Willkühr und Eigensinn betrachtet werden, wenn man auf Nichtanerkennung der Differenz zwischen den synoptischen Evangelien und dem vierten bestehen will.
So hat sich denn die neuere Kritik dazu verstehen müs- sen, auf einer oder der andern Seite einen Irrthum anzu- nehmen, und zwar war es, ausser den gangbaren Vorur- theilen für das johanneische Evangelium, ein bedeutender Grund, welcher zu nöthigen schien, den Irrthum auf die Seite der Synoptiker zu verlegen. Schon jenes alte, an- geblich Apollinarische Fragment wendet gegen die Mei- nung, dass Jesus te megale emera ton azumon epathen, ein, dass sie asumphonos to nomo sei, und so ist auch neuerlich wieder bemerkt worden, der auf das lezte Mahl Jesu fol- gende Tag werde von allen Seiten so werktäglich behan- delt, dass sich nicht denken lasse, er sei der erste Pa- schatag, und folglich das Mahl am Abend vorher das Pa- schamahl gewesen. Jesus feire ihn nicht, indem er, was in der Paschanacht verboten war, sich aus der Stadt ent- ferne; seine Freunde nicht, indem sie seine Bestattung noch zu besorgen anfangen, und sie nur wegen Anbruchs des nächsten Tags, des Sabbats, unvollendet lassen; noch weniger die Mitglieder des Synedriums, indem sie nicht nur ihre Diener aus der Stadt zur Verhaftung Jesu sen- den, sondern auch persönlich Gerichtssitzung, Verhör, Ur- theil und Klage bei dem Procurator vornehmen; überhaupt zeige sich durchaus nur die Furcht, den folgenden Tag, der am Abend nach der Kreuzigung anbrach, zu entheili- gen, nirgends eine Sorge für den laufenden: lauter Zei- chen, dass die synoptische Darstellung jenes Mahls als ei- nes Pascha ein späterer Irrthum sei, da in der übrigen Erzählung dieser Evangelisten selbst das Richtige, dass Je- sus den Tag vor dem Pascha gekreuzigt worden, noch un- verkennbar durchscheine 13). Diese Bemerkungen sind al-
13)Theile, a. a. O. 157 ff.; Sieffert und Lücke a. a. O.
Zweites Kapitel. §. 117.
Willkühr und Eigensinn betrachtet werden, wenn man auf Nichtanerkennung der Differenz zwischen den synoptischen Evangelien und dem vierten bestehen will.
So hat sich denn die neuere Kritik dazu verstehen müs- sen, auf einer oder der andern Seite einen Irrthum anzu- nehmen, und zwar war es, ausser den gangbaren Vorur- theilen für das johanneische Evangelium, ein bedeutender Grund, welcher zu nöthigen schien, den Irrthum auf die Seite der Synoptiker zu verlegen. Schon jenes alte, an- geblich Apollinarische Fragment wendet gegen die Mei- nung, daſs Jesus τῇ μεγάλῃ ἡμέρᾳ τῶν ἀζύμων ἔπαϑεν, ein, daſs sie ἀσύμφωνος τῷ νόμῳ sei, und so ist auch neuerlich wieder bemerkt worden, der auf das lezte Mahl Jesu fol- gende Tag werde von allen Seiten so werktäglich behan- delt, daſs sich nicht denken lasse, er sei der erste Pa- schatag, und folglich das Mahl am Abend vorher das Pa- schamahl gewesen. Jesus feire ihn nicht, indem er, was in der Paschanacht verboten war, sich aus der Stadt ent- ferne; seine Freunde nicht, indem sie seine Bestattung noch zu besorgen anfangen, und sie nur wegen Anbruchs des nächsten Tags, des Sabbats, unvollendet lassen; noch weniger die Mitglieder des Synedriums, indem sie nicht nur ihre Diener aus der Stadt zur Verhaftung Jesu sen- den, sondern auch persönlich Gerichtssitzung, Verhör, Ur- theil und Klage bei dem Procurator vornehmen; überhaupt zeige sich durchaus nur die Furcht, den folgenden Tag, der am Abend nach der Kreuzigung anbrach, zu entheili- gen, nirgends eine Sorge für den laufenden: lauter Zei- chen, daſs die synoptische Darstellung jenes Mahls als ei- nes Pascha ein späterer Irrthum sei, da in der übrigen Erzählung dieser Evangelisten selbst das Richtige, daſs Je- sus den Tag vor dem Pascha gekreuzigt worden, noch un- verkennbar durchscheine 13). Diese Bemerkungen sind al-
13)Theile, a. a. O. 157 ff.; Sieffert und Lücke a. a. O.
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Zweites Kapitel. §. 117.
Willkühr und Eigensinn betrachtet werden, wenn man auf
Nichtanerkennung der Differenz zwischen den synoptischen
Evangelien und dem vierten bestehen will.
So hat sich denn die neuere Kritik dazu verstehen müs-
sen, auf einer oder der andern Seite einen Irrthum anzu-
nehmen, und zwar war es, ausser den gangbaren Vorur-
theilen für das johanneische Evangelium, ein bedeutender
Grund, welcher zu nöthigen schien, den Irrthum auf die
Seite der Synoptiker zu verlegen. Schon jenes alte, an-
geblich Apollinarische Fragment wendet gegen die Mei-
nung, daſs Jesus τῇ μεγάλῃ ἡμέρᾳ τῶν ἀζύμων ἔπαϑεν, ein,
daſs sie ἀσύμφωνος τῷ νόμῳ sei, und so ist auch neuerlich
wieder bemerkt worden, der auf das lezte Mahl Jesu fol-
gende Tag werde von allen Seiten so werktäglich behan-
delt, daſs sich nicht denken lasse, er sei der erste Pa-
schatag, und folglich das Mahl am Abend vorher das Pa-
schamahl gewesen. Jesus feire ihn nicht, indem er, was
in der Paschanacht verboten war, sich aus der Stadt ent-
ferne; seine Freunde nicht, indem sie seine Bestattung
noch zu besorgen anfangen, und sie nur wegen Anbruchs
des nächsten Tags, des Sabbats, unvollendet lassen; noch
weniger die Mitglieder des Synedriums, indem sie nicht
nur ihre Diener aus der Stadt zur Verhaftung Jesu sen-
den, sondern auch persönlich Gerichtssitzung, Verhör, Ur-
theil und Klage bei dem Procurator vornehmen; überhaupt
zeige sich durchaus nur die Furcht, den folgenden Tag,
der am Abend nach der Kreuzigung anbrach, zu entheili-
gen, nirgends eine Sorge für den laufenden: lauter Zei-
chen, daſs die synoptische Darstellung jenes Mahls als ei-
nes Pascha ein späterer Irrthum sei, da in der übrigen
Erzählung dieser Evangelisten selbst das Richtige, daſs Je-
sus den Tag vor dem Pascha gekreuzigt worden, noch un-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/430>, abgerufen am 24.11.2024.
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