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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Einleitung. §. 12.
dem genannten Theologen die mythische Auffassungsweise
nur als eine Geistesträgheit, welche mit der evangelischen
Geschichte auf dem leichtesten Wege fertig zu werden
wünsche, desshalb alles Wundersame und Schwerverständ-
liche durch das dunkle Wort: Mythus auf die Seite schie-
be, und um sich der Mühe der Sonderung des Wunder-
baren vom Natürlichen, des Faktums vom Urtheil zu über-
heben, die ganze Erzählung in die camera obscura alter
heiliger Sage zurückstelle 6).

Mit noch stärkerer Missbilligung hatte sich Greiling
gegen Krug's Empfehlung der genetischen d. h. mythischen
Wundererklärung ausgesprochen, aber es war ihm begeg-
net, fast mit jedem Streich, den er auf diese führen woll-
te, vielmehr seine eigene, natürliche Auslegungsweise zu
treffen. Unter allen Versuchen, meinte er, dunkle Stellen
des N. T.s aufzuklären, könne schwerlich einer der ächt-
historischen Auslegung, der Ausmittelung der eigentlichen
Thatsachen und ihrer verständigen Absicht nachtheiliger
sein (d. h. dem Fürwiz natürlicher Erklärer mehr Abbruch
thun), als der Versuch, mit Hülfe einer dichtenden Phan-
tasie (so verhält sich die des natürlichen Erklärers, wenn
er Nebenumstände einschiebt, von welchen im Text keine
Spur ist; der mythische Erklärer verhält sich nicht dich-
tend, sondern nur Dichtung erkennend und aufdeckend)
der Geschichtserzählung aufzuhelfen. Eine solche unnö-
thige, willkührliche Dichtung der Phantasie ist nach Grei-
ling
die genetische oder formelle Erklärungsart der Wun-
der (sezt man noch einen grübelnden Verstand dazu, so
ist genau die natürliche Erklärung geschildert). Viele
Thatsachen, die sich als solche wohl noch retten lassen,
heisst es weiter, werden dadurch entweder in das Fabel-
land gespielt, oder an deren Stelle selbsterfundene Dich-
tungen gesezt (mit Unterschiebung solcher Dichtungen giebt

6) a. a. O. S. 4.

Einleitung. §. 12.
dem genannten Theologen die mythische Auffassungsweise
nur als eine Geistesträgheit, welche mit der evangelischen
Geschichte auf dem leichtesten Wege fertig zu werden
wünsche, deſshalb alles Wundersame und Schwerverständ-
liche durch das dunkle Wort: Mythus auf die Seite schie-
be, und um sich der Mühe der Sonderung des Wunder-
baren vom Natürlichen, des Faktums vom Urtheil zu über-
heben, die ganze Erzählung in die camera obscura alter
heiliger Sage zurückstelle 6).

Mit noch stärkerer Miſsbilligung hatte sich Greiling
gegen Krug's Empfehlung der genetischen d. h. mythischen
Wundererklärung ausgesprochen, aber es war ihm begeg-
net, fast mit jedem Streich, den er auf diese führen woll-
te, vielmehr seine eigene, natürliche Auslegungsweise zu
treffen. Unter allen Versuchen, meinte er, dunkle Stellen
des N. T.s aufzuklären, könne schwerlich einer der ächt-
historischen Auslegung, der Ausmittelung der eigentlichen
Thatsachen und ihrer verständigen Absicht nachtheiliger
sein (d. h. dem Fürwiz natürlicher Erklärer mehr Abbruch
thun), als der Versuch, mit Hülfe einer dichtenden Phan-
tasie (so verhält sich die des natürlichen Erklärers, wenn
er Nebenumstände einschiebt, von welchen im Text keine
Spur ist; der mythische Erklärer verhält sich nicht dich-
tend, sondern nur Dichtung erkennend und aufdeckend)
der Geschichtserzählung aufzuhelfen. Eine solche unnö-
thige, willkührliche Dichtung der Phantasie ist nach Grei-
ling
die genetische oder formelle Erklärungsart der Wun-
der (sezt man noch einen grübelnden Verstand dazu, so
ist genau die natürliche Erklärung geschildert). Viele
Thatsachen, die sich als solche wohl noch retten lassen,
heiſst es weiter, werden dadurch entweder in das Fabel-
land gespielt, oder an deren Stelle selbsterfundene Dich-
tungen gesezt (mit Unterschiebung solcher Dichtungen giebt

6) a. a. O. S. 4.
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[55/0079] Einleitung. §. 12. dem genannten Theologen die mythische Auffassungsweise nur als eine Geistesträgheit, welche mit der evangelischen Geschichte auf dem leichtesten Wege fertig zu werden wünsche, deſshalb alles Wundersame und Schwerverständ- liche durch das dunkle Wort: Mythus auf die Seite schie- be, und um sich der Mühe der Sonderung des Wunder- baren vom Natürlichen, des Faktums vom Urtheil zu über- heben, die ganze Erzählung in die camera obscura alter heiliger Sage zurückstelle 6). Mit noch stärkerer Miſsbilligung hatte sich Greiling gegen Krug's Empfehlung der genetischen d. h. mythischen Wundererklärung ausgesprochen, aber es war ihm begeg- net, fast mit jedem Streich, den er auf diese führen woll- te, vielmehr seine eigene, natürliche Auslegungsweise zu treffen. Unter allen Versuchen, meinte er, dunkle Stellen des N. T.s aufzuklären, könne schwerlich einer der ächt- historischen Auslegung, der Ausmittelung der eigentlichen Thatsachen und ihrer verständigen Absicht nachtheiliger sein (d. h. dem Fürwiz natürlicher Erklärer mehr Abbruch thun), als der Versuch, mit Hülfe einer dichtenden Phan- tasie (so verhält sich die des natürlichen Erklärers, wenn er Nebenumstände einschiebt, von welchen im Text keine Spur ist; der mythische Erklärer verhält sich nicht dich- tend, sondern nur Dichtung erkennend und aufdeckend) der Geschichtserzählung aufzuhelfen. Eine solche unnö- thige, willkührliche Dichtung der Phantasie ist nach Grei- ling die genetische oder formelle Erklärungsart der Wun- der (sezt man noch einen grübelnden Verstand dazu, so ist genau die natürliche Erklärung geschildert). Viele Thatsachen, die sich als solche wohl noch retten lassen, heiſst es weiter, werden dadurch entweder in das Fabel- land gespielt, oder an deren Stelle selbsterfundene Dich- tungen gesezt (mit Unterschiebung solcher Dichtungen giebt 6) a. a. O. S. 4.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/79>, abgerufen am 28.04.2024.