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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweites Kapitel. §. 120.
durch eine Reihe abstrakter Disjunktionen sichere Mauth-
linien ziehen zu können, welche das Eindringen einer un-
historischen Sage in diesem Stücke verhindern sollen: al-
lein die strenge Urkundlichkeit unsrer Tage darf von einer
werdenden Religionsgesellschaft nicht erwartet werden, de-
ren an verschiedenen Orten befindliche Theile noch keinen
geordneten Zusammenhang und meistens nur mündlichen
Verkehr hatten. Hienach das touto poieite k. t. l. für ei-
nen späteren Zusaz zu den Worten Jesu zu halten, dazu
darf man sich allerdings nicht durch falsche Gründe bewe-
gen lassen, wie dass es gegen die Demuth Jesu verstossen
haben würde, sich selbst eine Gedächtnissfeier zu stiften 5)
u. dergl.: wohl aber wird neben dem Stillschweigen der
beiden ersten Evangelisten das in Betracht kommen, dass,
wie überhaupt eine Gedächtnissfeier natürlicher aus dem
Bedürfniss der Zurückbleibenden, als aus dem Plane des
Scheidenden hervorgeht, so auch jene Worte weit eher dar-
nach lauten, das Bewusstsein der ersten Gemeinde, als eine
Verordnung Jesu auszusprechen.

Demnach soll nun bei'm Anblick des gebrochenen Brots
und ausgegossenen Weines Jesum eine Ahnung seines na-
hen gewaltsamen Todes angewandelt, er soll in jenem ein
Bild seines hinzurichtenden Leibes, in diesem seines zu
vergiessenden Blutes erblickt, und diesen augenblicklichen
Eindruck gegen seine Jünger ausgesprochen haben 6). Ei-
nen solchen tragischen Eindruck aber konnte Jesus nur be-
kommen, wenn er seinen gewaltsamen Tod mit Bestimmt-
heit in der Nähe sah. Er müsste also namentlich um den
Verrath des Judas gewusst haben, der sein Ende beschleu-
nigte: aber eben hievon haben wir uns kritisch noch nicht
überzeugen können, sondern eine Zurücktragung aus dem

5) Kaiser, bibl. Theol. 2, a, S. 39. Stephani, das h. Abendm.
S. 61.
6) Paulus, a. a. O. S. 519 ff. Raiser, a. a. O. S. 37 ff.

Zweites Kapitel. §. 120.
durch eine Reihe abstrakter Disjunktionen sichere Mauth-
linien ziehen zu können, welche das Eindringen einer un-
historischen Sage in diesem Stücke verhindern sollen: al-
lein die strenge Urkundlichkeit unsrer Tage darf von einer
werdenden Religionsgesellschaft nicht erwartet werden, de-
ren an verschiedenen Orten befindliche Theile noch keinen
geordneten Zusammenhang und meistens nur mündlichen
Verkehr hatten. Hienach das τοῦτο ποιεῖτε κ. τ. λ. für ei-
nen späteren Zusaz zu den Worten Jesu zu halten, dazu
darf man sich allerdings nicht durch falsche Gründe bewe-
gen lassen, wie daſs es gegen die Demuth Jesu verstoſsen
haben würde, sich selbst eine Gedächtniſsfeier zu stiften 5)
u. dergl.: wohl aber wird neben dem Stillschweigen der
beiden ersten Evangelisten das in Betracht kommen, daſs,
wie überhaupt eine Gedächtniſsfeier natürlicher aus dem
Bedürfniſs der Zurückbleibenden, als aus dem Plane des
Scheidenden hervorgeht, so auch jene Worte weit eher dar-
nach lauten, das Bewuſstsein der ersten Gemeinde, als eine
Verordnung Jesu auszusprechen.

Demnach soll nun bei'm Anblick des gebrochenen Brots
und ausgegossenen Weines Jesum eine Ahnung seines na-
hen gewaltsamen Todes angewandelt, er soll in jenem ein
Bild seines hinzurichtenden Leibes, in diesem seines zu
vergieſsenden Blutes erblickt, und diesen augenblicklichen
Eindruck gegen seine Jünger ausgesprochen haben 6). Ei-
nen solchen tragischen Eindruck aber konnte Jesus nur be-
kommen, wenn er seinen gewaltsamen Tod mit Bestimmt-
heit in der Nähe sah. Er müſste also namentlich um den
Verrath des Judas gewuſst haben, der sein Ende beschleu-
nigte: aber eben hievon haben wir uns kritisch noch nicht
überzeugen können, sondern eine Zurücktragung aus dem

5) Kaiser, bibl. Theol. 2, a, S. 39. Stephani, das h. Abendm.
S. 61.
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[439/0458] Zweites Kapitel. §. 120. durch eine Reihe abstrakter Disjunktionen sichere Mauth- linien ziehen zu können, welche das Eindringen einer un- historischen Sage in diesem Stücke verhindern sollen: al- lein die strenge Urkundlichkeit unsrer Tage darf von einer werdenden Religionsgesellschaft nicht erwartet werden, de- ren an verschiedenen Orten befindliche Theile noch keinen geordneten Zusammenhang und meistens nur mündlichen Verkehr hatten. Hienach das τοῦτο ποιεῖτε κ. τ. λ. für ei- nen späteren Zusaz zu den Worten Jesu zu halten, dazu darf man sich allerdings nicht durch falsche Gründe bewe- gen lassen, wie daſs es gegen die Demuth Jesu verstoſsen haben würde, sich selbst eine Gedächtniſsfeier zu stiften 5) u. dergl.: wohl aber wird neben dem Stillschweigen der beiden ersten Evangelisten das in Betracht kommen, daſs, wie überhaupt eine Gedächtniſsfeier natürlicher aus dem Bedürfniſs der Zurückbleibenden, als aus dem Plane des Scheidenden hervorgeht, so auch jene Worte weit eher dar- nach lauten, das Bewuſstsein der ersten Gemeinde, als eine Verordnung Jesu auszusprechen. Demnach soll nun bei'm Anblick des gebrochenen Brots und ausgegossenen Weines Jesum eine Ahnung seines na- hen gewaltsamen Todes angewandelt, er soll in jenem ein Bild seines hinzurichtenden Leibes, in diesem seines zu vergieſsenden Blutes erblickt, und diesen augenblicklichen Eindruck gegen seine Jünger ausgesprochen haben 6). Ei- nen solchen tragischen Eindruck aber konnte Jesus nur be- kommen, wenn er seinen gewaltsamen Tod mit Bestimmt- heit in der Nähe sah. Er müſste also namentlich um den Verrath des Judas gewuſst haben, der sein Ende beschleu- nigte: aber eben hievon haben wir uns kritisch noch nicht überzeugen können, sondern eine Zurücktragung aus dem 5) Kaiser, bibl. Theol. 2, a, S. 39. Stephani, das h. Abendm. S. 61. 6) Paulus, a. a. O. S. 519 ff. Raiser, a. a. O. S. 37 ff.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/458>, abgerufen am 22.11.2024.