stellen, doch um eines religiösen oder moralischen Zweckes willen dafür ausgiebt, der hat sich eine pia fraus erlaubt. Weiter bemerkt Olshausen, die Ansicht, dass die Zukunft Christi zunächst bevorstehe, habe ihre Wahrheit darin, dass wirklich die ganze Weltgeschichte ein Kommen Chri- sti sei, ohne dass jedoch hiedurch sein abschliessendes Kom- men am Ende der Dinge ausgeschlossen wäre. Allein, wenn Jesus als nächstbevorstehend bewiesenermassen sein eigentliches, abschliessendes Kommen darstellt, in Wahr- heit aber nur sein uneigentliches, fortwährendes Kommen auch in der nächsten Zeit schon eingetreten ist: so hat er diese beiden Arten seines Kommens verwechselt. Das Lez- te, was Olshausen anführt, weil die Beschleunigung oder Verzögerung der Wiederkunft Christi von dem Benehmen der Menschen, also von der Freiheit, abhänge, so sei seine Weissagung nur bedingt zu verstehen, steht und fällt mit dem Ersten: denn etwas Bedingtes unbedingt darstellen, heisst eine irrige Vorstellung verbreiten.
Auch Sieffert hält in ähnlicher Weise die Gründe, durch welche Olshausen die Bestimmungen Jesu über sei- ne Wiederkunft dem Gebiete des Irrthums zu entnehmen sucht, für ungenügend, dennoch aber meint er, dem christ- lichen Bewusstsein sei es unmöglich, Jesu eine getäuschte Erwartung zuzuschreiben 4). In keinem Falle würde diess berechtigen, in der Rede Jesu diejenigen Elemente, wel- che auf den näheren, und welche auf den nach unserer Einsicht entfernteren Erfolg sich beziehen, willkührlich von einander zu scheiden: sondern wenn wir Gründe hätten, einen solchen Irrthum von Seiten Jesu für undenkbar zu halten, so würden wir überhaupt die Reden von der Par- usie ihm absprechen müssen. Indess, vom orthodoxen Standpunkt betrachtet, fragt man nicht zuerst, was einem heutigen christlichen Bewusstsein beliebe, von Christo an-
4) Über den Ursprung u. s. f. S. 119.
Erstes Kapitel. §. 112.
stellen, doch um eines religiösen oder moralischen Zweckes willen dafür ausgiebt, der hat sich eine pia fraus erlaubt. Weiter bemerkt Olshausen, die Ansicht, daſs die Zukunft Christi zunächst bevorstehe, habe ihre Wahrheit darin, daſs wirklich die ganze Weltgeschichte ein Kommen Chri- sti sei, ohne daſs jedoch hiedurch sein abschlieſsendes Kom- men am Ende der Dinge ausgeschlossen wäre. Allein, wenn Jesus als nächstbevorstehend bewiesenermaſsen sein eigentliches, abschliessendes Kommen darstellt, in Wahr- heit aber nur sein uneigentliches, fortwährendes Kommen auch in der nächsten Zeit schon eingetreten ist: so hat er diese beiden Arten seines Kommens verwechselt. Das Lez- te, was Olshausen anführt, weil die Beschleunigung oder Verzögerung der Wiederkunft Christi von dem Benehmen der Menschen, also von der Freiheit, abhänge, so sei seine Weissagung nur bedingt zu verstehen, steht und fällt mit dem Ersten: denn etwas Bedingtes unbedingt darstellen, heiſst eine irrige Vorstellung verbreiten.
Auch Sieffert hält in ähnlicher Weise die Gründe, durch welche Olshausen die Bestimmungen Jesu über sei- ne Wiederkunft dem Gebiete des Irrthums zu entnehmen sucht, für ungenügend, dennoch aber meint er, dem christ- lichen Bewuſstsein sei es unmöglich, Jesu eine getäuschte Erwartung zuzuschreiben 4). In keinem Falle würde dieſs berechtigen, in der Rede Jesu diejenigen Elemente, wel- che auf den näheren, und welche auf den nach unserer Einsicht entfernteren Erfolg sich beziehen, willkührlich von einander zu scheiden: sondern wenn wir Gründe hätten, einen solchen Irrthum von Seiten Jesu für undenkbar zu halten, so würden wir überhaupt die Reden von der Par- usie ihm absprechen müssen. Indeſs, vom orthodoxen Standpunkt betrachtet, fragt man nicht zuerst, was einem heutigen christlichen Bewuſstsein beliebe, von Christo an-
4) Über den Ursprung u. s. f. S. 119.
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Erstes Kapitel. §. 112.
stellen, doch um eines religiösen oder moralischen Zweckes
willen dafür ausgiebt, der hat sich eine pia fraus erlaubt.
Weiter bemerkt Olshausen, die Ansicht, daſs die Zukunft
Christi zunächst bevorstehe, habe ihre Wahrheit darin,
daſs wirklich die ganze Weltgeschichte ein Kommen Chri-
sti sei, ohne daſs jedoch hiedurch sein abschlieſsendes Kom-
men am Ende der Dinge ausgeschlossen wäre. Allein,
wenn Jesus als nächstbevorstehend bewiesenermaſsen sein
eigentliches, abschliessendes Kommen darstellt, in Wahr-
heit aber nur sein uneigentliches, fortwährendes Kommen
auch in der nächsten Zeit schon eingetreten ist: so hat er
diese beiden Arten seines Kommens verwechselt. Das Lez-
te, was Olshausen anführt, weil die Beschleunigung oder
Verzögerung der Wiederkunft Christi von dem Benehmen
der Menschen, also von der Freiheit, abhänge, so sei seine
Weissagung nur bedingt zu verstehen, steht und fällt mit
dem Ersten: denn etwas Bedingtes unbedingt darstellen,
heiſst eine irrige Vorstellung verbreiten.
Auch Sieffert hält in ähnlicher Weise die Gründe,
durch welche Olshausen die Bestimmungen Jesu über sei-
ne Wiederkunft dem Gebiete des Irrthums zu entnehmen
sucht, für ungenügend, dennoch aber meint er, dem christ-
lichen Bewuſstsein sei es unmöglich, Jesu eine getäuschte
Erwartung zuzuschreiben 4). In keinem Falle würde dieſs
berechtigen, in der Rede Jesu diejenigen Elemente, wel-
che auf den näheren, und welche auf den nach unserer
Einsicht entfernteren Erfolg sich beziehen, willkührlich von
einander zu scheiden: sondern wenn wir Gründe hätten,
einen solchen Irrthum von Seiten Jesu für undenkbar zu
halten, so würden wir überhaupt die Reden von der Par-
usie ihm absprechen müssen. Indeſs, vom orthodoxen
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/376>, abgerufen am 22.11.2024.
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