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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Viertes Kapitel. §. 130.
welchen Jesus unmittelbar vor dem Augenblick, den sie
für den lezten hielten, noch Kraft zum lauten Rufen hat-
te, auch die beiden Mitgekreuzigten nach jener Zeit noch
am Leben waren; theils endlich durch Beispiele von sol-
chen zu belegen ist, welche mehrere Tage lebend am Kreuz
zugebracht haben, und erst durch Hunger u. dgl. allmählig ge-
tödtet worden sind 1). Daher haben Kirchenväter und ältere
Theologen die Ansicht aufgestellt, Jesu Tod, der auf na-
türlichem Wege noch nicht so bald erfolgt sein würde, sei
auf übernatürliche Weise, entweder durch ihn selber, oder
durch Gott, beschleunigt worden 2); Ärzte und neuere
Theologen haben sich auf die gehäuften körperlichen und
Seelenleiden berufen, welche Jesus den Abend und die
Nacht vor seiner Kreuzigung zu dulden hatte 3): doch auch
sie lassen noch die Möglichkeit offen, dass, was den
Evangelisten der Eintritt des Todes schien, nur eine durch
Stockung des Blutumlaufs herbeigeführte Ohnmacht gewe-
sen sei, und erst der Speerstich in die Seite den Tod Je-
su entschieden habe.

Doch eben über diesen Speerstich, über den Ort, an
welchem, das Instrument, durch welches, und die Art und
Weise, wie er beigebracht worden, über seinen Zweck und
seine Wirkung, waren von jeher die Meinungen sehr ver-
schieden. Das Instrument bezeichnet der Evangelist als
eine logkhe, was ebensogut den leichteren Wurfspiess, als
die schwere Lanze bedeuten kann: so dass wir über den
Umfang der Wunde im Ungewissen bleiben. Die Art, wie
die Wunde beigebracht wurde, beschreibt er durch nussein:
diess bedeutet aber bald eine tödtliche Verwundung, bald

1) Das Hiehergehörige findet sich zusammengestellt bei Paulus,
ex. Handb. 3, b, S. 781 ff.; Winer, bibl. Realwörterbuch 1,
S. 672 ff.; und Hase, §. 144.
2) Jenes Tertullian, dieses Grotius, s. bei Paulus, S. 784, Anm.
3) so Gruner u. A. bei Paulus, S. 782 ff. Hase, a. a. O.

Viertes Kapitel. §. 130.
welchen Jesus unmittelbar vor dem Augenblick, den sie
für den lezten hielten, noch Kraft zum lauten Rufen hat-
te, auch die beiden Mitgekreuzigten nach jener Zeit noch
am Leben waren; theils endlich durch Beispiele von sol-
chen zu belegen ist, welche mehrere Tage lebend am Kreuz
zugebracht haben, und erst durch Hunger u. dgl. allmählig ge-
tödtet worden sind 1). Daher haben Kirchenväter und ältere
Theologen die Ansicht aufgestellt, Jesu Tod, der auf na-
türlichem Wege noch nicht so bald erfolgt sein würde, sei
auf übernatürliche Weise, entweder durch ihn selber, oder
durch Gott, beschleunigt worden 2); Ärzte und neuere
Theologen haben sich auf die gehäuften körperlichen und
Seelenleiden berufen, welche Jesus den Abend und die
Nacht vor seiner Kreuzigung zu dulden hatte 3): doch auch
sie lassen noch die Möglichkeit offen, daſs, was den
Evangelisten der Eintritt des Todes schien, nur eine durch
Stockung des Blutumlaufs herbeigeführte Ohnmacht gewe-
sen sei, und erst der Speerstich in die Seite den Tod Je-
su entschieden habe.

Doch eben über diesen Speerstich, über den Ort, an
welchem, das Instrument, durch welches, und die Art und
Weise, wie er beigebracht worden, über seinen Zweck und
seine Wirkung, waren von jeher die Meinungen sehr ver-
schieden. Das Instrument bezeichnet der Evangelist als
eine λόγχη, was ebensogut den leichteren Wurfspieſs, als
die schwere Lanze bedeuten kann: so daſs wir über den
Umfang der Wunde im Ungewissen bleiben. Die Art, wie
die Wunde beigebracht wurde, beschreibt er durch νύσσειν:
dieſs bedeutet aber bald eine tödtliche Verwundung, bald

1) Das Hiehergehörige findet sich zusammengestellt bei Paulus,
ex. Handb. 3, b, S. 781 ff.; Winer, bibl. Realwörterbuch 1,
S. 672 ff.; und Hase, §. 144.
2) Jenes Tertullian, dieses Grotius, s. bei Paulus, S. 784, Anm.
3) so Gruner u. A. bei Paulus, S. 782 ff. Hase, a. a. O.
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[567/0586] Viertes Kapitel. §. 130. welchen Jesus unmittelbar vor dem Augenblick, den sie für den lezten hielten, noch Kraft zum lauten Rufen hat- te, auch die beiden Mitgekreuzigten nach jener Zeit noch am Leben waren; theils endlich durch Beispiele von sol- chen zu belegen ist, welche mehrere Tage lebend am Kreuz zugebracht haben, und erst durch Hunger u. dgl. allmählig ge- tödtet worden sind 1). Daher haben Kirchenväter und ältere Theologen die Ansicht aufgestellt, Jesu Tod, der auf na- türlichem Wege noch nicht so bald erfolgt sein würde, sei auf übernatürliche Weise, entweder durch ihn selber, oder durch Gott, beschleunigt worden 2); Ärzte und neuere Theologen haben sich auf die gehäuften körperlichen und Seelenleiden berufen, welche Jesus den Abend und die Nacht vor seiner Kreuzigung zu dulden hatte 3): doch auch sie lassen noch die Möglichkeit offen, daſs, was den Evangelisten der Eintritt des Todes schien, nur eine durch Stockung des Blutumlaufs herbeigeführte Ohnmacht gewe- sen sei, und erst der Speerstich in die Seite den Tod Je- su entschieden habe. Doch eben über diesen Speerstich, über den Ort, an welchem, das Instrument, durch welches, und die Art und Weise, wie er beigebracht worden, über seinen Zweck und seine Wirkung, waren von jeher die Meinungen sehr ver- schieden. Das Instrument bezeichnet der Evangelist als eine λόγχη, was ebensogut den leichteren Wurfspieſs, als die schwere Lanze bedeuten kann: so daſs wir über den Umfang der Wunde im Ungewissen bleiben. Die Art, wie die Wunde beigebracht wurde, beschreibt er durch νύσσειν: dieſs bedeutet aber bald eine tödtliche Verwundung, bald 1) Das Hiehergehörige findet sich zusammengestellt bei Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 781 ff.; Winer, bibl. Realwörterbuch 1, S. 672 ff.; und Hase, §. 144. 2) Jenes Tertullian, dieses Grotius, s. bei Paulus, S. 784, Anm. 3) so Gruner u. A. bei Paulus, S. 782 ff. Hase, a. a. O.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/586>, abgerufen am 23.05.2024.