liegenden Sage gehört haben, sondern das unter den Ju- den verbreitete Gerücht bestand, wie auch der Text sagt, nur darin, dass die Jünger den Leichnam gestohlen haben sollten. Indem die Christen diese Verläumdung zu wider- legen wünschten, bildete sich unter ihnen die Sage von ei- ner am Grab Jesu aufgestellten Wache, und nun konnten sie jener Verläumdung dreist durch die Frage entgegentre- ten: wie kann der Leichnam entwendet worden sein, da ihr ja eine Wache am Grab aufgestellt, und den Stein ver- siegelt hattet? Und weil, wie wir im Verlauf der Unter- suchung es selbst erprobt haben, einer Sage erst dann ih- re Grundlosigkeit völlig nachgewiesen ist, wenn es gelingt, zu zeigen, wie sie auch ohne historischen Grund sich bil- den konnte: so versuchte man von christlicher Seite, ne- ben der Aufstellung des vermeintlich wahren Thatbestan- des, zugleich die Genesis der falschen Sage nachzuweisen, indem man die verbreitete jüdische Lüge aus einer Anstif- tung des Synedriums und seiner mit der Wache vorgenom- menen Bestechung herleitete. Gerade das Umgekehrte von dem ist also wahr, was Hase sagt, die Sage sei wohl un- ter den Freunden Jesu entstanden, und von seinen Fein- den modificirt worden: die Freunde hatten nur dann erst Veranlassung, eine Wache zu erdichten, wenn die Feinde vorher von einem Diebstahl gesprochen hatten.
§. 133. Erste Kunde der Auferstehung.
Dass die erste Kunde von dem eröffneten und leeren Grab Jesu am zweiten Morgen nach seinem Begräbniss durch Frauenmund an die Jünger gekommen, darin stim- men die vier Evangelisten überein: aber in allen näheren Umständen weichen sie auf eine Weise von einander ab, welche der Polemik eines Wolfenbüttler Fragmentisten den reichsten Stoff geboten, und dagegen den Harmonisten und Apologeten vollauf zu thun gegeben hat, ohne dass bis jezt
Dritter Abschnitt.
liegenden Sage gehört haben, sondern das unter den Ju- den verbreitete Gerücht bestand, wie auch der Text sagt, nur darin, daſs die Jünger den Leichnam gestohlen haben sollten. Indem die Christen diese Verläumdung zu wider- legen wünschten, bildete sich unter ihnen die Sage von ei- ner am Grab Jesu aufgestellten Wache, und nun konnten sie jener Verläumdung dreist durch die Frage entgegentre- ten: wie kann der Leichnam entwendet worden sein, da ihr ja eine Wache am Grab aufgestellt, und den Stein ver- siegelt hattet? Und weil, wie wir im Verlauf der Unter- suchung es selbst erprobt haben, einer Sage erst dann ih- re Grundlosigkeit völlig nachgewiesen ist, wenn es gelingt, zu zeigen, wie sie auch ohne historischen Grund sich bil- den konnte: so versuchte man von christlicher Seite, ne- ben der Aufstellung des vermeintlich wahren Thatbestan- des, zugleich die Genesis der falschen Sage nachzuweisen, indem man die verbreitete jüdische Lüge aus einer Anstif- tung des Synedriums und seiner mit der Wache vorgenom- menen Bestechung herleitete. Gerade das Umgekehrte von dem ist also wahr, was Hase sagt, die Sage sei wohl un- ter den Freunden Jesu entstanden, und von seinen Fein- den modificirt worden: die Freunde hatten nur dann erst Veranlassung, eine Wache zu erdichten, wenn die Feinde vorher von einem Diebstahl gesprochen hatten.
§. 133. Erste Kunde der Auferstehung.
