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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.
war durch den Umstand angezeigt, dass Lukas der einzige
ist, von welchem wir dieselbe erfahren 22). Sind laut der
gewöhnlichen Voraussetzung das erste und vierte Evange-
lium apostolischen Ursprungs: warum schweigt dann Mat-
thäus, der doch im Garten war, von dem Engel, warum
besonders Johannes, der unter den Dreien in der Nähe
Jesu sich befand? Sagt man: weil sie, schlaftrunken, wie
sie waren, und immerhin in einiger Entfernung, noch dazu
bei Nacht, ihn nicht bemerkten, so fragt sich, woher Lu-
kas die Notiz bekommen haben soll 23)? Dass, sofern die
Jünger die Erscheinung nicht selbst beobachtet hatten, Je-
sus ihnen noch in jener Nacht von derselben sollte erzählt
haben, ist wegen der gespannten Stimmung jener Stun-
den, und der unmittelbar nach der Zurückkunft Jesu zu
seinen Jüngern erfolgten Annäherung des Judas wenig
wahrscheinlich; ebenso, dass er in den Tagen der Auf-
erstehung es ihnen sollte mitgetheilt, und diese Kunde
nun nur dem dritten Evangelisten, an welchen sie doch
bloss mittelbar gelangte, der Aufzeichnung werth geschie-
nen haben. Da auf diese Weise Alles gegen den histori-
schen Charakter der Engelerscheinung sich vereinigt: war-
um sollten wir nicht auch sie, wie alle, namentlich in der
Kindheitsgeschichte Jesu uns vorgekommenen Erscheinun-
gen dieser Art, mythisch fassen? Schon Gabler hat die
Ansicht vorgetragen, dass man in der ältesten Gemeinde
den schnellen Übergang von der heftigsten Gemüthsbewe-
gung zu der ruhigsten Ergebung, welcher in jener Nacht
an Jesu bemerklich war, sich der jüdischen Denkweise ge-
mäss durch die Dazwischenkunft eines stärkenden Engels
erklärt, und diese Erklärung sich in die Erzählung ge-

22) vgl. hierüber und über das Folgende Gabler, im neuesten
theol. Journal, 1, 2, S. 109 ff. 3, S. 217 ff.
23) vgl. Julian bei Theod. v. Mopsv. in Münter's Fragm. Patr.
p. 121 f.

Dritter Abschnitt.
war durch den Umstand angezeigt, daſs Lukas der einzige
ist, von welchem wir dieselbe erfahren 22). Sind laut der
gewöhnlichen Voraussetzung das erste und vierte Evange-
lium apostolischen Ursprungs: warum schweigt dann Mat-
thäus, der doch im Garten war, von dem Engel, warum
besonders Johannes, der unter den Dreien in der Nähe
Jesu sich befand? Sagt man: weil sie, schlaftrunken, wie
sie waren, und immerhin in einiger Entfernung, noch dazu
bei Nacht, ihn nicht bemerkten, so fragt sich, woher Lu-
kas die Notiz bekommen haben soll 23)? Daſs, sofern die
Jünger die Erscheinung nicht selbst beobachtet hatten, Je-
sus ihnen noch in jener Nacht von derselben sollte erzählt
haben, ist wegen der gespannten Stimmung jener Stun-
den, und der unmittelbar nach der Zurückkunft Jesu zu
seinen Jüngern erfolgten Annäherung des Judas wenig
wahrscheinlich; ebenso, daſs er in den Tagen der Auf-
erstehung es ihnen sollte mitgetheilt, und diese Kunde
nun nur dem dritten Evangelisten, an welchen sie doch
bloſs mittelbar gelangte, der Aufzeichnung werth geschie-
nen haben. Da auf diese Weise Alles gegen den histori-
schen Charakter der Engelerscheinung sich vereinigt: war-
um sollten wir nicht auch sie, wie alle, namentlich in der
Kindheitsgeschichte Jesu uns vorgekommenen Erscheinun-
gen dieser Art, mythisch fassen? Schon Gabler hat die
Ansicht vorgetragen, daſs man in der ältesten Gemeinde
den schnellen Übergang von der heftigsten Gemüthsbewe-
gung zu der ruhigsten Ergebung, welcher in jener Nacht
an Jesu bemerklich war, sich der jüdischen Denkweise ge-
mäſs durch die Dazwischenkunft eines stärkenden Engels
erklärt, und diese Erklärung sich in die Erzählung ge-

22) vgl. hierüber und über das Folgende Gabler, im neuesten
theol. Journal, 1, 2, S. 109 ff. 3, S. 217 ff.
23) vgl. Julian bei Theod. v. Mopsv. in Münter's Fragm. Patr.
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[450/0469] Dritter Abschnitt. war durch den Umstand angezeigt, daſs Lukas der einzige ist, von welchem wir dieselbe erfahren 22). Sind laut der gewöhnlichen Voraussetzung das erste und vierte Evange- lium apostolischen Ursprungs: warum schweigt dann Mat- thäus, der doch im Garten war, von dem Engel, warum besonders Johannes, der unter den Dreien in der Nähe Jesu sich befand? Sagt man: weil sie, schlaftrunken, wie sie waren, und immerhin in einiger Entfernung, noch dazu bei Nacht, ihn nicht bemerkten, so fragt sich, woher Lu- kas die Notiz bekommen haben soll 23)? Daſs, sofern die Jünger die Erscheinung nicht selbst beobachtet hatten, Je- sus ihnen noch in jener Nacht von derselben sollte erzählt haben, ist wegen der gespannten Stimmung jener Stun- den, und der unmittelbar nach der Zurückkunft Jesu zu seinen Jüngern erfolgten Annäherung des Judas wenig wahrscheinlich; ebenso, daſs er in den Tagen der Auf- erstehung es ihnen sollte mitgetheilt, und diese Kunde nun nur dem dritten Evangelisten, an welchen sie doch bloſs mittelbar gelangte, der Aufzeichnung werth geschie- nen haben. Da auf diese Weise Alles gegen den histori- schen Charakter der Engelerscheinung sich vereinigt: war- um sollten wir nicht auch sie, wie alle, namentlich in der Kindheitsgeschichte Jesu uns vorgekommenen Erscheinun- gen dieser Art, mythisch fassen? Schon Gabler hat die Ansicht vorgetragen, daſs man in der ältesten Gemeinde den schnellen Übergang von der heftigsten Gemüthsbewe- gung zu der ruhigsten Ergebung, welcher in jener Nacht an Jesu bemerklich war, sich der jüdischen Denkweise ge- mäſs durch die Dazwischenkunft eines stärkenden Engels erklärt, und diese Erklärung sich in die Erzählung ge- 22) vgl. hierüber und über das Folgende Gabler, im neuesten theol. Journal, 1, 2, S. 109 ff. 3, S. 217 ff. 23) vgl. Julian bei Theod. v. Mopsv. in Münter's Fragm. Patr. p. 121 f.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/469>, abgerufen am 22.11.2024.