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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 97.
Leib Jesu von einem Gesetze, welches sonst ausnahmslos
alle menschlichen Leiber in seinen Banden hält, von dem
Gesez der Schwere, so sehr ausgenommen erscheint, dass
er im Wasser nicht nur nicht unter-, sondern selbst nicht
einsinkt, vielmehr über die Wellen wie über festen Boden
sich emporhält. Da müsste man sich den Leib Jesu in ir-
gend einer Art als einen ätherischen Scheinkörper denken,
wie die Doketen thaten, eine Vorstellung, welche, wie
von den Kirchenvätern als eine irreligiöse, so von uns als
eine abenteuerliche zurückgewiesen werden muss. Zwar
sagt Olshausen, an einer höheren Leiblichkeit, geschwän-
gert mit Kräften einer höheren Welt, dürfe eine solche
Erscheinung nicht befremden 8): doch das sind Worte, mit
welchen sich kein bestimmter Gedanke verbindet. Wenn
man die den Leib verklärende und vollendende Thätigkeit
des Geistes Jesu, statt sie als eine solche zu fassen, welche
seinen Leib den psychischen Gesetzen der Lust und Sinn-
lichkeit immer vollständiger entnahm, vielmehr so versteht,
dass derselbe durch sie den physischen Gesetzen der Schwe-
re enthoben worden sei: so ist diess ein Materialismus, von
welchem, wie oben, schwer zu entscheiden ist, ob man ihn
mehr phantastisch nennen soll oder kindisch. Ein Jesus,
der im Wasser nicht einsänke, wäre ein Gespenst, und
die Jünger in unserer Erzählung hätten ihn nicht mit Un-
recht dafür gehalten. Auch daran müssen wir uns erin-
nern, dass bei seiner Taufe im Jordan Jesus diese Eigen-
schaft nicht zeigte, sondern ordentlich wie ein anderer
Mensch untertauchte. Hatte er nun auch damals schon die
Fähigkeit, sich über der Wasserfläche zu halten, und wollte
sie nur nicht gebrauchen? und war es also ein Akt seines
Willens, sich schwer oder leicht zu machen? oder aber,
wie Olshausen vielleicht sagen würde, war er zur Zeit
seiner Taufe im Process der Läuterung seines Körpers noch

8) a. a. O. S. 491.

Neuntes Kapitel. §. 97.
Leib Jesu von einem Gesetze, welches sonst ausnahmslos
alle menschlichen Leiber in seinen Banden hält, von dem
Gesez der Schwere, so sehr ausgenommen erscheint, daſs
er im Wasser nicht nur nicht unter-, sondern selbst nicht
einsinkt, vielmehr über die Wellen wie über festen Boden
sich emporhält. Da müſste man sich den Leib Jesu in ir-
gend einer Art als einen ätherischen Scheinkörper denken,
wie die Doketen thaten, eine Vorstellung, welche, wie
von den Kirchenvätern als eine irreligiöse, so von uns als
eine abenteuerliche zurückgewiesen werden muſs. Zwar
sagt Olshausen, an einer höheren Leiblichkeit, geschwän-
gert mit Kräften einer höheren Welt, dürfe eine solche
Erscheinung nicht befremden 8): doch das sind Worte, mit
welchen sich kein bestimmter Gedanke verbindet. Wenn
man die den Leib verklärende und vollendende Thätigkeit
des Geistes Jesu, statt sie als eine solche zu fassen, welche
seinen Leib den psychischen Gesetzen der Lust und Sinn-
lichkeit immer vollständiger entnahm, vielmehr so versteht,
daſs derselbe durch sie den physischen Gesetzen der Schwe-
re enthoben worden sei: so ist dieſs ein Materialismus, von
welchem, wie oben, schwer zu entscheiden ist, ob man ihn
mehr phantastisch nennen soll oder kindisch. Ein Jesus,
der im Wasser nicht einsänke, wäre ein Gespenst, und
die Jünger in unserer Erzählung hätten ihn nicht mit Un-
recht dafür gehalten. Auch daran müssen wir uns erin-
nern, daſs bei seiner Taufe im Jordan Jesus diese Eigen-
schaft nicht zeigte, sondern ordentlich wie ein anderer
Mensch untertauchte. Hatte er nun auch damals schon die
Fähigkeit, sich über der Wasserfläche zu halten, und wollte
sie nur nicht gebrauchen? und war es also ein Akt seines
Willens, sich schwer oder leicht zu machen? oder aber,
wie Olshausen vielleicht sagen würde, war er zur Zeit
seiner Taufe im Proceſs der Läuterung seines Körpers noch

8) a. a. O. S. 491.
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[181/0200] Neuntes Kapitel. §. 97. Leib Jesu von einem Gesetze, welches sonst ausnahmslos alle menschlichen Leiber in seinen Banden hält, von dem Gesez der Schwere, so sehr ausgenommen erscheint, daſs er im Wasser nicht nur nicht unter-, sondern selbst nicht einsinkt, vielmehr über die Wellen wie über festen Boden sich emporhält. Da müſste man sich den Leib Jesu in ir- gend einer Art als einen ätherischen Scheinkörper denken, wie die Doketen thaten, eine Vorstellung, welche, wie von den Kirchenvätern als eine irreligiöse, so von uns als eine abenteuerliche zurückgewiesen werden muſs. Zwar sagt Olshausen, an einer höheren Leiblichkeit, geschwän- gert mit Kräften einer höheren Welt, dürfe eine solche Erscheinung nicht befremden 8): doch das sind Worte, mit welchen sich kein bestimmter Gedanke verbindet. Wenn man die den Leib verklärende und vollendende Thätigkeit des Geistes Jesu, statt sie als eine solche zu fassen, welche seinen Leib den psychischen Gesetzen der Lust und Sinn- lichkeit immer vollständiger entnahm, vielmehr so versteht, daſs derselbe durch sie den physischen Gesetzen der Schwe- re enthoben worden sei: so ist dieſs ein Materialismus, von welchem, wie oben, schwer zu entscheiden ist, ob man ihn mehr phantastisch nennen soll oder kindisch. Ein Jesus, der im Wasser nicht einsänke, wäre ein Gespenst, und die Jünger in unserer Erzählung hätten ihn nicht mit Un- recht dafür gehalten. Auch daran müssen wir uns erin- nern, daſs bei seiner Taufe im Jordan Jesus diese Eigen- schaft nicht zeigte, sondern ordentlich wie ein anderer Mensch untertauchte. Hatte er nun auch damals schon die Fähigkeit, sich über der Wasserfläche zu halten, und wollte sie nur nicht gebrauchen? und war es also ein Akt seines Willens, sich schwer oder leicht zu machen? oder aber, wie Olshausen vielleicht sagen würde, war er zur Zeit seiner Taufe im Proceſs der Läuterung seines Körpers noch 8) a. a. O. S. 491.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/200>, abgerufen am 27.04.2024.