Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Dritter Abschnitt. gends sonst im N. T., weder in den apostolischen Brie-fen, noch in der A. G., noch im Brief an die Hebräer, auf dessen Wege es fast nicht umgangen werden konnte, ge- schieht dieses Faktums eine Erwähnung: sondern bis auf diese trockene synoptische Notiz ist jede Spur desselben verloren, was schwerlich der Fall sein könnte, wenn es wirklich einen Stüzpunkt apostolischer Beweisführung ge- bildet hätte. Es müsste also die göttliche Absicht bei Veranstaltung dieses Wunders durchaus verfehlt worden sein, oder, da diess undenkbar ist, so kann es nicht um dieses Zweckes willen, d. h. aber, da sich ein andrer nicht denken lässt, gar nicht geschehen sein. In anderer Weise kommt freilich ein eigenthümliches Verhältniss Jesu zum jüdischen Tempelvorhang im Hebräerbrief zur Spra- che. Während vor Christo nur die Priester in das Heili- ge, in das Allerheiligste aber nur der Hohepriester Ein- mal des Jahrs mit dem Sühnungsblute Zutritt gehabt habe, sei Christus als ewiger Hoherpriester mittelst seines eignen Blutes eis to esoteron tou katapetasmatos, in das Aller- heiligste des Himmels, eingegangen, womit er der prodro- mos der Christen geworden sei, und auch ihnen den Zu- gang dahin eröffnet, eine aionion lutrosin gestiftet habe (6, 19 f. 9, 6--12. 10, 19 f.). Diese Metaphern findet auch Paulus unsrer Erzählung so verwandt, dass er es möglich findet, diese zu den Fabeln zu rechnen, welche nach dem Henke'schen Programm e figurato genere dicendi abzulei- ten sind; wenigstens sei die Sache, wenn auch wirklich vorgefallen, doch den Christen vorzüglich wegen jener, den Bildern des Hebräerbriefs verwandten symbolischen Be- deutsamkeit wichtig gewesen, dass nämlich durch Christi Tod der Vorhang des jüdischen Cultus zerrissen, der Zutritt zu Gott ohne Priester durch proskunein en pneu- mati jedem eröffnet sei. Ist aber, wie gezeigt, die histo- rische Wahrscheinlichkeit des fraglichen Ereignisses so schwach, dagegen die Anlässe, aus welchen die Erzählung Dritter Abschnitt. gends sonst im N. T., weder in den apostolischen Brie-fen, noch in der A. G., noch im Brief an die Hebräer, auf dessen Wege es fast nicht umgangen werden konnte, ge- schieht dieses Faktums eine Erwähnung: sondern bis auf diese trockene synoptische Notiz ist jede Spur desselben verloren, was schwerlich der Fall sein könnte, wenn es wirklich einen Stüzpunkt apostolischer Beweisführung ge- bildet hätte. Es müſste also die göttliche Absicht bei Veranstaltung dieses Wunders durchaus verfehlt worden sein, oder, da dieſs undenkbar ist, so kann es nicht um dieses Zweckes willen, d. h. aber, da sich ein andrer nicht denken läſst, gar nicht geschehen sein. In anderer Weise kommt freilich ein eigenthümliches Verhältniſs Jesu zum jüdischen Tempelvorhang im Hebräerbrief zur Spra- che. Während vor Christo nur die Priester in das Heili- ge, in das Allerheiligste aber nur der Hohepriester Ein- mal des Jahrs mit dem Sühnungsblute Zutritt gehabt habe, sei Christus als ewiger Hoherpriester mittelst seines eignen Blutes εἰς τὸ ἐσώτερον τοῦ καταπετάσματος, in das Aller- heiligste des Himmels, eingegangen, womit er der πρόδρο- μος der Christen geworden sei, und auch ihnen den Zu- gang dahin eröffnet, eine αἰώνιον λύτρωσιν gestiftet habe (6, 19 f. 9, 6—12. 10, 19 f.). Diese Metaphern findet auch Paulus unsrer Erzählung so verwandt, daſs er es möglich findet, diese zu den Fabeln zu rechnen, welche nach dem Henke'schen Programm e figurato genere dicendi abzulei- ten sind; wenigstens sei die Sache, wenn auch wirklich vorgefallen, doch den Christen vorzüglich wegen jener, den Bildern des Hebräerbriefs verwandten symbolischen Be- deutsamkeit wichtig gewesen, daſs nämlich durch Christi Tod der Vorhang des jüdischen Cultus zerrissen, der Zutritt zu Gott ohne Priester durch προσκυνεῖν ἐν πνεύ- ματι jedem eröffnet sei. Ist aber, wie gezeigt, die histo- rische Wahrscheinlichkeit des fraglichen Ereignisses so schwach, dagegen die Anlässe, aus welchen die Erzählung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0577" n="558"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dritter Abschnitt</hi>.