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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
Evangelium sonst immer diejenigen sind, welche Jesu Worte
und Thaten theils missverstehen, theils missdeuten. Man
beruft sich freilich noch auf den sonst so milden Charak-
ter Jesu, welchem die Härte nicht angemessen sei, mit wel-
cher er hier der Maria und den Übrigen ihr so natürliches
Weinen übelgenommen haben müsste 23): allein dem jo-
hanneischen Christus ist eine solche Denkweise keineswegs
fremd. Derjenige, welcher dem basilikos, der ihm mit der
unverfänglichen Bitte, zur Heilung seines Sohnes in sein
Haus zu kommen, entgegentrat, den Verweis gab: ean me
semeia kai tth;erata idete,oume piseusete (4, 48.); der die
Jünger, welche sich an der harten Rede des 6ten Kapitels
gestossen hatten, so schneidend mit einem touto umas skan-
dalizei; und me kai umeis thelete upagein; anliess (6, 61.
67.); der seine eigene Mutter, als sie bei der Hochzeit zu
Kana ihm den Weinmangel klagte, durch das harte: ti
emoi kai soi, gunai; abwies (2, 4.); der also jedesmal dann
am unwilligsten wurde, wenn Menschen, sein höheres Thun
und Denken nicht begreifend, sich kleinmüthig oder zu-
dringlich zeigten: der war hier ganz besonders zu ähnli-
chem Unwillen veranlasst. Ist bei dieser Erklärung der
Stelle von einem Schmerz Jesu über den Tod des Lazarus
gar nicht die Rede, so fällt auch die Hülfe weg, welche
die natürliche Erklärung des ganzen Hergangs in diesem
Zuge zu finden glaubt; indess auch bei der anderen Deu-
tung lässt sich die augenblickliche Rührung durch das Mit-
gefühl mit den Weinenden gar wohl mit der Voraussicht
der Wiederbelebung vereinigen 24). Und wie hätten sich
auch die Worte der Juden V. 37. nach der Behauptung
natürlicher Erklärer geeignet, die Hoffnung, dass Gott auch
jezt vielleicht etwas Auszeichnendes für ihn thun werde,
in Jesu zuerst anzuregen? Nicht die Hoffnung, dass er

23) Lücke, 2, S. 388.
24) Flatt a. a. O. S. 104 f. Lücke, a. a. O.

Zweiter Abschnitt.
Evangelium sonst immer diejenigen sind, welche Jesu Worte
und Thaten theils miſsverstehen, theils miſsdeuten. Man
beruft sich freilich noch auf den sonst so milden Charak-
ter Jesu, welchem die Härte nicht angemessen sei, mit wel-
cher er hier der Maria und den Übrigen ihr so natürliches
Weinen übelgenommen haben müſste 23): allein dem jo-
hanneischen Christus ist eine solche Denkweise keineswegs
fremd. Derjenige, welcher dem βασιλικὸς, der ihm mit der
unverfänglichen Bitte, zur Heilung seines Sohnes in sein
Haus zu kommen, entgegentrat, den Verweis gab: ἐὰν μὴ
σημεῖα καὶ τϑ;έρατα ἴδητε,ουμὴ πιςεύσητε (4, 48.); der die
Jünger, welche sich an der harten Rede des 6ten Kapitels
gestossen hatten, so schneidend mit einem τοῦτο ὑμᾶς σκαν-
δαλίζει; und μὴ καὶ ὑμεῖς ϑέλετε ὑπάγειν; anlieſs (6, 61.
67.); der seine eigene Mutter, als sie bei der Hochzeit zu
Kana ihm den Weinmangel klagte, durch das harte: τί
ἐμοὶ καὶ σοὶ, γύναι; abwies (2, 4.); der also jedesmal dann
am unwilligsten wurde, wenn Menschen, sein höheres Thun
und Denken nicht begreifend, sich kleinmüthig oder zu-
dringlich zeigten: der war hier ganz besonders zu ähnli-
chem Unwillen veranlaſst. Ist bei dieser Erklärung der
Stelle von einem Schmerz Jesu über den Tod des Lazarus
gar nicht die Rede, so fällt auch die Hülfe weg, welche
die natürliche Erklärung des ganzen Hergangs in diesem
Zuge zu finden glaubt; indeſs auch bei der anderen Deu-
tung läſst sich die augenblickliche Rührung durch das Mit-
gefühl mit den Weinenden gar wohl mit der Voraussicht
der Wiederbelebung vereinigen 24). Und wie hätten sich
auch die Worte der Juden V. 37. nach der Behauptung
natürlicher Erklärer geeignet, die Hoffnung, daſs Gott auch
jezt vielleicht etwas Auszeichnendes für ihn thun werde,
in Jesu zuerst anzuregen? Nicht die Hoffnung, daſs er

23) Lücke, 2, S. 388.
24) Flatt a. a. O. S. 104 f. Lücke, a. a. O.
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[148/0167] Zweiter Abschnitt. Evangelium sonst immer diejenigen sind, welche Jesu Worte und Thaten theils miſsverstehen, theils miſsdeuten. Man beruft sich freilich noch auf den sonst so milden Charak- ter Jesu, welchem die Härte nicht angemessen sei, mit wel- cher er hier der Maria und den Übrigen ihr so natürliches Weinen übelgenommen haben müſste 23): allein dem jo- hanneischen Christus ist eine solche Denkweise keineswegs fremd. Derjenige, welcher dem βασιλικὸς, der ihm mit der unverfänglichen Bitte, zur Heilung seines Sohnes in sein Haus zu kommen, entgegentrat, den Verweis gab: ἐὰν μὴ σημεῖα καὶ τϑ;έρατα ἴδητε,ουμὴ πιςεύσητε (4, 48.); der die Jünger, welche sich an der harten Rede des 6ten Kapitels gestossen hatten, so schneidend mit einem τοῦτο ὑμᾶς σκαν- δαλίζει; und μὴ καὶ ὑμεῖς ϑέλετε ὑπάγειν; anlieſs (6, 61. 67.); der seine eigene Mutter, als sie bei der Hochzeit zu Kana ihm den Weinmangel klagte, durch das harte: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ, γύναι; abwies (2, 4.); der also jedesmal dann am unwilligsten wurde, wenn Menschen, sein höheres Thun und Denken nicht begreifend, sich kleinmüthig oder zu- dringlich zeigten: der war hier ganz besonders zu ähnli- chem Unwillen veranlaſst. Ist bei dieser Erklärung der Stelle von einem Schmerz Jesu über den Tod des Lazarus gar nicht die Rede, so fällt auch die Hülfe weg, welche die natürliche Erklärung des ganzen Hergangs in diesem Zuge zu finden glaubt; indeſs auch bei der anderen Deu- tung läſst sich die augenblickliche Rührung durch das Mit- gefühl mit den Weinenden gar wohl mit der Voraussicht der Wiederbelebung vereinigen 24). Und wie hätten sich auch die Worte der Juden V. 37. nach der Behauptung natürlicher Erklärer geeignet, die Hoffnung, daſs Gott auch jezt vielleicht etwas Auszeichnendes für ihn thun werde, in Jesu zuerst anzuregen? Nicht die Hoffnung, daſs er 23) Lücke, 2, S. 388. 24) Flatt a. a. O. S. 104 f. Lücke, a. a. O.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/167>, abgerufen am 27.04.2024.