Daſs die erste Kunde von dem eröffneten und leeren Grab Jesu am zweiten Morgen nach seinem Begräbniſs durch Frauenmund an die Jünger gekommen, darin stim- men die vier Evangelisten überein: aber in allen näheren Umständen weichen sie auf eine Weise von einander ab, welche der Polemik eines Wolfenbüttler Fragmentisten den reichsten Stoff geboten, und dagegen den Harmonisten und Apologeten vollauf zu thun gegeben hat, ohne daſs bis jezt
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0609"n="590"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Dritter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
liegenden Sage gehört haben, sondern das unter den Ju-<lb/>
den verbreitete Gerücht bestand, wie auch der Text sagt,<lb/>
nur darin, daſs die Jünger den Leichnam gestohlen haben<lb/>
sollten. Indem die Christen diese Verläumdung zu wider-<lb/>
legen wünschten, bildete sich unter ihnen die Sage von ei-<lb/>
ner am Grab Jesu aufgestellten Wache, und nun konnten<lb/>
sie jener Verläumdung dreist durch die Frage entgegentre-<lb/>
ten: wie kann der Leichnam entwendet worden sein, da<lb/>
ihr ja eine Wache am Grab aufgestellt, und den Stein ver-<lb/>
siegelt hattet? Und weil, wie wir im Verlauf der Unter-<lb/>
suchung es selbst erprobt haben, einer Sage erst dann ih-<lb/>
re Grundlosigkeit völlig nachgewiesen ist, wenn es gelingt,<lb/>
zu zeigen, wie sie auch ohne historischen Grund sich bil-<lb/>
den konnte: so versuchte man von christlicher Seite, ne-<lb/>
ben der Aufstellung des vermeintlich wahren Thatbestan-<lb/>
des, zugleich die Genesis der falschen Sage nachzuweisen,<lb/>
indem man die verbreitete jüdische Lüge aus einer Anstif-<lb/>
tung des Synedriums und seiner mit der Wache vorgenom-<lb/>
menen Bestechung herleitete. Gerade das Umgekehrte von<lb/>
dem ist also wahr, was <hirendition="#k">Hase</hi> sagt, die Sage sei wohl un-<lb/>
ter den Freunden Jesu entstanden, und von seinen Fein-<lb/>
den modificirt worden: die Freunde hatten nur dann erst<lb/>
Veranlassung, eine Wache zu erdichten, wenn die Feinde<lb/>
vorher von einem Diebstahl gesprochen hatten.</p></div><lb/><divn="2"><head>§. 133.<lb/>
Erste Kunde der Auferstehung.</head><lb/><p>Daſs die erste Kunde von dem eröffneten und leeren<lb/>
Grab Jesu am zweiten Morgen nach seinem Begräbniſs<lb/>
durch Frauenmund an die Jünger gekommen, darin stim-<lb/>
men die vier Evangelisten überein: aber in allen näheren<lb/>
Umständen weichen sie auf eine Weise von einander ab,<lb/>
welche der Polemik eines Wolfenbüttler Fragmentisten den<lb/>
reichsten Stoff geboten, und dagegen den Harmonisten und<lb/>
Apologeten vollauf zu thun gegeben hat, ohne daſs bis jezt<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[590/0609]
Dritter Abschnitt.
liegenden Sage gehört haben, sondern das unter den Ju-
den verbreitete Gerücht bestand, wie auch der Text sagt,
nur darin, daſs die Jünger den Leichnam gestohlen haben
sollten. Indem die Christen diese Verläumdung zu wider-
legen wünschten, bildete sich unter ihnen die Sage von ei-
ner am Grab Jesu aufgestellten Wache, und nun konnten
sie jener Verläumdung dreist durch die Frage entgegentre-
ten: wie kann der Leichnam entwendet worden sein, da
ihr ja eine Wache am Grab aufgestellt, und den Stein ver-
siegelt hattet? Und weil, wie wir im Verlauf der Unter-
suchung es selbst erprobt haben, einer Sage erst dann ih-
re Grundlosigkeit völlig nachgewiesen ist, wenn es gelingt,
zu zeigen, wie sie auch ohne historischen Grund sich bil-
den konnte: so versuchte man von christlicher Seite, ne-
ben der Aufstellung des vermeintlich wahren Thatbestan-
des, zugleich die Genesis der falschen Sage nachzuweisen,
indem man die verbreitete jüdische Lüge aus einer Anstif-
tung des Synedriums und seiner mit der Wache vorgenom-
menen Bestechung herleitete. Gerade das Umgekehrte von
dem ist also wahr, was Hase sagt, die Sage sei wohl un-
ter den Freunden Jesu entstanden, und von seinen Fein-
den modificirt worden: die Freunde hatten nur dann erst
Veranlassung, eine Wache zu erdichten, wenn die Feinde
vorher von einem Diebstahl gesprochen hatten.
§. 133.
Erste Kunde der Auferstehung.
Daſs die erste Kunde von dem eröffneten und leeren
Grab Jesu am zweiten Morgen nach seinem Begräbniſs
durch Frauenmund an die Jünger gekommen, darin stim-
men die vier Evangelisten überein: aber in allen näheren
Umständen weichen sie auf eine Weise von einander ab,
welche der Polemik eines Wolfenbüttler Fragmentisten den
reichsten Stoff geboten, und dagegen den Harmonisten und
Apologeten vollauf zu thun gegeben hat, ohne daſs bis jezt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 590. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/609>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.