</fw><lb/> gends sonst im N. T., weder in den apostolischen Brie-<lb/> fen, noch in der A. G., noch im Brief an die Hebräer, auf<lb/> dessen Wege es fast nicht umgangen werden konnte, ge-<lb/> schieht dieses Faktums eine Erwähnung: sondern bis auf<lb/> diese trockene synoptische Notiz ist jede Spur desselben<lb/> verloren, was schwerlich der Fall sein könnte, wenn es<lb/> wirklich einen Stüzpunkt apostolischer Beweisführung ge-<lb/> bildet hätte. Es müſste also die göttliche Absicht bei<lb/> Veranstaltung dieses Wunders durchaus verfehlt worden<lb/> sein, oder, da dieſs undenkbar ist, so kann es nicht<lb/> um dieses Zweckes willen, d. h. aber, da sich ein andrer<lb/> nicht denken läſst, gar nicht geschehen sein. In anderer<lb/> Weise kommt freilich ein eigenthümliches Verhältniſs Jesu<lb/> zum jüdischen Tempelvorhang im Hebräerbrief zur Spra-<lb/> che. Während vor Christo nur die Priester in das Heili-<lb/> ge, in das Allerheiligste aber nur der Hohepriester Ein-<lb/> mal des Jahrs mit dem Sühnungsblute Zutritt gehabt habe,<lb/> sei Christus als ewiger Hoherpriester mittelst seines eignen<lb/> Blutes <foreign xml:lang="ell">εἰς τὸ ἐσώτερον τοῦ καταπετάσματος</foreign>, in das Aller-<lb/> heiligste des Himmels, eingegangen, womit er der πρόδρο-<lb/> μος der Christen geworden sei, und auch ihnen den Zu-<lb/> gang dahin eröffnet, eine <foreign xml:lang="ell">αἰώνιον λύτρωσιν</foreign> gestiftet habe<lb/> (6, 19 f. 9, 6—12. 10, 19 f.). Diese Metaphern findet auch<lb/><hi rendition="#k">Paulus</hi> unsrer Erzählung so verwandt, daſs er es möglich<lb/> findet, diese zu den Fabeln zu rechnen, welche nach dem<lb/><hi rendition="#k">Henke</hi>'schen Programm <hi rendition="#i">e figurato genere dicendi</hi> abzulei-<lb/> ten sind; wenigstens sei die Sache, wenn auch wirklich<lb/> vorgefallen, doch den Christen vorzüglich wegen jener, den<lb/> Bildern des Hebräerbriefs verwandten symbolischen Be-<lb/> deutsamkeit wichtig gewesen, daſs nämlich durch Christi<lb/> Tod der Vorhang des jüdischen Cultus zerrissen, der<lb/> Zutritt zu Gott ohne Priester durch <foreign xml:lang="ell">προσκυνεῖν ἐν πνεύ-<lb/> ματι</foreign> jedem eröffnet sei. Ist aber, wie gezeigt, die histo-<lb/> rische Wahrscheinlichkeit des fraglichen Ereignisses so<lb/> schwach, dagegen die Anlässe, aus welchen die Erzählung<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [558/0577]
Dritter Abschnitt.
gends sonst im N. T., weder in den apostolischen Brie-
fen, noch in der A. G., noch im Brief an die Hebräer, auf
dessen Wege es fast nicht umgangen werden konnte, ge-
schieht dieses Faktums eine Erwähnung: sondern bis auf
diese trockene synoptische Notiz ist jede Spur desselben
verloren, was schwerlich der Fall sein könnte, wenn es
wirklich einen Stüzpunkt apostolischer Beweisführung ge-
bildet hätte. Es müſste also die göttliche Absicht bei
Veranstaltung dieses Wunders durchaus verfehlt worden
sein, oder, da dieſs undenkbar ist, so kann es nicht
um dieses Zweckes willen, d. h. aber, da sich ein andrer
nicht denken läſst, gar nicht geschehen sein. In anderer
Weise kommt freilich ein eigenthümliches Verhältniſs Jesu
zum jüdischen Tempelvorhang im Hebräerbrief zur Spra-
che. Während vor Christo nur die Priester in das Heili-
ge, in das Allerheiligste aber nur der Hohepriester Ein-
mal des Jahrs mit dem Sühnungsblute Zutritt gehabt habe,
sei Christus als ewiger Hoherpriester mittelst seines eignen
Blutes εἰς τὸ ἐσώτερον τοῦ καταπετάσματος, in das Aller-
heiligste des Himmels, eingegangen, womit er der πρόδρο-
μος der Christen geworden sei, und auch ihnen den Zu-
gang dahin eröffnet, eine αἰώνιον λύτρωσιν gestiftet habe
(6, 19 f. 9, 6—12. 10, 19 f.). Diese Metaphern findet auch
Paulus unsrer Erzählung so verwandt, daſs er es möglich
findet, diese zu den Fabeln zu rechnen, welche nach dem
Henke'schen Programm e figurato genere dicendi abzulei-
ten sind; wenigstens sei die Sache, wenn auch wirklich
vorgefallen, doch den Christen vorzüglich wegen jener, den
Bildern des Hebräerbriefs verwandten symbolischen Be-
deutsamkeit wichtig gewesen, daſs nämlich durch Christi
Tod der Vorhang des jüdischen Cultus zerrissen, der
Zutritt zu Gott ohne Priester durch προσκυνεῖν ἐν πνεύ-
ματι jedem eröffnet sei. Ist aber, wie gezeigt, die histo-
rische Wahrscheinlichkeit des fraglichen Ereignisses so
schwach, dagegen die Anlässe, aus welchen die Erzählung
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |