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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Erstes Kapitel. §. 111.
tes parousias autou aph es gar oi pateres ekoimethesan,
panta outo diamenei ap arkhes ktiseos. In neuerer Zeit ist
die nachtheilige Folgerung, welche aus dem bezeichneten
Verhältniss gegen Jesum und die Apostel sich scheinbar
ziehen lässt, von Niemand schneidender ausgesprochen wor-
den, als von dem Wolfenbüttler Fragmentisten. Keine
Verheissung in der ganzen Schrift, meint er, sei auf der
einen Seite bestimmter vorgetragen, auf der andern offen-
barer falsch befunden worden, als diese, welche doch eine
der Grundsäulen des gesammten Christenthums bilde. Und
zwar sieht er darin nicht einen blossen Irrthum, sondern
einen absichtlichen Betrug der Apostel (denen, und nicht
Jesu selbst, er jenes Versprechen und die es enthaltenden
Reden zuschreibt), hervorgegangen aus der Nothwendig-
keit, die Leute, von deren Beiträgen sie ihren Unterhalt
ziehen wollten, durch das Versprechen einer nahen Beloh-
nung anzulocken, und kennbar an der Kahlheit, mit wel-
cher sie den aus dem allzulangen Verzug der Wiederkunft
Christi erwachsenden Zweifeln, wie Paulus im 2ten Thes-
salonicherbrief durch Versteckspielen mit dunkeln Redens-
arten, und gar Petrus in seiner zweiten Epistel durch das
Ungeheure einer Berufung auf die göttliche Zeitrechnung,
in welcher 1000 Jahre = einem Tage seien, zu entgehen
suchen 2).

Der tödtlichen Wunde, welche man durch solche Fol-
gerungen aus dem vor uns liegenden Abschnitt dem Chri-
stenthum beibringen wollte, musste natürlich die Exegese
auf jede Weise auszubeugen suchen. Und zwar näher, in-
dem der ganze Knoten darin besteht, dass Jesus mit etwas
nunmehr längst Vergangenem in unmittelbaren Zeitzusam-
menhang etwas noch immer Zukünftiges zu setzen scheint,
so waren die drei Auswege möglich: entweder zu leugnen,
dass Jesus zum Theil auch von etwas jezt schon Vergan-

2) Vom Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 184. 201 ff. 207 ff.

Erstes Kapitel. §. 111.
τῆς παρουσίας αὐτοῦ ἀφ̕ ἧς γὰρ οἱ πατέρες ἐκοιμήϑησαν,
πάντα οὓτω διαμένει ἀπ̕ ἀρχῆς κτίσεως. In neuerer Zeit ist
die nachtheilige Folgerung, welche aus dem bezeichneten
Verhältniſs gegen Jesum und die Apostel sich scheinbar
ziehen läſst, von Niemand schneidender ausgesprochen wor-
den, als von dem Wolfenbüttler Fragmentisten. Keine
Verheiſsung in der ganzen Schrift, meint er, sei auf der
einen Seite bestimmter vorgetragen, auf der andern offen-
barer falsch befunden worden, als diese, welche doch eine
der Grundsäulen des gesammten Christenthums bilde. Und
zwar sieht er darin nicht einen bloſsen Irrthum, sondern
einen absichtlichen Betrug der Apostel (denen, und nicht
Jesu selbst, er jenes Versprechen und die es enthaltenden
Reden zuschreibt), hervorgegangen aus der Nothwendig-
keit, die Leute, von deren Beiträgen sie ihren Unterhalt
ziehen wollten, durch das Versprechen einer nahen Beloh-
nung anzulocken, und kennbar an der Kahlheit, mit wel-
cher sie den aus dem allzulangen Verzug der Wiederkunft
Christi erwachsenden Zweifeln, wie Paulus im 2ten Thes-
salonicherbrief durch Versteckspielen mit dunkeln Redens-
arten, und gar Petrus in seiner zweiten Epistel durch das
Ungeheure einer Berufung auf die göttliche Zeitrechnung,
in welcher 1000 Jahre = einem Tage seien, zu entgehen
suchen 2).

Der tödtlichen Wunde, welche man durch solche Fol-
gerungen aus dem vor uns liegenden Abschnitt dem Chri-
stenthum beibringen wollte, muſste natürlich die Exegese
auf jede Weise auszubeugen suchen. Und zwar näher, in-
dem der ganze Knoten darin besteht, daſs Jesus mit etwas
nunmehr längst Vergangenem in unmittelbaren Zeitzusam-
menhang etwas noch immer Zukünftiges zu setzen scheint,
so waren die drei Auswege möglich: entweder zu leugnen,
daſs Jesus zum Theil auch von etwas jezt schon Vergan-

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[345/0364] Erstes Kapitel. §. 111. τῆς παρουσίας αὐτοῦ ἀφ̕ ἧς γὰρ οἱ πατέρες ἐκοιμήϑησαν, πάντα οὓτω διαμένει ἀπ̕ ἀρχῆς κτίσεως. In neuerer Zeit ist die nachtheilige Folgerung, welche aus dem bezeichneten Verhältniſs gegen Jesum und die Apostel sich scheinbar ziehen läſst, von Niemand schneidender ausgesprochen wor- den, als von dem Wolfenbüttler Fragmentisten. Keine Verheiſsung in der ganzen Schrift, meint er, sei auf der einen Seite bestimmter vorgetragen, auf der andern offen- barer falsch befunden worden, als diese, welche doch eine der Grundsäulen des gesammten Christenthums bilde. Und zwar sieht er darin nicht einen bloſsen Irrthum, sondern einen absichtlichen Betrug der Apostel (denen, und nicht Jesu selbst, er jenes Versprechen und die es enthaltenden Reden zuschreibt), hervorgegangen aus der Nothwendig- keit, die Leute, von deren Beiträgen sie ihren Unterhalt ziehen wollten, durch das Versprechen einer nahen Beloh- nung anzulocken, und kennbar an der Kahlheit, mit wel- cher sie den aus dem allzulangen Verzug der Wiederkunft Christi erwachsenden Zweifeln, wie Paulus im 2ten Thes- salonicherbrief durch Versteckspielen mit dunkeln Redens- arten, und gar Petrus in seiner zweiten Epistel durch das Ungeheure einer Berufung auf die göttliche Zeitrechnung, in welcher 1000 Jahre = einem Tage seien, zu entgehen suchen 2). Der tödtlichen Wunde, welche man durch solche Fol- gerungen aus dem vor uns liegenden Abschnitt dem Chri- stenthum beibringen wollte, muſste natürlich die Exegese auf jede Weise auszubeugen suchen. Und zwar näher, in- dem der ganze Knoten darin besteht, daſs Jesus mit etwas nunmehr längst Vergangenem in unmittelbaren Zeitzusam- menhang etwas noch immer Zukünftiges zu setzen scheint, so waren die drei Auswege möglich: entweder zu leugnen, daſs Jesus zum Theil auch von etwas jezt schon Vergan- 2) Vom Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 184. 201 ff. 207 ff.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/364>, abgerufen am 23.11.2024.