kommener erreicht, je weiter zurück im Leben Jesu dieses Vorherwissen gesezt wurde, woraus sich also erklärt, wa- rum der Verfasser des vierten Evangeliums, nicht zufrie- den damit, dass nach der gewöhnlichen Darstellung Jesus bei'm lezten Mahl den Verrath des Judas vorherverkündigt haben sollte, sein Wissen um denselben schon in die An- fänge des Zusammenseins Jesu mit Judas verlegte 10).
Ist hiemit ein so frühes Wissen Jesu um die Ver- rätherei des Judas als unhistorisch beseitigt, so wäre Raum für die Angabe gemacht, dass Judas den Beutel der Ge- sellschaft Jesu geführt habe, was sich nur mit jenem Vor- auswissen nicht zu vertragen schien, wogegen nun, wenn sich Jesus überhaupt in Judas irrte, er in eben diesem Irr- thum ihm auch die Casse anvertraut haben könnte. Allein durch die Nachweisung, dass die johanneische Darstellung in Bezug auf das Wissen Jesu um seinen Verräther eine gemachte sei, ist die Glaubwürdigkeit derselben in dieser Sache so erschüttert, dass man auch zu jener Angabe kein rechtes Vertrauen fassen kann. Hat der Verfasser des vierten Evangeliums das Verhältniss zwischen Jesu und Judas an der Jesum betreffenden Seite ausgemalt: so wird er schwerlich die Seite des Judas unverziert gelassen ha- ben; hat er die Thatsache, dass Jesus verrathen worden
10) Noch weiter rückwärts wird, nicht das Wissen Jesu um sei- nen Verräther, aber doch ein bedeutsames Zusammentreffen mit demselben, im apokryphischen evangelium infantiae ara- bicum c. 35., bei Fabricius 1, p. 197 f., bei Thilo, 1, p. 108 f. gesezt. Hier wird ein dämonischer Knabe, der im Anfall mit den Zahnen um sich biss, zu dem Kinde Jesus gebracht, er beisst nach ihm, und weil er es mit den Zähnen nicht errei- chen kann, versezt er ihm einen Schlag auf die rechte Seite, worauf das Jesuskind weint, der Satan aber einem wüthen- den Hunde ähnlich aus dem Knaben fährt. Hic autem puer, qui Jesum percussit et ex quo Satanas sub forma canis exi- vit, fuit Judas Ischariotes, qui illum Judaeis prodidit.
Zweites Kapitel. §. 114.
kommener erreicht, je weiter zurück im Leben Jesu dieses Vorherwissen gesezt wurde, woraus sich also erklärt, wa- rum der Verfasser des vierten Evangeliums, nicht zufrie- den damit, daſs nach der gewöhnlichen Darstellung Jesus bei'm lezten Mahl den Verrath des Judas vorherverkündigt haben sollte, sein Wissen um denselben schon in die An- fänge des Zusammenseins Jesu mit Judas verlegte 10).
Ist hiemit ein so frühes Wissen Jesu um die Ver- rätherei des Judas als unhistorisch beseitigt, so wäre Raum für die Angabe gemacht, daſs Judas den Beutel der Ge- sellschaft Jesu geführt habe, was sich nur mit jenem Vor- auswissen nicht zu vertragen schien, wogegen nun, wenn sich Jesus überhaupt in Judas irrte, er in eben diesem Irr- thum ihm auch die Casse anvertraut haben könnte. Allein durch die Nachweisung, daſs die johanneische Darstellung in Bezug auf das Wissen Jesu um seinen Verräther eine gemachte sei, ist die Glaubwürdigkeit derselben in dieser Sache so erschüttert, daſs man auch zu jener Angabe kein rechtes Vertrauen fassen kann. Hat der Verfasser des vierten Evangeliums das Verhältniſs zwischen Jesu und Judas an der Jesum betreffenden Seite ausgemalt: so wird er schwerlich die Seite des Judas unverziert gelassen ha- ben; hat er die Thatsache, daſs Jesus verrathen worden
10) Noch weiter rückwärts wird, nicht das Wissen Jesu um sei- nen Verräther, aber doch ein bedeutsames Zusammentreffen mit demselben, im apokryphischen evangelium infantiae ara- bicum c. 35., bei Fabricius 1, p. 197 f., bei Thilo, 1, p. 108 f. gesezt. Hier wird ein dämonischer Knabe, der im Anfall mit den Zahnen um sich biss, zu dem Kinde Jesus gebracht, er beisst nach ihm, und weil er es mit den Zähnen nicht errei- chen kann, versezt er ihm einen Schlag auf die rechte Seite, worauf das Jesuskind weint, der Satan aber einem wüthen- den Hunde ähnlich aus dem Knaben fährt. Hic autem puer, qui Jesum percussit et ex quo Satanas sub forma canis exi- vit, fuit Judas Ischariotes, qui illum Judaeis prodidit.
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Zweites Kapitel. §. 114.
kommener erreicht, je weiter zurück im Leben Jesu dieses
Vorherwissen gesezt wurde, woraus sich also erklärt, wa-
rum der Verfasser des vierten Evangeliums, nicht zufrie-
den damit, daſs nach der gewöhnlichen Darstellung Jesus
bei'm lezten Mahl den Verrath des Judas vorherverkündigt
haben sollte, sein Wissen um denselben schon in die An-
fänge des Zusammenseins Jesu mit Judas verlegte 10).
Ist hiemit ein so frühes Wissen Jesu um die Ver-
rätherei des Judas als unhistorisch beseitigt, so wäre Raum
für die Angabe gemacht, daſs Judas den Beutel der Ge-
sellschaft Jesu geführt habe, was sich nur mit jenem Vor-
auswissen nicht zu vertragen schien, wogegen nun, wenn
sich Jesus überhaupt in Judas irrte, er in eben diesem Irr-
thum ihm auch die Casse anvertraut haben könnte. Allein
durch die Nachweisung, daſs die johanneische Darstellung
in Bezug auf das Wissen Jesu um seinen Verräther eine
gemachte sei, ist die Glaubwürdigkeit derselben in dieser
Sache so erschüttert, daſs man auch zu jener Angabe kein
rechtes Vertrauen fassen kann. Hat der Verfasser des
vierten Evangeliums das Verhältniſs zwischen Jesu und
Judas an der Jesum betreffenden Seite ausgemalt: so wird
er schwerlich die Seite des Judas unverziert gelassen ha-
ben; hat er die Thatsache, daſs Jesus verrathen worden
10) Noch weiter rückwärts wird, nicht das Wissen Jesu um sei-
nen Verräther, aber doch ein bedeutsames Zusammentreffen
mit demselben, im apokryphischen evangelium infantiae ara-
bicum c. 35., bei Fabricius 1, p. 197 f., bei Thilo, 1, p. 108 f.
gesezt. Hier wird ein dämonischer Knabe, der im Anfall mit
den Zahnen um sich biss, zu dem Kinde Jesus gebracht, er
beisst nach ihm, und weil er es mit den Zähnen nicht errei-
chen kann, versezt er ihm einen Schlag auf die rechte Seite,
worauf das Jesuskind weint, der Satan aber einem wüthen-
den Hunde ähnlich aus dem Knaben fährt. Hic autem puer,
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/408>, abgerufen am 22.07.2024.
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