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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Drittes Kapitel. §. 121.
direkt die Sünden der Welt, und der auf diese sich be-
ziehende Zorn Gottes, sondern die ihm beigebrachten Wun-
den, sammt seiner ganzen jammervollen Lage, in welche
er freilich um der Sünden der Menschheit willen versezt
war, schmerzten: so war es der Vorstellung der Evangeli-
sten zufolge auch in Gethsemane nicht unmittelbar das Ge-
fühl des Elends der Menschheit, sondern das Vorgefühl
seines eigenen, allerdings an der Stelle der Menschheit zu
übernehmenden Leidens, was ihn in jene Bangigkeit ver-
sezte.

Von der unhaltbar befundenen kirchlichen Ansicht des
Seelenkampfs Jesu ist man in neuerer Zeit einerseits in
rohen Materialismus zurückgefallen, indem man die Stim-
mung, welche man ethisch rechtfertigen zu können ver-
zweifelte, zu einer rein physischen machte, und Jesu in
Gethsemane eine Übelkeit zustossen liess 9); eine Ansicht,
welche Paulus mit einer Strenge, die er nur fleissiger auch
gegen seine eigenen Erklärungen hätte kehren sollen, für
eine unschickliche, textwidrige Umdeutung erklärt, dabei
aber dennoch die Heumann'sche Hypothese nicht unwahr-
scheinlich findet, dass zu dem innern Schmerz eine leib-
liche Erkältung in dem vom Kidron durchschnittenen Thal-
grund wenigstens hinzugekommen sei 10). Von der andern
Seite hat man der Scene mit moderner Empfindsamkeit auf-
zuhelfen gesucht, und das Freundschaftsgefühl, den Tren-
nungsschmerz, die Abschiedsgedanken, als dasjenige betrach-
tet, was Jesu Inneres so zerrissen habe 11); oder ein trü-
bes Gemisch von dem Allem, von selbstischem und theil-
nehmendem, sinnlichem und geistigem Schmerz vorausge-
sezt 12). Paulus deutet das ei dunaton esi, pareltheto to

9) Thikss, krit. Comm. S. 418 ff.
10) a. a. O. S. 554 f. Anm. 549.
11) Schuster, zur Erläuterung des N. T., in Eichhorn's Biblioth.
9, S. 1012 ff.
12) Hess, Geschichte Jesu, 2, S. 322 ff. Kuinöl, in Matth. p. 719.

Drittes Kapitel. §. 121.
direkt die Sünden der Welt, und der auf diese sich be-
ziehende Zorn Gottes, sondern die ihm beigebrachten Wun-
den, sammt seiner ganzen jammervollen Lage, in welche
er freilich um der Sünden der Menschheit willen versezt
war, schmerzten: so war es der Vorstellung der Evangeli-
sten zufolge auch in Gethsemane nicht unmittelbar das Ge-
fühl des Elends der Menschheit, sondern das Vorgefühl
seines eigenen, allerdings an der Stelle der Menschheit zu
übernehmenden Leidens, was ihn in jene Bangigkeit ver-
sezte.

Von der unhaltbar befundenen kirchlichen Ansicht des
Seelenkampfs Jesu ist man in neuerer Zeit einerseits in
rohen Materialismus zurückgefallen, indem man die Stim-
mung, welche man ethisch rechtfertigen zu können ver-
zweifelte, zu einer rein physischen machte, und Jesu in
Gethsemane eine Übelkeit zustossen lieſs 9); eine Ansicht,
welche Paulus mit einer Strenge, die er nur fleissiger auch
gegen seine eigenen Erklärungen hätte kehren sollen, für
eine unschickliche, textwidrige Umdeutung erklärt, dabei
aber dennoch die Heumann'sche Hypothese nicht unwahr-
scheinlich findet, daſs zu dem innern Schmerz eine leib-
liche Erkältung in dem vom Kidron durchschnittenen Thal-
grund wenigstens hinzugekommen sei 10). Von der andern
Seite hat man der Scene mit moderner Empfindsamkeit auf-
zuhelfen gesucht, und das Freundschaftsgefühl, den Tren-
nungsschmerz, die Abschiedsgedanken, als dasjenige betrach-
tet, was Jesu Inneres so zerrissen habe 11); oder ein trü-
bes Gemisch von dem Allem, von selbstischem und theil-
nehmendem, sinnlichem und geistigem Schmerz vorausge-
sezt 12). Paulus deutet das εἰ δυνατόν ἐςι, παρελϑέτω τὸ

9) Thikss, krit. Comm. S. 418 ff.
10) a. a. O. S. 554 f. Anm. 549.
11) Schuster, zur Erläuterung des N. T., in Eichhorn's Biblioth.
9, S. 1012 ff.
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[447/0466] Drittes Kapitel. §. 121. direkt die Sünden der Welt, und der auf diese sich be- ziehende Zorn Gottes, sondern die ihm beigebrachten Wun- den, sammt seiner ganzen jammervollen Lage, in welche er freilich um der Sünden der Menschheit willen versezt war, schmerzten: so war es der Vorstellung der Evangeli- sten zufolge auch in Gethsemane nicht unmittelbar das Ge- fühl des Elends der Menschheit, sondern das Vorgefühl seines eigenen, allerdings an der Stelle der Menschheit zu übernehmenden Leidens, was ihn in jene Bangigkeit ver- sezte. Von der unhaltbar befundenen kirchlichen Ansicht des Seelenkampfs Jesu ist man in neuerer Zeit einerseits in rohen Materialismus zurückgefallen, indem man die Stim- mung, welche man ethisch rechtfertigen zu können ver- zweifelte, zu einer rein physischen machte, und Jesu in Gethsemane eine Übelkeit zustossen lieſs 9); eine Ansicht, welche Paulus mit einer Strenge, die er nur fleissiger auch gegen seine eigenen Erklärungen hätte kehren sollen, für eine unschickliche, textwidrige Umdeutung erklärt, dabei aber dennoch die Heumann'sche Hypothese nicht unwahr- scheinlich findet, daſs zu dem innern Schmerz eine leib- liche Erkältung in dem vom Kidron durchschnittenen Thal- grund wenigstens hinzugekommen sei 10). Von der andern Seite hat man der Scene mit moderner Empfindsamkeit auf- zuhelfen gesucht, und das Freundschaftsgefühl, den Tren- nungsschmerz, die Abschiedsgedanken, als dasjenige betrach- tet, was Jesu Inneres so zerrissen habe 11); oder ein trü- bes Gemisch von dem Allem, von selbstischem und theil- nehmendem, sinnlichem und geistigem Schmerz vorausge- sezt 12). Paulus deutet das εἰ δυνατόν ἐςι, παρελϑέτω τὸ 9) Thikss, krit. Comm. S. 418 ff. 10) a. a. O. S. 554 f. Anm. 549. 11) Schuster, zur Erläuterung des N. T., in Eichhorn's Biblioth. 9, S. 1012 ff. 12) Hess, Geschichte Jesu, 2, S. 322 ff. Kuinöl, in Matth. p. 719.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/466>, abgerufen am 20.05.2024.