sesthe dunamin ex upsous (24, 49.). Hier muss zweierlei ge- fragt werden: 1) wie kann Jesus die Jünger zu einer Reise nach Galiläa angewiesen, und ihnen doch zugleich geboten haben, bis Pfingsten in Jerusalem zu bleiben? und 2) wie konnte er sie darauf verweisen, in Galiläa sich ih- nen zu zeigen, wenn er doch im Sinn hatte, noch am nämlichen Tag ihnen in und bei Jerusalem zu erscheinen?
Den ersteren Widerspruch, welcher zunächst zwi- schen Matthäus und Lukas stattfindet, hat Niemand schär- fer hingestellt, als der Wolfenbüttler Fragmentist. Ist es wahr, schreibt er, was Lukas sagt, dass Jesus gleich am ersten Tage seiner Auferstehung seinen Jüngern in Jeru- salem erschienen ist, und befohlen hat, da zu bleiben, und nicht von da weg zu gehen bis Pfingsten: so ist es falsch, dass er ihnen befohlen habe, in derselben Zeit nach dem äussersten Galiläa zu wandern, um ihnen da zu erscheinen, und umgekehrt 1). Die Harmonisten gaben sich zwar die Miene, als wäre dieser Einwurf unbedeutend, und bemerk- ten nur kurz, die Anweisung, in einer Stadt zu bleiben, sei kein Stadtarrest, und schliesse also Spaziergänge und Nebenreisen nicht aus, sondern nur die Verlegung des Wohnsitzes von Jerusalem weg und das Ausgehen in alle Welt zur Predigt des Evangeliums habe Jesus den Jün- gern bis zu jenem Termin verbieten wollen 2). Allein ein Spaziergang ist die Reise von Jerusalem nach Galiläa doch wohl nicht, sondern der weiteste Zug, den der Jude im Inland machen konnte; ebenso wenig war es für die Apo- stel eine Nebenreise, vielmehr eine Rückreise in ihre Hei- math; was aber Jesus durch jene Weisung den Jüngern untersagen wollte, kann weder das Ausgehen in alle Welt zur Verkündigung des Evangeliums gewesen sein, wozu sie vor der Ausgiessung des Geistes gar keinen Trieb in
1) In Lessing's Beiträgen, a. a. O. S. 485.
2)Michaelis, S. 259 f. Kuinöl, in Luc. p. 743.
39 *
Viertes Kapitel. §. 134.
σησϑε δύναμιν ἐξ ὕψους (24, 49.). Hier muſs zweierlei ge- fragt werden: 1) wie kann Jesus die Jünger zu einer Reise nach Galiläa angewiesen, und ihnen doch zugleich geboten haben, bis Pfingsten in Jerusalem zu bleiben? und 2) wie konnte er sie darauf verweisen, in Galiläa sich ih- nen zu zeigen, wenn er doch im Sinn hatte, noch am nämlichen Tag ihnen in und bei Jerusalem zu erscheinen?
Den ersteren Widerspruch, welcher zunächst zwi- schen Matthäus und Lukas stattfindet, hat Niemand schär- fer hingestellt, als der Wolfenbüttler Fragmentist. Ist es wahr, schreibt er, was Lukas sagt, daſs Jesus gleich am ersten Tage seiner Auferstehung seinen Jüngern in Jeru- salem erschienen ist, und befohlen hat, da zu bleiben, und nicht von da weg zu gehen bis Pfingsten: so ist es falsch, daſs er ihnen befohlen habe, in derselben Zeit nach dem äussersten Galiläa zu wandern, um ihnen da zu erscheinen, und umgekehrt 1). Die Harmonisten gaben sich zwar die Miene, als wäre dieser Einwurf unbedeutend, und bemerk- ten nur kurz, die Anweisung, in einer Stadt zu bleiben, sei kein Stadtarrest, und schlieſse also Spaziergänge und Nebenreisen nicht aus, sondern nur die Verlegung des Wohnsitzes von Jerusalem weg und das Ausgehen in alle Welt zur Predigt des Evangeliums habe Jesus den Jün- gern bis zu jenem Termin verbieten wollen 2). Allein ein Spaziergang ist die Reise von Jerusalem nach Galiläa doch wohl nicht, sondern der weiteste Zug, den der Jude im Inland machen konnte; ebenso wenig war es für die Apo- stel eine Nebenreise, vielmehr eine Rückreise in ihre Hei- math; was aber Jesus durch jene Weisung den Jüngern untersagen wollte, kann weder das Ausgehen in alle Welt zur Verkündigung des Evangeliums gewesen sein, wozu sie vor der Ausgieſsung des Geistes gar keinen Trieb in
1) In Lessing's Beiträgen, a. a. O. S. 485.
2)Michaelis, S. 259 f. Kuinöl, in Luc. p. 743.
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Viertes Kapitel. §. 134.
σησϑε δύναμιν ἐξ ὕψους (24, 49.). Hier muſs zweierlei ge-
fragt werden: 1) wie kann Jesus die Jünger zu einer
Reise nach Galiläa angewiesen, und ihnen doch zugleich
geboten haben, bis Pfingsten in Jerusalem zu bleiben? und
2) wie konnte er sie darauf verweisen, in Galiläa sich ih-
nen zu zeigen, wenn er doch im Sinn hatte, noch am
nämlichen Tag ihnen in und bei Jerusalem zu erscheinen?
Den ersteren Widerspruch, welcher zunächst zwi-
schen Matthäus und Lukas stattfindet, hat Niemand schär-
fer hingestellt, als der Wolfenbüttler Fragmentist. Ist es
wahr, schreibt er, was Lukas sagt, daſs Jesus gleich am
ersten Tage seiner Auferstehung seinen Jüngern in Jeru-
salem erschienen ist, und befohlen hat, da zu bleiben, und
nicht von da weg zu gehen bis Pfingsten: so ist es falsch,
daſs er ihnen befohlen habe, in derselben Zeit nach dem
äussersten Galiläa zu wandern, um ihnen da zu erscheinen,
und umgekehrt 1). Die Harmonisten gaben sich zwar die
Miene, als wäre dieser Einwurf unbedeutend, und bemerk-
ten nur kurz, die Anweisung, in einer Stadt zu bleiben,
sei kein Stadtarrest, und schlieſse also Spaziergänge und
Nebenreisen nicht aus, sondern nur die Verlegung des
Wohnsitzes von Jerusalem weg und das Ausgehen in alle
Welt zur Predigt des Evangeliums habe Jesus den Jün-
gern bis zu jenem Termin verbieten wollen 2). Allein ein
Spaziergang ist die Reise von Jerusalem nach Galiläa doch
wohl nicht, sondern der weiteste Zug, den der Jude im
Inland machen konnte; ebenso wenig war es für die Apo-
stel eine Nebenreise, vielmehr eine Rückreise in ihre Hei-
math; was aber Jesus durch jene Weisung den Jüngern
untersagen wollte, kann weder das Ausgehen in alle Welt
zur Verkündigung des Evangeliums gewesen sein, wozu
sie vor der Ausgieſsung des Geistes gar keinen Trieb in
1) In Lessing's Beiträgen, a. a. O. S. 485.
2) Michaelis, S. 259 f. Kuinöl, in Luc. p. 743.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 611. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/630>, abgerufen am 23.11.2024.
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