäre Gepräge derjenigen gehabt haben
mögen, welche Paulus auf dem Wege nach Damaskus hat-
te, einmal in die Tradition aufgenommen, sich vermöge des
apologetischen Bestrebens, alle Zweifel an der Realität der-
selben abzuschneiden, immer mehr consolidirten, von stum-
men Erscheinungen zu redenden, von geisterhaften zu es-
senden, von sichtbaren zu handgreiflichen wurden.
Hier kehrt sich jedoch ein Unterschied heraus, wel-
cher den Vorgang mit Paulus zur Erklärung jener frühe-
ren Erscheinungen mit Einem Male unbrauchbar zu ma-
chen scheint. Dem Apostel Paulus nämlich war die Vor-
stellung, daſs Jesus auferstanden und mehreren Personen
erschienen sei, als Glaube der Sekte, die er verfolgte, ge-
geben, er hatte sie nur noch in seine Überzeugung aufzu-
nehmen, und durch die Phantasie bis zur eigenen Erfah-
rung zu beleben: die älteren Jünger hingegen hatten le-
diglich den Tod ihres Messias als Faktum vor sich, die
Ansicht einer Auferstehung desselben konnten sie nir-
gendsher nehmen, sondern muſsten dieselbe, nach unserer
Vorstellung von der Sache, erst produciren; eine Aufga-
be, welche über alle Vergleichung hinaus schwieriger zu
sein scheint, als die, welche sich später dem Apostel Pau-
lus stellte. Um hierüber richtig urtheilen zu können, müs-
sen wir uns noch genauer in die Lage und Stimmung der
Jünger Jesu nach seinem Tode hineindenken. Er hatte
während seines mehrjährigen Zusammenseins mit ihnen im-
mer mehr und entschiedener den Eindruck des Messias
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siasbegriffen nicht reimen konnten, hatte diesen Eindruck
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 658. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/677>, abgerufen am 23.11.2024.
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