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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Einleitung. §. 12.
sie die auch von Usteri mythisch gefasste Versuchungsge-
schichte; einmal aber durch jene Pforte eingedrungen,
weiss ich nicht, ob der Mythusbegriff nicht auch noch an-
dere Erzählungen aus der Periode des öffentlichen Lebens
Jesu sich vindiciren wird, wie das Wandeln auf dem Meer,
den Stater im Fischmaul u. dgl. Ebenso, wenn man am
Ende der Geschichte Jesu zwar die Himmelfahrt mit ihren
Engeln der mythischen Auffassung preissgeben will: so
findet sich doch auch in der Engelerscheinung am Grabe
des Auferstandenen etwas Analoges, und noch weiter zu-
rück in dem Engel in Gethsemane etwas, das deutlich nach
Legende schmeckt, endlich selbst die am Anfang der Lei-
densverkündigung stehende Verklärungsgeschichte will sich
so wenig als die Himmelfahrt einer historischen Auffassung
bequemen: so dass, jener willkührlichen Grenzmarken spot-
tend, das Mythische auf allen Punkten der Lebensgeschich-
te Jesu zum Vorschein kommt.

Wer gegen diesen Augenschein dennoch darauf beste-
hen wollte, dass die historische Zeit, in welche das öffent-
liche Leben Jesu fällt, die Bildung von Mythen über
dasselbe undenkbar mache, dem ist zu erwiedern, dass um
ein grosses Individuum, zumal wenn an dasselbe eine in
das Leben der Menschen tief eingreifende Umwälzung ge-
knüpft ist, sich frühzeitig, selbst in der trockensten histo-
rischen Zeit, ein unhistorischer Kreis sagenhafter Verherr-
lichung bildet. Man denke sich eine junge Gemeinde, wel-
che ihren Stifter um so begeisterter verehrt, je unerwar-
teter und tragischer er aus seiner Laufbahn herausgerissen
worden ist; eine Gemeinde, geschwängert mit einer Masse
neuer Ideen, die eine Welt umschaffen sollten; eine Ge-
meinde von Orientalen, von grösstentheils ungelehrten Men-
schen, welche also jene Ideen nicht in der abstrakten Form
des Verstandes und Begriffs, sondern einzig in der con-
ereten Weise der Phantasie, als Bilder und Geschichten

Einleitung. §. 12.
sie die auch von Usteri mythisch gefaſste Versuchungsge-
schichte; einmal aber durch jene Pforte eingedrungen,
weiſs ich nicht, ob der Mythusbegriff nicht auch noch an-
dere Erzählungen aus der Periode des öffentlichen Lebens
Jesu sich vindiciren wird, wie das Wandeln auf dem Meer,
den Stater im Fischmaul u. dgl. Ebenso, wenn man am
Ende der Geschichte Jesu zwar die Himmelfahrt mit ihren
Engeln der mythischen Auffassung preiſsgeben will: so
findet sich doch auch in der Engelerscheinung am Grabe
des Auferstandenen etwas Analoges, und noch weiter zu-
rück in dem Engel in Gethsemane etwas, das deutlich nach
Legende schmeckt, endlich selbst die am Anfang der Lei-
densverkündigung stehende Verklärungsgeschichte will sich
so wenig als die Himmelfahrt einer historischen Auffassung
bequemen: so daſs, jener willkührlichen Grenzmarken spot-
tend, das Mythische auf allen Punkten der Lebensgeschich-
te Jesu zum Vorschein kommt.

Wer gegen diesen Augenschein dennoch darauf beste-
hen wollte, daſs die historische Zeit, in welche das öffent-
liche Leben Jesu fällt, die Bildung von Mythen über
dasselbe undenkbar mache, dem ist zu erwiedern, daſs um
ein groſses Individuum, zumal wenn an dasselbe eine in
das Leben der Menschen tief eingreifende Umwälzung ge-
knüpft ist, sich frühzeitig, selbst in der trockensten histo-
rischen Zeit, ein unhistorischer Kreis sagenhafter Verherr-
lichung bildet. Man denke sich eine junge Gemeinde, wel-
che ihren Stifter um so begeisterter verehrt, je unerwar-
teter und tragischer er aus seiner Laufbahn herausgerissen
worden ist; eine Gemeinde, geschwängert mit einer Masse
neuer Ideen, die eine Welt umschaffen sollten; eine Ge-
meinde von Orientalen, von gröſstentheils ungelehrten Men-
schen, welche also jene Ideen nicht in der abstrakten Form
des Verstandes und Begriffs, sondern einzig in der con-
ereten Weise der Phantasie, als Bilder und Geschichten

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[71/0095] Einleitung. §. 12. sie die auch von Usteri mythisch gefaſste Versuchungsge- schichte; einmal aber durch jene Pforte eingedrungen, weiſs ich nicht, ob der Mythusbegriff nicht auch noch an- dere Erzählungen aus der Periode des öffentlichen Lebens Jesu sich vindiciren wird, wie das Wandeln auf dem Meer, den Stater im Fischmaul u. dgl. Ebenso, wenn man am Ende der Geschichte Jesu zwar die Himmelfahrt mit ihren Engeln der mythischen Auffassung preiſsgeben will: so findet sich doch auch in der Engelerscheinung am Grabe des Auferstandenen etwas Analoges, und noch weiter zu- rück in dem Engel in Gethsemane etwas, das deutlich nach Legende schmeckt, endlich selbst die am Anfang der Lei- densverkündigung stehende Verklärungsgeschichte will sich so wenig als die Himmelfahrt einer historischen Auffassung bequemen: so daſs, jener willkührlichen Grenzmarken spot- tend, das Mythische auf allen Punkten der Lebensgeschich- te Jesu zum Vorschein kommt. Wer gegen diesen Augenschein dennoch darauf beste- hen wollte, daſs die historische Zeit, in welche das öffent- liche Leben Jesu fällt, die Bildung von Mythen über dasselbe undenkbar mache, dem ist zu erwiedern, daſs um ein groſses Individuum, zumal wenn an dasselbe eine in das Leben der Menschen tief eingreifende Umwälzung ge- knüpft ist, sich frühzeitig, selbst in der trockensten histo- rischen Zeit, ein unhistorischer Kreis sagenhafter Verherr- lichung bildet. Man denke sich eine junge Gemeinde, wel- che ihren Stifter um so begeisterter verehrt, je unerwar- teter und tragischer er aus seiner Laufbahn herausgerissen worden ist; eine Gemeinde, geschwängert mit einer Masse neuer Ideen, die eine Welt umschaffen sollten; eine Ge- meinde von Orientalen, von gröſstentheils ungelehrten Men- schen, welche also jene Ideen nicht in der abstrakten Form des Verstandes und Begriffs, sondern einzig in der con- ereten Weise der Phantasie, als Bilder und Geschichten

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/95>, abgerufen am 28.04.2024.